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Von Heidelberg bis Leipzig

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Inhaltsverzeichnis

Die Thesen waren geschrieben angeschlagen, bald wurden sie gedruckt und ins Deutsche übersetzt. Etwas längst Erwartetes war plötzlich sichtbar und greifbar geworden, etwas, das verhüllt schon lange da war. Sie flogen von einem Munde zum anderen, weil sie aussprachen, was viele, nur weniger klar, schon gedacht und geflüstert hatten. Für den, der die Thesen aufgesetzt hatte, war ihr Inhalt viel weniger selbstverständlich. Im Kloster, allein mit Gott und den Dämonen, hatte er sich nicht um das gekümmert, was in der Welt vorging. Er wußte nichts von der Kirchen- und Reichsreform. So wenig glaubte er die Kirche anzugreifen und so sehr war er überzeugt, daß jeder, und je höher er stehe, desto mehr, nach sachlichen Gesichtspunkten urteile, daß er seine Thesen dem Erzbischof Albrecht mitteilte, damit er die Mißbräuche der Ablaßpredigt abstelle, durch die die ihm anvertraute Herde an der Seele geschädigt werde. Den Erzbischof, der bereits durch den ziemlich geringen Ertrag des Geschäftes beunruhigt war, berührte diese Störung des Betriebes sehr peinlich. Er wäre mit zornigen Worten gegen Luther losgefahren; aber andererseits lag ihm sein Ruf eines aufgeklärten Humanisten zu sehr am Herzen, als daß er sich durch dick und dünn für einen Dominikaner hätte einsetzen mögen. So wählte er den Ausweg, daß er sämtliche den Fall betreffenden Akten nach Rom schickte, damit der Papst entscheide. Auch der Bischof von Brandenburg, Hieronymus Skultetus, dessen Diözese es anging, wollte nicht zu den Dunkelmännern gezählt werden. In höflichster Form versicherte er Luther, daß er nichts Unkatholisches in den Thesen finde, riet ihm aber, sich nicht in die Gewalt der Kirche einzumischen, und Luther versprach zu schweigen. Er hatte nicht die Absicht, sich mit der Kirche zu verfeinden, und hielt sein Versprechen, obwohl die Angriffe der Gegner es ihm schwer machten. Wie fest die Macht der Kirche in das Leben und die Gewohnheiten eingegraben war, zeigte sich darin, daß noch immer niemand zur Disputation sich meldete, daß der Beifall, obwohl im stillen reichlich vorhanden, nicht laut wurde, wohl aber der Widerspruch, zunächst von seiten der unmittelbar angegriffenen Dominikaner. Sie hatten im Jahre 1506 durch den entdeckten Betrug in Bern eine tödliche Niederlage erlitten, kürzlich eine neue durch die Entwicklung der Reuchlinschen Sache und die Veröffentlichung der Dunkelmännerbriefe. Sie wollten nicht noch einmal verlacht werden; gelang es nicht mit Reuchlin, wollten sie sich an Luther entschädigen. Tetzel entzündete neben seiner Wohnung in Jüterbog ein Feuer zum Zeichen, daß er Ketzermeister sei und Irrgläubige auf den Scheiterhaufen bringen könne. Er wurde ausersehen, um an der Universität Frankfurt an der Oder Thesen gegen Luther zu verfechten, die zum Teil von deren erstem Rektor Koch, nach seiner Geburtsstadt Wimpfen Wimpina genannt, verfaßt waren. Wimpina haßte den berühmten Mediziner Pollich, der von Friedrich dem Weisen hochgeschätzt wurde und der erster Rektor an der Universität Wittenberg gewesen war, und freute sich sehr, in Luther die sächsische Universität zu treffen, die zu übertrumpfen Frankfurts Ziel war. In den Thesen wurde Luther eine kirchenfeindliche Gesinnung zugeschrieben, wie er sie nicht hatte und auch buchstäblich nicht geäußert hatte; sie ließen ihn als einen gefährlichen, todeswürdigen Ketzer erscheinen. Sie schlossen mit dem Vers des Moses voll unheimlichen Posaunenklangs: Ein jegliches Tier, das den Berg anrührt, soll gesteinigt werden.

