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Die Auflösung

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Inhaltsverzeichnis

Stark, reich, sicher ruhend in der Herrlichkeit vollendeter Blüte, so schildert der junge Piccolomini, ein Italiener aus Siena, das deutsche Land, das ihm zweite Heimat wurde. Er schildert die deutschen Männer, die das Reiten fast eher als das Sprechen lernen, die als Knaben mit ihrem Pferde verwachsen, die das Schwert und die Lanze bewegen wie eigene Glieder, die so abgehärtet sind, daß sie jeder Strapaze, der Hitze wie der Kälte, spotten, die so mit Waffen ausgerüstet sind, daß sie auch beim unvorhergesehenen Angriff schlagfertig dastehen. Nirgends gibt es so reichhaltig ausgestattete Zeughäuser. Er schildert die fruchtbaren Äcker, die Weinberge, die Wiesen, vor allem aber geräumig und prächtig die deutschen Städte mit bequem eingerichteten Häusern, mit Kirchen voller Kostbarkeiten, mit Gasthäusern, in denen von silbernen Schüsseln gegessen und aus silbernen Bechern getrunken wird, mit einem geordneten Haushalt, in Friedlichkeit und Sauberkeit, wie sie sonst nirgends zu finden sind. Diese Städte, sagt der Italiener, der die altersgrauen Mauern seiner Heimat gewohnt ist, haben den Glanz der Jugend, sie sehen aus, als wären sie eben erst erbaut worden.

Dies scheinbar jugendschöne, jugendstarke Deutschland nun wurde von allen, auch von demselben Piccolomini, der es rühmte, als ganz und gar zerrüttet und einer Erneuerung dringend bedürftig angesehen. Um die Jahrhundertwende wird der Humanist Heinrich Bebel es schildern als ein erhabenes Weib im zerrissenen Gewande, so elend und herabgekommen, daß, wer es sieht, von Schauder und Mitleid ergriffen wird, wenn auch ein blendender Glanz von ihrem lorbeergekrönten Haupte ausgeht. In allen Kreisen wurde das Unhaltbare der Verfassung Deutschlands gefühlt und erkannt, und die Notwendigkeit der Reformation beschäftigte die Gebildeten; gelang sie nicht, so glaubte man den Zerfall und das Ende des Reiches vor Augen zu sehen. Auseinander fielen Kaisertum und Papsttum, die gemeinsam die Spitze des Reiches bilden sollten, auseinander fielen Kaiser und Reich, die, ursprünglich eins, nun als das monarchische Haupt und der Kreis der Fürsten sich feindlich oder wenigstens mit entgegengesetzten Interessen gegenüberstanden, auseinander fielen die Stände: Klerus, Adel, Städte und Bauern; ein bald schleichender, bald offener Krieg aller gegen alle war im Gange. Das Streben der Deutschen nach Unabhängigkeit hatte den Willen zur Gemeinsamkeit so überwuchert, daß nichts Ganzes bestehen konnte. Da erlebten die einzelnen, daß die erträumte Selbständigkeit, sowie sie erreicht war, Ohnmacht wurde, eine Erfahrung, die wohl erschütterte, ohne doch im allgemeinen Einsicht und Heilung zu bringen.

Den klarsten, überzeugendsten Reformplan tat ein großer deutscher Denker, einer der größten seiner Zeit, Nikolaus von Cusa, in seiner Schrift De concordantia catholica im Jahre 1433 entworfen. In Cues an der Mosel war er geboren, ein Graf von Manderscheid, dessen Namen zwei stolze Ruinen in der Eifel verherrlichen, nahm den Knaben auf, der, man weiß nicht warum, das väterliche Haus verließ, und schickte ihn auf die berühmte Schule von Deventer zur Erziehung. Später studierte er die Rechte und Mathematik in Padova, dann in Heidelberg; der Zufall, daß er infolge eines Formfehlers seinen ersten Prozeß, den er in Mainz führte, verlor, soll die Ursache gewesen sein, daß er in den geistlichen Stand trat.

