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|20|Dichterzwillinge aus dem Hause Mann
ОглавлениеEin größerer Unterschied zu dem von Thomas Blubacher sorgsam recherchierten Material zur Familie Gründgens lässt sich kaum denken. Wer sich auf die Spur der Manns begibt, steht Bibliotheken und Archiven gegenüber.
Klaus, der im Ersten Weltkrieg geborene Sohn von Katharina und Thomas Mann, wird vom Mythos einer Familie zehren, der von seinem Vater in den Buddenbrooks (1901) verklärt und vergoldet worden war. Tatsächlich hatte sich die Familie bereits 1891, nach dem Tod des Senators Johann Heinrich Mann, aufgelöst. Seine Witwe Julia zog nach München, ihr Sohn Thomas volontierte bei einer Feuerversicherung, um bald eigene Wege zu gehen. Volljährig geworden, lebte er von einer auskömmlichen Rente und genoss seine Freiheit. Schon in jungen Jahren fühlte er sich seinen robusten Altersgenossen seelisch entfremdet, befangen in der Rolle des Sonderlings, der anderen beim Leben zusieht und – was ihm fehlt – mit Ironie bedeckt. Die wenigen Jünglinge, denen seine Leidenschaft bisher gegolten hatte, ließen ihn als unglücklich Liebenden zurück. Hätte er sich zu seinen Neigungen bekannt, wäre er von jener Gesellschaftsschicht abgelehnt worden, an deren Respekt ihm gelegen war. Ihre Doppelmoral kam ihm sogar entgegen, solange – wie bei Bruder Heinrich oder dem künftigen Schwager Klaus Pringsheim – Ausflüge in die Sphäre der Dienstmädchen und Bordelle, auch gleichgeschlechtliche Neigungen, mit dem Mantel des Schweigens oder amüsierter Toleranz bedeckt wurden. Im dreißigsten Jahr ging er den für Männer seiner Art oft gewählten Weg und begab sich auf die Suche nach einer Gefährtin.
|21|Seine Wahl fiel auf Katharina, die einzige Tochter von Hedwig und Alfred Pringsheim. Ihre Mutter, eine ehemalige Schauspielerin, und ihr Vater, Mathematikprofessor und Multimillionär, führten in München einen elitären Salon für Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler, Intellektuelle und Aristokraten.
Thomas Mann geht strategisch vor. Er gewinnt die Schriftstellerin und Salonnière Elsa Bernstein dafür, ihn bei den Pringsheims einzuführen. Als er zum ersten Mal dort empfangen wird, ist er wie geblendet. Hier fällt in eins, was aus seiner Sicht zusammen gehört: Schönheit, Geld und Geist. Auf einem Ball im Palais der Arcisstraße trifft sich, was Rang und Namen hat. „Pringsheims sind ein Erlebnis, das mich ausfüllt. Tiergarten mit echter Kultur“, die Tochter des Hauses ist „ein Wunder, etwas unbeschreiblich Seltenes und Kostbares, ein Geschöpf, das durch sein bloßes Dasein die kulturelle Thätigkeit von 15 Schriftstellern oder 30 Malern aufwiegt“, heißt es in einem Brief an Bruder Heinrich.
„Dies spricht der Rausch“ – worauf bezogen? Auf Katharina oder die Tatsache, zum ersten Mal in illustrer Gesellschaft zu sein? Bisher hat er die 21-jährige Studentin „nur gesehen, oft, lange und unersättlich gesehen“ – durch sein Opernglas, eine Methode, die er beim Beobachten von Menschen beibehalten wird. Endlich sieht er die Chance, mit Hilfe der Pringsheims seine Rolle als Zuschauer des Lebens für eine attraktivere aufzugeben, denn im Grunde habe er „ein gewisses fürstliches Talent zum Repräsentieren …“. Noch fehlt dafür der passende Rahmen.
Die Tochter der Pringsheims hatte auf Anraten ihrer Großmutter, der Feministin Hedwig Dohm, Abitur machen dürfen – damals etwas Besonderes. Bei der Studienwahl hatte Katharina sich nach väterlichem Vorbild für Mathematik und Physik entschieden, hörte außerdem Vorlesungen in Kunstgeschichte, Philosophie und Archäologie. Bald beschlich sie das Gefühl, es weder in dem einen noch im anderen Fach weit bringen zu können.
|22|Währenddessen fieberte Thomas weiteren Bällen entgegen. Unter Katharinas Bewerbern war er einer von vielen. Zu den gefährlichsten Rivalen gehörte der Kritiker Alfred Kerr; er wird sich noch Jahre später, in einer 1926 veröffentlichten Parodie auf „Thomas Bodenbruch“ Luft verschaffen:
„Als Knabe war ich schon verknöchert;
Ob knapper Gaben knurr-ergrimmt.
Hab dann die Littratur gelöchert
Mit Bürger- und Patrizierzimt.
Sprach immer stolz mit Breite
Von meiner Väter Pleite …
Ich kenne keine Blitze,
Kein Feuer, das erhitzt.