Ein neuer Streit zwischen zwei Orden und den entsprechenden Universitäten schien ausgebrochen zu sein. Die Humanisten lachten belustigt. Mögen sie sich gegenseitig zugrunde richten, sagte Hutten. Johann Maier, genannt Eck nach seinem Geburtsort, Professor in Ingolstadt und als geschickter Disputatär berühmt, hielt sich zu den Humanisten, wollte aber zugleich sich um die Kirche verdient machen. Von den älteren Humanisten, Wimpheling, Sebastian Brant und anderen, unterschied er sich durchaus; denn diesen lag das wahre Wohl der Kirche am Herzen, und sie waren deshalb Anhänger der Reform, wie denn auch Wimpheling Luthers Auftreten freudig begrüßte, während es Eck, man möchte fast sagen im Gegenteil, auf die bloße Gewalt ankam, zu der es ihn gefühlsmäßig hinzog, und die er als ein Held mit Rückendeckung verteidigte. Während er Luther in einer Schrift als böhmischen Ketzer verdächtigte, gebärdete er sich brieflich ihm gegenüber als Freund und Verehrer.

Zur Verteidigung Luthers regte sich niemand als die Jugend, diese mit erfrischender Tapferkeit. Ein Student, namens Knipstro, trat bei der Frankfurter Disputation für ihn in die Schranken, und als ein Hallenser Buchdrucker einen ganzen Ballen der Frankfurter Gegenthesen nach Wittenberg geschickt hatte, bemächtigten sich ihrer die Studenten und verbrannten sie unter mutwilligen Zeremonien mittags auf dem Marktplatz. Es war der 18. März 1518. Am folgenden Tage mißbilligte Luther diesen Vorgang in einer Predigt; er wollte nichts tun, um das Feuer zu schüren, vielmehr, soviel an ihm war, es zu dämpfen. Etwa eine Woche darauf trat er eine Reise nach Heidelberg an, wo er auf dem Frühlingskapitel der Augustiner über seine Tätigkeit als Distriktvikar Rechenschaft abzulegen und sein Amt dem Nachfolger zu übergeben hatte. Manche warnten ihn vor dieser Reise. Der Kurfürst hatte ihm sagen lassen, er werde nicht dulden, daß man ihn nach Rom schleppe, und ihn seines Schutzes versichert; aber gerade darum, meinte man, wenn die Kurie die Aussicht verliere, ihn rechtmäßig zu verbrennen, würde sie ihn hinterrücks ermorden. Luther bestand darauf zu reisen, und zwar zu Fuß. Er war guten Mutes, voll des Friedens, in dem er so oft mitten im Sturm beseligt ruhte. Mit einem Begleiter, wie es die Klosterregel vorschrieb, ging er die Saale entlang über Koburg nach Würzburg, mit angelegentlich empfehlenden Briefen des Kurfürsten versehen. Dort nahm ihn Bischof Lorenz von Bibra, dessen Erscheinung uns Riemenschneiders edle Kunst überliefert hat, gastlich auf. Er war ein Reformfreund, der schon gegen den Ablaß eingeschritten wäre, wenn der Erzbischof von Mainz es ihm nicht gewährt hätte. Man erzählte sich, ein Prediger in der Hauptkirche von Würzburg habe auf der Kanzel gesagt, nichts sei mit dem Evangelium zu vergleichen, und wer recht handle, werde selig; der Ablaß nütze dem nichts, der nicht recht handle. Wenn aber einer rechtschaffen lebe oder, falls er gesündigt habe, Buße tue und sich bessere, der werde auch ohne Ablaß Bürger des Himmelreichs.