Wie die meisten bedeutenden Geistlichen im Anfange des 15. Jahrhunderts hing Nikolaus von Cusa der Richtung an, die die durch ein Konzil vertretene Kirche über den Papst stellte. Er beklagte es, daß die Kirche zu einem römischen Patriarchat zusammengeschrumpft sei; einem allgemeinen Konzil, sagte er, müsse der Papst sich unterwerfen. Später kam er von diesen Ansichten ab; während er früher angenommen hatte, die Gewalt sei dem Papst von der Gesamtheit übertragen, sagte er nun, der Papst sei absolut und sein Prinzipat in der Kirche enthalten. Was jede demokratische Regierung erschwert, daß sich die Meinungen und Strebungen vieler vereinigen müssen, bevor man handeln kann, daß auch dann das Handeln nicht so schnell und straff vollzogen werden kann, wie es die Umstände manchmal erfordern, und es der menschlichen Ungeduld wünschbar erscheint, zeigte sich auf dem Konzil zu Basel und stimmte viele um: die Herrschaft der vielen erschien unbequemer und unleidlicher als die Herrschaft des einen. Als junger Mann jedoch glaubte Cusa, Einigkeit unter den Bischöfen würde leicht zu erreichen sein, und wollte die Autorität des Konzils von der Übereinstimmung aller abhängen lassen. Nur der allgemeinen Kirche, nicht dem römischen Bischof habe Christus den heiligen Geist und die Unfehlbarkeit verheißen. Auch das Kaisertum und die Rechte der Kurfürsten leitete er nicht vom Papst ab. Der Kaiser habe seine Macht durch die Wahl der Kurfürsten, die Kurfürsten hätten ihr Wahlrecht durch die gemeinsame Zustimmung der Reichsuntertanen. Erhaben über alle irdischen Mächte sei die Macht des christlichen Kaiserreichs, als ein Gottesreich stehe es ebenbürtig neben der Kirche. Seiner unvergleichlichen Macht halber heiße der Kaiser Dominus mundi, Schirmherr des orthodoxen Glaubens. So wenigstens sollte es sein; tatsächlich war die kaiserliche Macht verschlungen von den weltlichen und geistlichen Fürsten. In der Stärkung der kaiserlichen Zentralgewalt sah Cusa die Rettung des verderbten Reiches. Er ging zurück auf die blühenden Zeiten unter einem mächtigen Kaiser, die ihm gefestigter, vollendeter vorschwebten, als sie gewesen waren, die aber allerdings der herrschenden Anarchie als ein Vorbild majestätischer Ordnung gelten konnten. Damals scharten sich die Fürsten um den Kaiser und bildeten mit ihm zusammen das Reich, gaben mit ihm zusammen die Gesetze, die geachtet wurden, denen sich niemand, auch der Höchste nicht, entziehen konnte; ungehorsamen Fürsten nahm der Kaiser ihre Lehen. Fürsten, Grafen und Herren wußten, daß sie für ihre Tätigkeit verantwortlich waren; diese Abhängigkeit, durch die das Volk vor Gewalttat und Ungerechtigkeit geschützt war, ging verloren, als sich die Erblichkeit ausbildete und der hohe Adel nicht mehr zu fürchten brauchte, das Verliehene könne ihm genommen werden. Seit jeder unabhängig geworden war und ungehindert nur seinen Vorteil suchte, wurden die Gesetze nicht mehr geachtet; Cusa verglich sie Spinnweben, in denen sich nicht eine einzige Mücke mehr fängt. Der Gehorsam gegen die Gesetze, sagt er, müsse erzwungen werden können, und zwingen könne nur ein Mächtiger; dem Kaiser müsse ein Reichsheer zur Verfügung stehen, mit dem er das Reich nach außen verteidigen könne, das ihn im Innern gefürchtet mache. Schrecklich hatten die Hussitenkriege die Untauglichkeit der Reichsheeresverfassung offenbart. Die für die damalige Zeit, wo man Besteuerung als Zeichen der Knechtschaft ansah, heikele Frage des Aufbringens der Geldmittel zur Besoldung eines solchen Heeres löste Cusa durch den Vorschlag, sie aus den Zöllen zu ziehen, die vom Reich oder vom Kaiser den Fürsten verliehen seien. Nur auf ein ständiges Heer sich stützend könne der Kaiser wieder wie einst ein Erhalter der Freiheit, ein Schirm der Unterdrückten, ein Ahnder der Störungen des Friedens sein. Als verhängnisvollen Schaden bezeichnete Cusa die Zugeständnisse, die die Kaiser vor der Wahl den Kurfürsten zu machen pflegten, die sie hinderten, unrechtmäßig angeeignete Zölle aufzuheben und andere Ungerechtigkeiten abzustellen. Damit der allgemeinen Rechtlosigkeit gesteuert werde, wünschte er die Errichtung von Gerichtshöfen in allen Ländern des Reiches, an denen, entsprechend den drei Ständen, drei Richter zu fungieren hätten; sie sollten aus öffentlichen Mitteln besoldet werden. Die höchste Instanz bildete eine jährliche Reichsversammlung, der der Kaiser in Person oder, falls er verhindert sei, ein Kurfürst vorsitzen solle. Als Ort der Versammlung schlug er Frankfurt vor. Was sich die Gerichte hauptsächlich sollten angelegen sein lassen, sei die Abstellung des Fehdewesens, durch welches, seit ein jeder sich erlaube, auf eigene Faust, ohne vorausgegangenen richterlichen Spruch, Fehde anzusagen, das Reich verwüstet werde. Den Gerichten sollten die Geistlichen so gut wie die Weltlichen unterworfen sein, wenn es sich um weltlichen Besitz handele. Überhaupt erinnerte sich Cusa mit Genugtuung der Zeit, wo deutsche Kaiser auch in kirchlichen Angelegenheiten Bestimmungen trafen; wenn er die Meinung ausspricht, der Kaiser dürfe mit einem ihm unterworfenen Konzil es unternehmen, die Kirche zu reformieren, so schrieb er Sigismund eine Macht und einen Einfluß zu, wie sie kaum Karl der Große und Otto der Große besessen hatten. »O Gott«, ruft er aus, hingerissen von der Vision eines solchergestalt verjüngten Reiches, »wenn alle, die solchen Gedanken Beifall geben, auch zur Ausführung eilten, dann würde noch in unseren Tagen das Reich eine neue Blüte erleben!« Im innersten Herzen glaubte er nicht daran; prophetisch zürnend und trauernd malt er aus, wie es kommen werde. »Man wird das Reich in Deutschland suchen und nicht finden, und die Folge wird sein, daß Fremde unsern Boden an sich reißen, daß wir unter uns zerteilt werden und so unter die Botmäßigkeit einer fremden Nation kommen!« Ähnlich sagte der fränkische Ritter Gregor von Heimberg in einer Rede: »O blindes und unvernünftiges Deutschland, einen einzigen Kaiser weigerst du dich zu ertragen und unterwirfst dich dafür tausend Herren! Vielleicht ist schon das Ende unseres Ruhmes da! Denn keine Macht auf Erden läßt Gott auf ewige Dauer bestehen. Ich fürchte, ich fürchte, es kommen die Fremden und nehmen Land und Leute hinweg.«