Ich schreibe mit dem Sitze,
Auf dem man sitzt.“
Es wird nie mehr richtig gut zwischen den beiden. Mit Katharinas Vater verbindet Thomas Mann die Liebe zu Richard Wagner, der Mutter gegenüber bringt er sich als literarische Hoffnung ins Spiel, bei der Tochter gibt er sich (brieflich) als Draufgänger, der sein Verlangen kaum zu bezähmen vermag.
Wie nimmt die Umworbene ihn wahr? Er bombardiert Katharina geradezu mit („für seine Verhältnisse“) leidenschaftlichen Briefen. Darin hebt er ihre Einzigartigkeit hervor; er sieht sie als „Prinzessin“ und bringt sich als „eine Art Prinz“ ins Spiel, während ihre Brüder ihn als „leberleidenden Rittmeister“ bespötteln. Die mühsam eingefädelte Begegnung wird zum Akt der Vorsehung erhoben: „… ich habe, ganz gewiß, in Ihnen meine vorbestimmte Braut und Gefährtin gefunden.“
Prosaische Überlegungen kommen trotzdem nicht zu kurz: Die verwöhnte Katharina soll wissen, dass er ihr „nach Herkunft und persönlichem Werth“ ebenbürtig ist, „daß Sie schlechterdings nicht hinabsteigen, schlechterdings keinen Gnadenakt vollziehen werden, |23|wenn Sie eines Tages vor aller Welt die Hand ergreifen werden, die ich Ihnen so bittend entgegenstrecke“.
Durch seine wortgewandte Zähigkeit sticht Thomas Mann gegen die sonstigen Bewerber ab. Das Wohlwollen von Hedwig Pringsheim und Katharinas Zwillingsbruder Klaus hat er sich bald gesichert. Nur Katharina versteht nicht, warum sie als Jüngste der Familie „nun schon so schnell weg“ soll. Aus damaliger Sicht kann ihr Zögern nur medizinische Gründe haben. Ein zu Hilfe gerufener Nervenarzt sieht in ihrer „Entschließungsangst etwas notorisch Krankhaftes“ und die Verlobung gefährdet, falls Thomas Mann „nicht viel diplomatischer und zurückhaltender zu Werke“ gehe. Am Ende gibt sein Beharrungsvermögen den Ausschlag.
Im hochtönenden Crescendo „Seien Sie meine Bejahung, meine Rechtfertigung, meine Vollendung, meine Erlöserin, meine – Frau!“ scheinen Erwartungen eines selbstsicheren Mannes auf, denen keine Göttin gewachsen wäre. Dabei freut er sich klammheimlich darauf, an Katharinas Seite ein separates Leben führen zu können. Nur so, rechtfertigt er sich, blieben ihr „Qualen“ erspart, denen sie nicht gewachsen wäre, falls bekannt würde, wem sein Begehren tatsächlich gilt: sehr jungen Männern. Ohne Abstand, „ohne diese Kluft würde ich sie wohl weniger lieben. Ich liebe nicht, was mir gleich ist oder was mich auch nur versteht“, schreibt er in sein Notizbuch.
Hinter den großen Worten verbirgt sich mehr Verzagtheit als zu erwarten wäre, je näher er seinem Ziel kommt. Julia Mann und ihren Sohn Thomas beschleichen Unterlegenheitsgefühle gegenüber Katharinas Familie. Darüber hilft das verblasste Renommee des Lübecker Senators kaum hinweg; nicht umsonst lautet der Untertitel der Buddenbrooks: Verfall einer Familie. Thomas Mann stammt aus der Provinz, einer norddeutschen Stadt mit überschaubarem Bürgertum, dessen Weltläufigkeit sich auf Handelsbeziehungen beschränkte. Dem Glanz der Pringsheims in Bayerns Hauptstadt haben die Lübecker Geschwister wenig entgegenzusetzen. Das Herumreiten |24|auf der halb-brasilianischen Herkunft der als Kind nach Deutschland gekommenen Mutter Julia taugt lediglich für ein exotisches Flair. „Das viele Geld macht doch kalt und anspruchsvoll, macht harte Köpfe u. verlangt Rücksichten von anderen, wo sie ihm selber mangelt“, schreibt sie mit Blick auf die Pringsheims ein halbes Jahr vor der Heirat an Sohn Heinrich, während Thomas freimütig bekennt: „Ich fürchte mich nicht vor dem Reichtum.“ Warum auch? Dieselbe Furchtlosigkeit werden auch seine Kinder an den Tag legen. Bildung, Liberalität, Reichtum hatten in der Familie Pringsheim Tradition. Die jüdische Abkunft wurde gleichsam als non-dit behandelt oder abgewehrt. Katharinas Tochter Elisabeth berichtet, ihre evangelisch getaufte Mutter sei „,immer vollkommen rasend‘ geworden, wenn sie auf ihr Jüdischsein angesprochen wurde: ‚Unsinn! Alles Unsinn!‘“
Als Erklärung, warum Katharina ihr Ja-Wort gab, wird ihr Kinderwunsch ins Feld geführt. Das ist fraglich. Als in ihrem Elternhaus die Rede auf außerehelich geborene Kinder oder die Affairen Alfred Pringsheims kam, hatte die damals Neunjährige eine Verbindung zum Geschichtsunterricht hergestellt: „… jetzt weiß ich auch, warum im Altertum die Frauen eine so niederträchtige Stellung hatten: weil sie die Kinder machen.“ Wünschte Katharina sich Kinder? Oder nur Söhne? Ihre Verärgerung nach der Geburt von Töchtern gab sie später selbst zu. Die feministische Großmutter scheint sich an keiner Stelle ausgewirkt zu haben.