Das liebliche Gefühl, unter Freunden und Gesinnungsgenossen zu sein, überkam Luther vollends in Heidelberg, wo er nicht nur Wenzeslaus Link und Lang, die alten Gefährten, fand, sondern auch Staupitz, den geliebtesten und verehrtesten unter allen Menschen. Der junge Pfalzgraf Wolfgang, Bruder des Kurfürsten von der Pfalz, der zum geistlichen Stande bestimmt war und in Wittenberg studiert hatte, empfing ihn mit Auszeichnung. Ihm wurde die Leitung der Disputation übertragen, die im Kapitelsaal der Augustiner stattfand. Die Thesen, die er aufstellte, erklärten in grundlegender Weise die Paulinisch-Augustinische Glaubenslehre, die er so leidenschaftlich ergriffen und so tief durchdacht hatte. Daß der Mensch sich von der Sünde, in der er gefangen ist, nicht aus eigener Kraft befreien kann, sondern sie der Gnade Gottes dankt, die zu ersehnen das einzige ist, was er selbst zu seiner Lösung tun kann, war der Grundgedanke der Sätze, die er verfocht. Die Heidelberger Professoren der Theologie befremdete zwar diese Auffassung, aber sie griffen ihn in einer Weise an, die ihre Bildung und humanistische Weitherzigkeit zeigte. Unter denen, die ihm beifielen, war ein junger Dominikanermönch, braun von Gesicht, mit schönen scharfen Zügen, für den die verkündete Lehre eine Offenbarung war, die ihn in ähnlicher Weise zu sich selbst brachte und sein Leben lang festhielt, wie die Worte von Staupitz Luther getan hatten. Es war Martin Butzer aus Schlettstadt, der sich bisher den Druck des Klosterlebens durch den Verkehr mit humanistischen Freunden zu erleichtern gesucht hatte; darin war er Luther ähnlich, daß er niemals selbstsüchtige Nebenzwecke im Auge hatte, wo es um die höchsten Fragen der Menschheit ging. Schwärmerische Verehrung für den Mann, der ihm ein neues Leben eröffnete, ergriff ihn; nicht genug konnte er den Freunden Luthers Anmut im Disputieren, seine Liebenswürdigkeit und seinen Freimut im Umgang, seinen Scharfsinn rühmen.

Aber auch Luther war umgewandelt. Von den Hügeln Heidelbergs, die den hellen Kranz ihrer Frühlingsblüte um die sanften Bogen des Neckars schlangen, kehrte er gewachsen, gehoben zurück. Bis dahin war er ein Einzelner gewesen, der einige Freunde hatte, die ihn verstanden und schätzten; auf dieser Reise hatte er erfahren, daß er der Führer eines Volkes war. Im Kloster war wenig oder nichts zu ihm gedrungen von dem jahrhundertelangen Kampf um die Reformation; vielleicht hätte es ihn damals kaum interessiert. Wenn er vernommen hätte, daß ein alter Mann beim Lesen seiner Thesen ausrief: »Ho ho, der wird's tun!« hätte er die Worte kaum richtig verstanden. Er ahnte nicht, daß es viele gab, die auf ihn warteten. Das Echo seiner Thesen, das anfangs ausgeblieben war, warfen ihm die Berge Würzburgs und Heidelbergs zu, froher und stärker, als er je gehofft hatte. Die Antwort auf seine zögernde, zweifelnde Frage kam zuversichtlich mit unzähligen Stimmen. Wenn er an Spalatin schrieb: »Ich bin wiedergekommen im Wagen, der ich ausgezogen bin zu Fuß«, so klingt darin der Jubelton dessen, der vielleicht nicht siegen, aber freudig kämpfen wird.

An einem der nächsten Sonntage predigte er über den Bann: der Papst kann nur den äußeren Bann verhängen, der von der Kirche ausschließt, den inneren Bann, den Ausschluß aus der Gemeinschaft Christi verhängt nur Gott. Hat Gott ihn nicht verhängt, so kann der Bann des Papstes nicht schaden, ja derjenige, der ungerechterweise aus der äußeren Gemeinschaft ausgestoßen ist, wird die innere Gemeinschaft mit Christus um so wärmer empfinden. Damit bekannte er sich zum Glauben an die unsichtbare Kirche. In der zweiten Hälfte der Resolutionen zu den 95 Thesen, die er jetzt verfaßte, sagte er: »Was dem obersten Pontifex gefällt oder nicht gefällt, kümmert mich nicht.«