Hedwig Dohm ist nicht gerade begeistert, dass nach ihrer Tochter jetzt auch die Enkelin aufsteckt. Jedenfalls versandet Katharinas Studium ebenso wie die theatralischen Anfänge ihrer Mutter vor der Heirat mit Pringsheim: In Meiningen hatte man die Anfängerin verabschiedet, weil „doch nichts Rechtes mit ihr anzufangen“ sei. Dass Schluss sein würde mit der Universität, zeichnet sich für den Bräutigam, der es nach doppeltem Sitzenbleiben mit neunzehn Jahren bis zur Obersekunda geschafft hat, schon in den Brautbriefen von 1904 ab; doch als er drei Jahre später, bei einem Ferienaufenthalt |25|bemerkt, dass es Katharina an geistiger Beschäftigung fehlt, will er sie zu Collegien anhalten.
Am 11. Februar 1905, dem Tag der Hochzeit, hat er sein Ziel erreicht. Mit den Schwestern Julia Löhr, die mit einem Bankier verheiratet ist, und der Schauspielerin Carla Mann ist wenig Staat zu machen; Carla und Heinrich bleiben der Hochzeit fern. Man feiert in kleinem Kreis. Thomas ist schon Monate vorher am Ende seiner Kraft und leidet unter der Pflicht, „sich menschlich stramm zu halten … oft läuft das ganze ‚Glück‘ auf ein Zähne zusammenbeißen hinaus. Die letzte Hälfte der Werbezeit – nichts als eine große seelische Strapaze …“. Es fehlt an Parkettsicherheit, und der Anpassungsdruck erschöpft ihn.
Danach bricht das Paar zur Hochzeitsreise nach Zürich auf. Bald treffen „sehnsüchtige und wehmutsvolle Briefe“ der Braut ein, aus denen hervorgeht, dass sie die Tage „mutterseelenallein“ mit einem – so Hedwig Pringsheim – „fremden Mann“ im Hotelzimmer des luxuriösen Baur au Lac zubringe. Katharina sucht in diesen Tagen einen Gynäkologen auf. Im damaligen Notizbuch des Bräutigams sind Adressen von drei Züricher Ärzten vermerkt – einem Hypnotiseur, einem international anerkannten Nervenspezialisten und einem Psychiater –, wer von beiden hat dort Rat gesucht?
Der Ehemann sehnt sich nach seinem Schreibtisch, die Ehefrau nach ihren Eltern; nach erstaunlich kurzer Zeit kehren beide nach München zurück. Die Beobachtung der fünfjährigen Katharina, Männer seien vor der Heirat „brav“, danach „bös“, wird sich nicht bestätigen. Von Eskapaden à la Alfred Pringsheim bleibt sie künftig verschont. Aus Katharina wird Katia. Das gemeinsame Leben beginnt.
Unterstützung wird dem Paar in reichem Maße zuteil. Nach ihrer Rückkehr steht eine von Vater Pringsheim ausgerüstete Siebenzimmerwohnung mit Köchin und Dienstmädchen bereit – der einzigen Tochter soll es an nichts fehlen. Dafür sorgt ein monatlicher Zuschuss. (Über die Mitgift verliert der junge Ehemann kein Wort; |26|sie dürfte noch üppiger ausgefallen sein, als in seiner Herkunftsfamilie üblich, denn seiner Tochter Monika wird er Jahre später 100.000 Reichsmark versprechen, „eine Summe, wie sie in meiner Familie seit Generationen üblich ist“.) Der junge Ehemann steuert drei Sessel aus seiner Junggesellenwohnung bei, weshalb Julia Mann sich fünf Tage nach der Hochzeit fragt, wie man „Herr im Hause“ sein könne, „wenn das wenigste einem durch eigenen Kauf gehört?“.
Rasch aufeinander folgende Geburten führen die junge Mutter anfangs bis an den Rand der Erschöpfung – mit Sanatoriums- oder Kuraufenthalten als Folge. Das bedeutet für ihren Mann Auszeiten von dem nach ihrer Rückkehr zu erwartenden, beiderseits als lustlos empfundenen „rencontre“ – Katia Mann eine Betrogene, die hinnahm, was sich nicht ändern ließ?
Wahrscheinlich trug ihre kindliche Erfahrung, dass Liebschaften des alten Pringsheim von ihrer Mutter nicht als Katastrophe, sondern mit Humor betrachtet, vermutlich sogar als entlastend empfunden wurden, zu einem gewissen Pragmatismus bei. Romantische Illusionen blieben aus. Ob die Ehe für ihren Mann der richtige Weg war, um „die Hunde im Souterrain … an die Kette zu bringen“, darf bezweifelt werden. Wenn es eine gemeinsame Zukunft geben sollte, musste vieles unausgesprochen bleiben. Noch lag die Wandlung von der „Prinzessin“ zur kraftvoll-derben, bisweilen fast maskulin wirkenden Managerin des Mann’schen Haushaltes, von deren nüchterner Intelligenz, Wachsamkeit und nie versagender Loyalität die gesamte Familie profitieren sollte, in weiter Ferne.
Und Klaus Mann? Der erste Sohn der Familie wird zwar im Ersten Weltkrieg geboren, wächst aber in materiell gesicherten Verhältnissen auf, die von elterlichen Konflikten nicht mehr, aber auch nicht weniger erschüttert wurden als in anderen Familien – gelegentliche Zornausbrüche des Vaters oder Strafen gehören dazu. Zwar ist Thomas Mann bemüht, dem familiären Normalfall ein geheimes Leben abzutrotzen, da er sich aber eine „Verfassung“ gegeben |27|hat, wird er weder seine Frau noch seine Kinder durch Eskapaden irritieren, wie sie von Katias Vater ausgelebt werden. Er legt Wert auf ideale Arbeitsbedingungen, um sich literarisch und gesellschaftlich zu etablieren.
Auch wenn seine Schwiegermutter ihn 1907 noch als „rechten Pimperling“ bezeichnet – sobald es ums Renommee geht, tritt er entschlossen auf. Bald zeigen sich erste Nachteile der verwandtschaftlichen Prominenz: Mit Rücksicht auf Alfred Pringsheim, der sich selbst und die Zwillinge Katharina und Klaus verunglimpft sieht, zieht Thomas die Novelle Wälsungenblut zurück. Katia erwartet das nächste Kind – er sucht zu verbergen, „wie schlecht und erschöpft |28|und abgenutzt und total fertig“ er sich fühlt. „Ohne Frau und Kind und Anhang wäre mir wohler und wurstiger“, gesteht er seinem Bruder. Die Einsicht, er hätte sich nicht „menschlich attachieren und binden dürfen“, kommt zu spät.
Katia Mann mit Klaus und Erika, um 1907
Ein halbes Jahr später, nach der Geburt von Klaus am 18. November 1906, dürfte es in ihm kaum anders ausgesehen haben: Er führt ein Leben gegen den Strich. Auch Katia dürfte sich nicht ohne Reibungsverluste auf die Rituale eines Schriftstellerhaushaltes, ihre Pflichten als Mutter und Zuarbeiterin eingestellt haben, denn zum Leidwesen ihres Mannes schafft sie sich mit maliziösen Wendungen, Ironie und „Scherzen“ Luft.
Klaus, ein frühreifes, begabtes Kind, wird sich eng an seine ein Jahr ältere Schwester halten und mit ihr den Kern einer kindlichen Bande bilden, die vor Diebstählen und nächtlichen Eskapaden nicht zurückschreckt – mit Erika beginnt die wichtigste Symbiose seines Lebens.
Für Gründgens ist es die Mutter, die sich auf ihre Musik, für Klaus der Vater, der sich in sein Arbeitszimmer zurückzieht; während ihrer geistigen oder physischen Abwesenheit scheinen beide in den Augen ihrer Sprösslinge einer geheimnisvollen Welt anzugehören. Im Hause Gründgens wie bei den Manns gibt es kindliche Theaterspiele, Besuche kultureller Veranstaltungen; für die Mann-Kinder kommt der Rückhalt einer Großfamilie mit ihrem Kaleidoskop faszinierender Persönlichkeiten hinzu. Anders als die vom Mangel der Kriegsjahre stärker betroffene Familie Gründgens, erleben die Manns diese Zeit im eigens erbauten Haus in der Poschinger Straße, wo sie Versorgungsengpässe gut überstehen.
Mit seinem pädagogischen Latein ist das Paar bald am Ende. Thomas Manns Überzeugung, die häusliche „Atmosphäre“ böte Erziehung genug, stößt an Grenzen. Lügen, Lügen, Lügen im Hause Mann und Diebstähle; das Terrorisieren Fremder von Seiten der Herzogparkbande, bei dem Erika sich besonders hervortut, sind an der Tagesordnung und werden erst in dem Moment als Problem erkannt, als das Ansehen der Familie Schaden zu nehmen droht.
|29|Weder Erika noch Klaus sind bereit, schulischen Anforderungen zu genügen.