Es war ein großer Augenblick in Luthers Leben, daß zum erstenmal die Titanen in seiner Brust, die bisher so streng gefesselten, sich frei nach außen regen durften. Er wurde Feldherr über ein gewaltiges Heer, das ihn besser schützte als Freunde und Fürsten und Volk. Fast hätte er seine Feinde seine besten Freunde nennen können, daß sie ihm zu dieser Macht verhalfen. Ein schriftlicher Angriff Tetzels reizte ihn zu einer Antwort, in der er zum erstenmal Zorn, Humor, Spott und Grobheit zu übermütiger Schlacht ins Feld schickte. Nicht mehr der demütige Mönch sprach, sondern der Gebieter über Gewaffnete. Wie Goethe mußte Luther immer einen Gegenstand für seinen Zorn haben, der Haß mußte seine Liebe ergänzen, wenn er die Lust genießen wollte, sich ganz zu fühlen. Es war aber doch nicht der Papst, den er haßte, und am wenigsten die Kirche. Er glaubte ihr treuester Sohn zu sein, den es schmerzte, sie entstellt zu wissen, der sie in reiner Gestalt, wie Christus sie geschaffen hatte, wiederhergestellt sehen wollte. Die allgemeine Kirche sah er immer noch als die höchste Instanz an, der sich zu unterwerfen er bereit war. Als er am 7. August die Zitation nach Rom zugestellt erhielt, erschrak er. Daß ihn dort der Scheiterhaufen, jedenfalls der Tod erwartete, daran war nicht zu zweifeln, und ihm graute davor. Der Kurfürst und seine Räte wollten sich dem päpstlichen Befehl nicht geradezu widersetzen und doch auch den geschätzten Prediger, den der Universität so nützlichen Professor nicht opfern. So verfielen sie auf den Ausweg, den Papst zu bitten, er möge gestatten, daß Luther in Deutschland vernommen werde, was um so eher tunlich war, als der Kardinallegat Cajetan, ehemaliger Dominikanergeneral, sich wegen des Reichstags in Augsburg befand und dort das Verhör vornehmen konnte. Gerade um diese Zeit hatte der Kurfürst, immer auf Förderung der Universität bedacht, die Gründung von Lehrstühlen des Griechischen und Hebräischen beschlossen, damit die Studenten Gelegenheit hätten, sich in den Sprachen auszubilden, die für das Studium der Heiligen Schrift, das künftig als Hauptlehrfach betrieben werden sollte, die Grundlage bildeten. Als Lehrer des Griechischen wurde Philipp Melanchthon berufen, ein Neffe Reuchlins und von ihm empfohlen. Melanchthon, der zarte Sohn eines Heidelberger Waffenschmiedes, war damals 21 Jahre alt, eine dürftige Erscheinung, die den Wittenberger Professoren eher mißfiel. Das änderte sich, als er am 29. August in der Schloßkirche seine Antrittsrede über die Reform der Universitätsstudien hielt und in musterhafter Form den Studenten die Bedeutung der Sprachkenntnis erklärte. Luthers warmes Freundesherz entbrannte sofort für den gelehrten Jüngling, und wie er ihn zu sich heranzog, riß er auch ihn zu Bewunderung hin. Für den eifrigen Humanisten hatte es etwas Überwältigendes, plötzlich in die Tiefe der religiösen Gedankenwelt Luthers eingeführt zu werden. In wechselseitiger Hingebung, gemeinsamer Arbeit und Bestrebung entfaltete sich rasch eine Freundschaft, über deren Glück Luther die Gefahr, in der er schwebte, fast vergaß. Vielleicht war die nun schon längere Zeit andauernde Hochstimmung schuld, daß ein jäher Umschwung stattfand, als, nachdem der Papst eingewilligt hatte, die Reise nach Augsburg angetreten werden mußte.