Niemand scheint darüber nachzudenken, ob es mit der bis zur Wut gesteigerten Arroganz zu tun haben könnte, die das Ehepaar seinem „Personal“ gegenüber an den Tag legt. Mal geht es um eine „viehische Köchin“, mal eine „grobe, diebische Aushilfsköchin“, ein „taubes Hausmädchen“, ein „vergnügungssüchtiges und diebisches ‚Fräulein‘“ oder pauschal um das „nichtswürdige Gesindel“ – Ekel erregend, verhasst, doch unverzichtbar. Hier zeigt sich die von der alten Hedwig Pringsheim übernommene, grenzwertige Spottlust, die sich in Briefen an Katia zwischen 1933 und 1935 schon mal über ein „Gänsegesicht“, eine Nachbarin als „Geschmeiß“, einen Gast als „Zeitraubtier“ oder einen Enkel als „Kakerlake“ amüsieren konnte.
Die Kinder sollen Menschen gehorchen, die von den Eltern verachtet und rasch ausgetauscht werden, sobald sie bei Konflikten Ansätze von Selbstbewusstsein zeigen. Die Königinnen des Kinderreichs sind Beherrschte, eingereiht in jene traurige Vornamenriege, die Klaus im Gedächtnis bleibt: Amalie, Betty, Hermine, Fanny, „Maddemoiselei“, das „petzende“ Fräulein Thea, was den Eltern von Diebereien und Eskapaden berichtet – die Serie der als „verbiestert und humorlos“, „kreischend um ihre Autorität bemühten“ Angestellten reißt nicht ab, zu denen sich noch eine von den Kindern als „Fräulein Stinkemeier“ angesprochene alte Frau gesellt. Mit Ausnahme von Josepha Kleinsgütl, der legendären „Affa“, die das ihr entgegengebrachte Vertrauen durch das Anlegen eines geheimen Diebeslagers verspielt, hält es wenige Dienstboten im Hause Mann. Krankheitsbedingte Abwesenheiten der Mutter, ein Vater, der sich nicht für zuständig hält, sorgen dafür, dass die „Macht der Kinderfräulein“ für Monate „ins Unermessliche“ wächst.
Katia Mann hatte nie eine öffentliche Schule besucht; ihre Lehrer waren ins Haus gekommen. So lag es nahe, Pädagogen an staatlichen oder privaten Schulen als „Personal“ zu betrachten, mit dem man kurzen Prozess machen konnte, wenn es um ihre Sprösslinge |30|ging. Als der Prorektor einer Töchteranstalt rundweg ablehnte, Erika zeitweilig von der Anwesenheitspflicht zu befreien, weil die Fünfzehnjährige ihre Mutter während eines Kuraufenthaltes vertreten sollte, wurde er als „kapitaler Esel“ abgetan.
Für beide Geschwister waren Personal- und Schulwechsel an der Tagesordnung. Ähnlich kurz blieb die Verweildauer von Klaus und Erika in Reformeinrichtungen, obwohl beide nur mit einem hohen Aufwand an Geld und elterlicher Überredungskunst aufgenommen worden waren. Mit pubertärer Revolte allein ist das nicht zu erklären. Lag es daran, dass die beiden Ältesten dem Gros der Lehrer und Lehrerinnen mit Hochmut, Spott und Verachtung begegneten? Selbst bei Einrichtungen, die davon lebten, Söhne und Töchter des finanzkräftigen Bürgertums aufzunehmen, an denen Eltern und Erzieher gescheitert waren, stieß „Frau Thomas Mann“ an Grenzen. Sie war fassungslos, als man sie in Salem nicht nur kühl empfing, sondern Klaus rundheraus ablehnte und an eine andere Anstalt verwies. Erst mit schmeichelndem Umwerben des Leiters der Odenwaldschule hatte sie Erfolg.
Auf den ersten Blick eine passende Wahl. Internate, die als Freie Schulgemeinden vom reformerischen Impetus ihrer Gründer lebten, befanden sich in ländlichen Regionen, fernab unmittelbarer staatlicher oder öffentlicher Kontrolle. Die innere Organisation war von „Familien“ bzw. „Kameradschaften“ bestimmt, die sich um erwachsene „Führer“ sammelten und eine „Schulgemeinde“ mit Entscheidungsbefugnissen der Zöglinge bildeten. Auf Sport, körperliche Arbeit, gesunde Ernährung, Wanderungen und gemeinsame Feiern und Ausflüge legte man ebenso großen Wert wie auf eine Atmosphäre ohne Drill. Knaben stellten die größte Gruppe dar; Mädchen waren Beiwerk. Die Gründe der Zusammenlegung dafür waren pragmatischer, d.h. finanzieller Natur. Zu differenzierten Erziehungskonzepten fühlte man sich deshalb nicht auf gerufen.
Thomas Mann neigte aufgrund eigener Erfahrungen früh zu reformpädagogischen Konzepten mit ihrer dem Wandervogel verpflichteten |31|„neuen Körperlichkeit“ sowie der Verschmelzung von „Pädagogik und Homoerotik“. Unter seinen Freunden und Bekannten waren Zöglinge aus Haubinda; er hatte einen Aufruf zur Gründung einer Freien Schulgemeinde unterzeichnet und glaubte, allen Grund zur Annahme zu haben, dass seine Kinder dort gut aufgehoben seien.
Die Schattenseiten solcher Einrichtungen blieben nicht lange verborgen; nach jüngsten Recherchen der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers und Peter Dudek begleiten Hinweise auf Übergriffe, Prügelstrafen und sexuellen Missbrauch einzelne Pädagogen von Anfang an. Ihre Opfer waren Knaben, seit Einführung der gemeinsamen Erziehung auch Mädchen.
Das Konzept, in engem Kontakt zu einem „Führer“ semifamiliär zu leben, verleitete manche Erzieher zum Überschreiten der gebotenen Distanz: Umarmungen, Küsse, gemeinsames Übernachten einzelner Schüler mit ihrem Betreuer galten als normal.
In den Landschulheimen der Reformpädagogik trafen Zöglinge aufeinander, die an staatlichen Schulen gescheitert waren. Sie wurden von Männern unterrichtet, denen manchmal die Befähigung zum Lehramt fehlte; in unterfinanzierten Einrichtungen griff man auf Studienabbrecher anderer Fachrichtungen, Künstler, Musiker, selbst „skurrile, gestrandete oder pädosexuelle Figuren“ zurück, die im öffentlichen Schulwesen chancenlos waren.
Wem der Prozess gemacht wurde, wie Gustav Adolf Wyneken, der gleich zweimal seine Position als Gründer und Leiter von Wickersdorf und der Odenwaldschule verloren hatte, oder Kurt Lüder Freiherr von Lützow, der als Gründer und Leiter des Landerziehungsheims Zossen ebenfalls vor Gericht stand, kam in den 1920er Jahren oft glimpflich davon.
Der aus einer Pastorenfamilie stammende Lheologe Gustav Wyneken, Vater von zwei Kindern, wehrte sich mit seiner Schrift Eros (1921) gegen alle, die „gerade die für Entartete und Krüppel halten, denen beide Flügel des Eros gewachsen sind“. Seine Vertuschungsrhetorik |32|stand im Gegensatz zur erzieherischen Praxis namhafter Reformpädagogen und schwächte Eltern, die mehr unternehmen wollten, als nur die eigenen Kinder zu schützen.
Wyneken wurde 1920 angeklagt, weil er sexuelle Handlungen an ausgewählten, von ihren Mitschülern separierten „Lieblingen“ vorgenommen haben soll. Zahllose Ergebensheitsadressen von Zöglingen, Mitarbeitern und Eltern, finanzielle Zuwendungen im Umfeld des Prozesses sowie der Einsatz einflussreicher Befürworter hinter den Kulissen machten deutlich, dass viele sich nicht vorstellen oder wahrhaben wollten, wie der „Eros“ des charismatischen Pädagogen beschaffen war. 1921 wurde Wyneken zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Die Thüringer Staatsregierung erließ ihm die Strafe und belegte ihn nur mit Unterrichtsverbot.
Nach einer Schamfrist von knapp zwei Jahren kehrte er an seine Schule zurück – auf Anordnung des Ministeriums als wirtschaftlicher Leiter. Über das von ihm etablierte Favoritensystem zerbrach sich niemand den Kopf; Wyneken setzte sein Zusammenleben mit ausgewählten Jünglingen fort. Bald kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit seinem Nachfolger Peter Suhrkamp, einem ehemaligen Zögling, dem die pädagogische Leitung von Wickersdorf anvertraut worden war. Nach seinem ersten Positionsverlust wirkte Wyneken noch zwei Jahrzehnte im Sinne seines „Eros“, bis er die Freie Schulgemeinde, zwei Jahre nach Suhrkamps Kündigung, wegen erneuter Missbrauchsvorwürfe endgültig verlassen musste.
Vor Gericht begründete von Lützow seine Praxis, jüngere Knaben zu umarmen, zu küssen, zu streicheln und zu züchtigen, mit einer zwischen „Liebe“ und Strafe wechselnden Pädagogik. Mehrere Juristen, darunter einer der bekanntesten Strafverteidiger der Weimarer Republik, nahmen sich seiner an. Etwa 600 Zeugen und etliche Gutachter – u.a. Magnus Hirschfeld – kamen im Prozess zu Wort. Ein Psychiater stellte die Glaubwürdigkeit jugendlicher Zeugen infrage und betonte die Wertlosigkeit ihrer Aussagen: Die Zöglinge seien „Debile“ und „Psychopathen“, „die aus einer pädagogischen |33|Mücke einen sexuellen Elefanten werden“ ließen. Das Gericht schloss sich dieser Auffassung an. Der Hinweis, die Schülerschaft von Zossen stamme aus kleinbürgerlichen, proletarischen und prekären Verhältnissen, wurde nach dem Freispruch von Lützows durch die Tatsache widerlegt, dass zahlreiche Eltern aus adeligen und bildungsbürgerlichen Kreisen massiv gegen die von der Staatsanwaltschaft eingelegte Berufung protestierten, um ihre Kinder nicht noch einmal Befragungen vor Gericht aussetzen zu müssen.