Schwermütig schleppte sich Luther durch die verschiedenen Reisestationen und hörte überall ängstliche Warnungen, die ihn in dem Gefühl bestärkten, daß er seinem Ende entgegengehe. Krank an Geist und Körper kam er am 7. Oktober in Augsburg an. Dort wurde ihm besser zumute; obwohl der Reichstag sich schon auflöste, waren die Räte des Kurfürsten noch anwesend, mit denen er sich gut verstand, und Staupitz kam, den er zu seiner Hilfe herbeigerufen hatte. Der qualvolle Druck wich von ihm, nun es galt zu handeln. Er wurde in den Kreis der Augsburger Patrizier hineingezogen, wo er von den großen Dingen sprechen hörte, die auf dem Reichstage verhandelt worden waren. Zweifelsohne diskutierte man über die Beschwerden der deutschen Nation und über die Schriften, in denen der Papst unverhohlen angegriffen war. Der berühmte Peutinger, des Kaisers Freund, lud ihn ein und zeigte ihm Sympathie; wieder erfuhr er, daß er, ohne es zu wissen, mit seinem Auftreten die Sache vieler vertreten hatte.

Als das freie Geleit vom Kaiser eingetroffen war, ohne das man ihm geraten hatte, sich dem Kardinallegaten nicht zu stellen, betrat er das prächtige Fuggerhaus, in dem Cajetan wohnte. Mit den vorgeschriebenen Unterwürfigkeitsbezeigungen, wieder ganz Mönch, nahte er sich dem Hochgestellten, der seinerseits die Rolle des väterlichen Oberen spielte. Der Legat, ein kleiner, unansehnlicher Mann, besaß die ganze Liebenswürdigkeit des Italieners wie auch den Hochmut des Kirchenfürsten und Gelehrten. War Luther für Güte und für liebenswürdige Form empfänglich, so reizte der Hochmut seinen Stolz und seine Wildheit. Seinem Wunsch, dem Stellvertreter des Papstes seine Anschauungen auseinandersetzen zu dürfen, setzte Cajetan den eisernen Widerstand römischer Infallibilität entgegen; ohnehin war es ihm ärgerlich, mit einem kleinen Mönch so viele Umstände machen zu müssen. Verteidigung seiner Sätze, sagte er, werde nicht gewünscht, Widerruf werde gefordert. Staupitzens Verwendung, der Luther bei seinem zweiten Verhör begleitete, erreichte, daß Cajetan versprach, eine schriftliche Verteidigung Luthers dem Papst einzureichen. Cajetans Aufforderung, Staupitz möge Luther zum Widerruf bewegen, lehnte dieser mit der Begründung ab, Luther sei ihm an Gelehrsamkeit und Talent überlegen. In seiner Schrift versprach Luther zu widerrufen, wenn ihm sein Irrtum aus der Heiligen Schrift bewiesen würde; nachträglich sagte er zu seinen Freunden, er wolle überhaupt nicht widerrufen, sondern appellieren. So blieb die Sache unausgetragen. Cajetan hatte Vollmacht, Luther sofort zu bannen, falls er nicht widerrufe, und über alle Orte, wo er sich aufhielte, das Interdikt zu verhängen; aber angesichts der Stimmung in Deutschland hielt er es für besser, noch nicht davon Gebrauch zu machen. Trotzdem waren alle Beteiligten von unbestimmter Angst ergriffen: Cajetan verhielt sich still im Fuggerhaus, man wußte nicht, auf wen unversehens ein Schlag niederfallen werde. Einer nach dem andern, auch Staupitz, verließ Augsburg. Nachdem er eine Appellation von dem schlecht beratenen an den besser zu unterrichtenden Papst aufgesetzt und einem Notar übergeben hatte, brach auch Luther auf, heimlich bei Nacht, vom Domherrn Langemantel mit einem Pferd und Reitknecht versehen und aus einem Pförtchen in der Stadtmauer entlassen. Obwohl ungern und voll Furcht schlug doch der Notar die Appellation am Augsburger Dom an. Einige Wochen später appellierte Luther nicht mehr an den besser zu unterrichtenden Papst, sondern an ein künftiges Konzil, was er schon in Augsburg gewollt, aber aus Nachgiebigkeit gegen Staupitz unterlassen hatte.