Manche Gutachter hatten Probleme, zwischen Homosexualität und Pädophilie bzw. Pädosexualität, zwischen einer der familiären und schulischen Praxis entsprechenden Prügelstrafe und Misshandlungen zu unterscheiden. Außerdem stand das Wort von Erwachsenen gegen kindliche Aussagen. Deshalb lautete das Urteil: „Freispruch in allen 75 Fällen“. Zwei Monate später wurde ein am Verfahren beteiligter Schöffe, Kreistagsabgeordneter der KPD, angeklagt und verurteilt, weil er sich an einer Elfjährigen vergangen hatte. Zwei Jahre nach dem Prozess übertrug das Preußische Kultusministerium von Lützow unter Auflagen erneut die erzieherische Leitung seiner Schule.
Vorreiter einer sexualisierenden Pädagogik konnten sich im Abseits Freier Schulgemeinden auch deshalb entfalten, weil Abhängigkeitsverhältnisse ein Klima des Beschweigens erzeugten. Die Frage nach der Legitimation und Reichweite pädagogischer Konzepte beschäftigte damals Siegfried Bernfeld, einen Schüler von Sigmund Freud. In Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung (1925) wies er auf das Machtgefälle zwischen Erziehenden und Erzogenen und die Grenzen pädagogischer Mühen hin: Sie lägen in der sozialen Herkunft des Kindes, in seiner Erziehbarkeit und der Persönlichkeit von Erziehenden. Pädagogischen Theorien sprach er nicht nur jede Wissenschaftlichkeit ab, er machte die bisherige Schulpraxis und ihre Verfechter auch für den Fortbestand des Kapitalismus verantwortlich.
|34|In diesen Jahren hat Thomas Mann Freud für sich entdeckt, doch manch pubertäre Regung von Klaus lässt ihn ratlos und Katia weinend zurück; so kann es nicht weitergehen. Die Einrichtung in Hochwaldhausen, für die sich das Elternpaar 1922 entscheidet, war zwei Jahre zuvor „wegen schwerer sittlicher Verfehlungen“ des Gründers Georg Hellmuth Neuendorff geschlossen worden. Der verheiratete Sohn eines Pfarrers und Vater von zwei Söhnen hatte sein Studium abgebrochen und keine Lehramtsprüfung aufzuweisen. Erste Erfahrungen im Schulbetrieb sammelte er seit 1909 bei Gustav Wyneken und Paul Geheeb in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, wo er seine spätere Frau Elisabeth Louis kennenlernte. Sie war dort als ausgebildete Lehrerin beschäftigt und verfügte im Gegensatz zu ihm über die Konzession zur Leitung einer Reformschule. Nur deshalb konnte er drei Jahre später ein Landerziehungsheim betreiben, das mit einem Vertrauensvorschuss des wohlhabenden Bildungsbürgertums startete: Den Gründungsaufruf hatte Thomas Mann mit 30 anderen unterzeichnet.
Das Führerprinzip an solchen Einrichtungen kam Neuendorff entgegen, weil er seine Inkompetenz mit reformpädagogischer Rhetorik bemänteln konnte. Erst der Selbstmord einer Neunzehnjährigen löste Untersuchungen aus, die systematische Übergriffe und Vergewaltigungen Neuendorffs ans Licht brachten. Eine geschwängerte Schülerin hatte sich im Oktober 1920 mit Arsen vergiftet. Er floh nach Argentinien, wurde 1924 gefasst, vor Gericht gestellt und zu sechs Jahren Haft und Ehrverlust verurteilt. Der Skandal zog weite Kreise und dürfte Katia und Thomas Mann nicht verborgen geblieben sein.
Neuendorffs Nachfolger Otto Hermann Steche, ein habilitierter Mediziner, Biologe und Eugeniker, dem eine universitäre Karriere versagt geblieben war, eröffnete die hoch verschuldete Dürer-Schule unter dem Namen Bergschule Hochwaldhausen 1921 neu. Zwei Jahre später holte er sein Staatsexamen für das höhere Lehramt nach. Katia und Thomas Mann konnten ihn während einer persönlichen |35|Begegnung überzeugen, Erika und Klaus aufzunehmen. Für Steche war es der Anfang vom Ende: Im Vollgefühl jugendlicher Verachtung und Überlegenheit machten sich die Geschwister einen Spaß daraus, das Ende der Neugründung herbeizuführen. „Wir unterminierten seine Autorität, zerstörten ihm seine Schule“ heißt es rückblickend bei Klaus Mann.
Reformpädagogische Einrichtungen leiden unter der Fluktuation von Schülern; sobald sie sich als ungebärdig, desinteressiert oder feindselig erweisen, werden sie in andere Internate verschoben. Klaus ist kein Einzelfall. Im Frühling 1922 verbringt er mit Erika drei Monate in der Bergschule Hochwaldhausen, danach setzen sich beide nach München ab. Weil Klaus im exklusiven Salem als frühreif, „selbstgefällig“, „ungewöhnlich begabt“, „angeknaxt“ eingeschätzt und abgewiesen wird, gelingt es den Eltern, ihn an Paul Geheebs Odenwaldschule unterzubringen. Bald muss er sich dort weder am Unterricht noch an Gemeinschaftsaufgaben beteiligen, darf lesen, dichten, träumen – trotzdem bleibt er nur ein knappes Jahr. Der 52-jährige Leiter, im Stil der Wandervögel gekleidet, setzt auf laissez-faire; weil alles und alle auf ihn ausgerichtet sind, scheint er vieles „mit anzusehen und zu dulden, ohne einen Finger zu rühren“.