Das abwartende Verhalten Cajetans gegenüber Luther wurde von der Kurie gebilligt, da aus politischen Gründen Rücksicht auf Friedrich den Weisen zu nehmen geboten schien. Noch einmal wurde der Versuch gemacht, die Sache durch gütliche Mittel aus der Welt zu schaffen. Dem Kammerherrn und Domherrn von Miltitz, sächsischem Geschäftsträger in Rom, gelang es, Luther das Versprechen künftigen Schweigens zu entwinden. Er zeigte sich als weltläufiger junger Mann, der sich nicht viel um Lehrsätze kümmert, aber die traurigen Folgen eines Schismas für Deutschland fürchtet. Damit traf er Luthers Herz, der sich viel inniger als Miltitz mit der Kirche verwachsen und für sein Tun verantwortlich fühlte. Auch durch die Tat kam man Luther entgegen, indem man Tetzel zum Sündenbock machte; Miltitz hielt dem bisher so Geschätzten sein Verhalten bei der Ablaßpredigt und einige längst bekannte Verfehlungen so hart vor, daß der Unglückliche gemütskrank wurde und bald darauf starb. Billigte Luther das auch nicht, so glaubte er doch Zugeständnisse machen zu müssen und gelobte nicht nur zu schweigen, sondern setzte eine Schrift auf, in der er die Autorität der Kirche anerkannte und seine Thesen möglichst im Sinn der Kirche zu deuten suchte. Miltitz schmeichelte sich, den Rebellen gezähmt zu haben.

Indessen was Luther auch sagen mochte, den Folgen seiner gewonnenen Überzeugung konnte er nicht ausweichen. Während er nachgab, fühlte er sich im Banne einer Macht, die nicht nachgab. Während er tatsächlich einige Schritte zurückwich, ging es in seinem Innern weiter und weiter. Neben dem stillen Licht ewiger Anbetung, das auf dem Altar seines Herzens brannte, schlug die Flamme immer höher, die den Tempel zerstören sollte. Er schrieb die Auslegung des Vaterunsers, vertiefte sich in die Galaterbriefe und studierte die päpstlichen Dekretalen, die ihn immer mehr in der Ansicht bestärkten, daß der Papst der Antichrist sei. Das Studium der Dekretalen hing zusammen mit einer Disputation, die Luthers Kollege und Anhänger Karlstadt, um Luther zu verteidigen, eingeleitet hatte. Da Eck, Karlstadts Gegner, in seinen Thesen mehr Luther als Karlstadt angriff, wünschte Luther sich an der Disputation zu beteiligen; so war er an die Schicksalskette geknüpft, deren erstes Glied seine eigenen Worte gewesen waren. Als Ort der Disputation hatte Eck Leipzig gewählt, die Universität des Herzogs Georg, Friedrichs des Weisen Vetter und Gegner. Die Väter der beiden Fürsten, Ernst und Albrecht, hatten im Jahre 1485 ihr Land geteilt, die brüderliche Einigkeit zerstört und ihre Eifersucht auf die Söhne vererbt. Eine feindselige Stimmung empfing die Wittenberger in Leipzig, das der neuen sächsischen Universität die zunehmende Hörerzahl mißgönnte. Dazu kam, daß Karlstadt ebenso ungeeignet zum Disputieren war, wie Eck dazu geschaffen schien; Eck verfügte über ein außerordentliches Gedächtnis und über die Dreistigkeit, immer etwas vorzubringen, auch wenn es nicht ganz stimmte, was doch im Augenblick nicht leicht nachzuweisen war. Bei ihm ging es Schlag auf Schlag im Ton unerschütterlicher Überzeugung, während Karlstadt stockte, in Büchern nachschlug und die gesuchte Stelle nicht fand. Luther disputierte im allgemeinen glänzend; was ihn in Leipzig störte und dem Erfolg schadete, war, daß er sich plötzlich von der Wucht seiner Gedanken an Abgründe gerissen sah, vor denen ihn schauderte. Eck, obwohl er sich immer noch als Luthers Freund gebärdete, stellte es von Anfang an darauf ab, ihn als Feind des Papsttums und als Ketzer zu entlarven, wie er auch bei seinem ersten Angriff auf seine Thesen von böhmischem Gift gesprochen hatte. Luthers Behauptung, der Primat des Papstes sei eine menschliche, nicht eine göttliche Einrichtung, griff er auf, um zu bemerken, das sei auf dem Konzil zu Konstanz als häretisch verdammt worden; er sage das, fügte er hinzu, weil er gehört habe, es seien Hussiten anwesend, und diese könnten sich in ihren Meinungen durch Luther bestätigt glauben. Luther stutzte; er sei kein Hussit, sagte er, und mißbillige ihr Schisma. Nach der Essenspause, die gerade stattfand, kam er selbst auf das Thema zurück und sagte, unter den auf dem Konzil verdammten Sätzen von Huß seien einige durchaus christlich und evangelisch. Eck triumphierte: wenn das Konzil zu Konstanz in einem Punkte geirrt hatte, konnte es auch in anderen irren, konnten alle Konzilien irren, und wer sollte dann über strittige Glaubensfragen entscheiden, wenn weder der Papst noch ein Konzil das konnte? Es war eine Frage, die Luther selbst, der sie veranlaßt hatte, beängstigend anfiel. Hatte er nicht selbst kürzlich an ein künftiges Konzil appelliert! An wen wollte er appellieren, wenn auch das keine Geltung mehr hatte? Am folgenden Tage versuchte er seine Aussage zu mildern. Wenn auch Konzile in einigen Sätzen irren könnten, meinte er, so seien Konzilsbeschlüsse doch anzunehmen, nur müßten sie mit der Schrift übereinstimmen. Eck blieb dabei, das sei böhmisch. Im Kampfe stärkte sich Luther. Es wurde ihm klar, wohin seine Ansichten unwidersprechlich führten; wenn auch Konzile irren können, blieb als einzige letzte Autorität die Heilige Schrift. Als er das gesagt hatte, rief Eck aus: »Ehrwürdiger Vater, wenn Ihr das glaubt, seid Ihr ein Heide.« Noch immer war so viel Besorgnis in Luther, das Volk könne durch ihn zum Abfall von der Kirche verleitet werden, daß er auf deutsch zu den Anwesenden sagte, er leugne die päpstliche Gewalt nicht, nur ihren göttlichen Ursprung. Auch das Kaisertum sei nicht göttlichen Ursprungs und bestehe doch und müsse geehrt werden.

Die Zudringlichkeit des Gegners hatte Luther einen Schleier von den Augen gerissen: er übersah mit einem Male, wohin seine Gedanken führten. Die Heilige Schrift war einfach und doch geheimnisvoll, sie wurde verschieden gedeutet, sie mußte ausgelegt werden. Würde er die Auslegung des Papstes annehmen, wenn sie von der seinigen abwich? Er würde sie annehmen, wenn sie aus dem Geiste der Heiligen Schrift selbst geschöpft war, und ob sie das war, das entschied er selbst. Er allein also, ein armer Mönch, stellte sich gegen ein Gebäude von schauerlich-erhabener Massivität, das Jahrhunderte aufgetürmt hatten, damit es ewig dauere. Ob sie die Tragweite des Gesetzes mehr oder weniger überblickten, alle Anwesenden überlief ein Schrecken, und Luther selbst erschrak. Wenn seine Gegner sich den Sieg zuschrieben, hatten sie insofern nicht ganz unrecht, als Luther sich sprunghaft, vorstoßend und zurückweichend geäußert hatte. Aber er hatte doch durchaus keinen unsicheren Eindruck gemacht, im Gegenteil, man fand sein Auftreten stolz, kühn und vermessen. Wenn Eck, ein großer, starker Mann mit der etwas grobschlächtigen Gelenkigkeit des Gladiators und dem Pathos des Glaubenskämpfers üppig strömende Rede hinrollen ließ und Luther ihm gegenüber an dem Blumenstrauß roch, den er mitgebracht hatte, so bezeichnet die kleine Gebärde den Überlegenen, der dies alles schon hinter sich ließ, um was da gestritten wurde. Er hatte keinen Beifall von anderen, aber Klarheit über sich und was er wollte gewonnen.

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