Auch Geheeb wurde zeitweise wie ein Guru verehrt; doch an seinem Beispiel wird auch deutlich, wie rasch die auf Verantwortung zielenden Rezepte der Reformpädagogik im Alltag versanden. Abseits der Pflichtstunden führen Schülerinnen und Schüler der Odenwaldschule ein von der „fixen Idee des Auserwähltseins“ durchdrungenes Leben: „Extremster, ausschweifender Individualismus trieb uns fast bis zur Selbstvergötterung“, erinnert sich Klaus Mann. Der jeweiligen Clique, „Familienmitgliedern“, wird suggeriert, einer Elite anzugehören, wobei Klaus Mann sich schon aufgrund seiner Herkunft auserwählt, Lehrern und Mitschülern gegenüber überlegen fühlt, da sie „weit unter mir stehen“. Dass er nicht mittun mag und körperliche Anstrengungen scheut, nimmt |36|er als Zeichen dafür, dass ein Künstler in ihm steckt, denn „Ein fleißiger Künstler – das wäre ein Paradoxon!“. Zwar hat er in Gestalt des Vaters den Beweis des Gegenteils vor Augen – doch über solche Einsichten hilft Arroganz hinweg.
Obwohl Klaus glaubt, einen „solchen Rausch des Selbstbewusstseins“ nie wieder zu erleben, hält es ihn auch an der Odenwaldschule nicht länger. Nach einem heimlichen Abstecher ins Berliner Nachtleben verweigert er weitere Erziehungsmaßnahmen, während Erika 1924 trotz einem „mangelhaft“ in Latein, Englisch, Französisch, Mathematik, Physik und Chemie das Abitur besteht, was die Vermutung aufkommen lässt, die Schule habe sich (gegen Geld?) einer Querulantin entledigen wollen.
Klaus nimmt die fruchtlose Odyssee durch Privatschulen nicht weiter tragisch – sind doch weder Onkel Heinrich noch sein Vater zum Abitur gelangt. „Mieleins“ Beispiel zählt nicht – was hätte sie damals mit ihrem Studium anfangen sollen? Klaus und Erika können, sie wollen nicht anders. Katia Manns Stoßseufzer „Gott, was habe ich für Mühe gehabt, alles für Euch zu beschaffen“, bleibt wirkungslos.
Wo immer Klaus erscheint: Sein Charme kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er – wie die arrogante, unablässig ulkende Erika – den Blick aufs „Personal“ kultiviert. Beide genießen ihre Sonderrolle in vollen Zügen. Niemand setzt ihnen Grenzen. Zu Hause macht man sein unstetes Naturell für das schulische Fiasko verantwortlich. Diesen Vorwurf gibt Klaus an die Eltern zurück. Sie sollen beachten, „eine wie tiefe Ungerechtigkeit in der fast pathologischen Launigkeit und Unbeständigkeit liegt, mit der sie mich behandeln, so daß Zärtlichkeit in radikalste Ablehnung umschlägt, nur weil ich einen Bekannten des Zauberers für ein paar Tage um eine mir bestimmt zur Verfügung stehende Geldsumme anpumpen wollte“. Er gesteht Erika, im Familienkreis komme nichts zur Sprache, „was wirklich Anlaß zur Beunruhigung gegeben“ habe. Sexualität ist kein Thema. Erst in späteren Jahren weiß er ihr non-dit zu |37|schätzen: „Die Eltern, immer schnell bereit zu verzeihen, gewöhnten sich bald an das, was ihnen fremd an uns war; auf die schönste und klügste Art ließen sie uns gewähren“, wird er rückblickend festhalten.
Um dieselbe Zeit hat der sechs Jahre ältere Gründgens unter Kriegs- und schließlich Inflationsbedingungen Erfahrungen gesammelt, seine Ausbildung an der Düsseldorfer Theaterakademie abgeschlossen, in der Provinz eine Vielzahl von Rollen gespielt und sich nach Berlin orientiert. Vom Vater hat er keine Unterstützung mehr zu erwarten.
Dagegen darf Klaus Mann sich sorglos entfalten. Die Welt steht ihm offen. Er taucht überall auf, wo sich etwas tut, genießt die Münchener und Berliner Bohème, Reisen, Kontakte zur literarischen Szene, mag nirgends verweilen und ist fähig, inmitten des Trubels zu schreiben. Homosexualität, auch käufliche, zu der er sich bekennt, ist strafbar. Katia und Thomas Mann haben jeweils eigene Gründe, das nicht zu problematisieren. Es wird gut gehen.