Wäre es aber selbst bei mehr gutem Willen und geringerem Eigennutz aller Beteiligten möglich gewesen, das mittelalterliche Reich wieder zur Blüte zu bringen? Ließen sich die Verhältnisse zurückbringen, auf Grund deren Karl der Große, Otto der Große und Friedrich Barbarossa geherrscht hatten? »Keine Macht auf Erden läßt Gott auf ewige Dauer bestehen.« Alle Ideen, die sich unter Menschen, in einem Volke auswirken, wachsen, bis sie alles, was in ihnen lag, hervorgebracht und ausgebildet haben. Da das niemals alles sein kann, was in der menschlichen Natur oder in einem Volke als Keim liegt, werden sich ergänzende und entgegengesetzte Kräfte einstellen, die das Entstandene und zur Herrschaft Gelangte angreifen, desto heftiger angreifen und zersetzen, je mehr es einseitig auf die Spitze getrieben ist, wozu die herrschenden Ideen naturgemäß geneigt sind. So waren im Schoße des Reiches Kräfte erwachsen, die anfangs nicht beachtet oder als ketzerisch unterdrückt wurden, die allmählich in alle Lücken und Ritzen eindrangen, die das, was unerschütterlich schien, zertrümmerten, und in deren Frische sich das Alte als schadhaft, mängelvoll, sinnlos spiegelte. Nikolaus von Cusa beschwor den Kaiser Sigismund, seinen Plan ins Werk zu setzen. Aber war dieser Weltherrscher, dem niemand gehorchte, dessen Acht und Aberacht niemand vollzog, der sich das Geld für seine Wirtschaft zusammenborgen mußte, nicht eine lächerliche Person? Und war nicht ebenso lächerlich der Papst, der sich Gott gleich dünkte und auf einem Konzil wegen schändlicher Verbrechen abgesetzt, auf einem anderen überhaupt nicht mehr beachtet wurde? Und hatte nicht dies Konzil zu Basel die Hussiten, die ihres verbrannten Meisters Lehre bekannten und Deutschland verwüstet hatten, ehrenvoll empfangen, und hatte nicht der Papst sie vom Banne befreien und in die Kirche aufnehmen müssen?

Schon seit langer Zeit war es namentlich in den Städten üblich, die Pfaffen und Mönche wegen ihres unsittlichen Lebens zu verspotten und zu verachten, der Kirche Habgier und listige Ausbeutung der Deutschen zum Vorwurf zu machen. Bedeutungsvoller noch als solche Anfeindungen aber war das Aufkommen von Ansichten, die der kirchlichen Lehre widersprachen oder sich jenseits derselben bewegten. Nikolaus von Cusa, Bischof von Brixen und Kardinal, hatte Anschauungen, die von dem, was innerhalb der Kirche geläufig und gebräuchlich geworden war, weit abwichen. Als in Wilsnack eine geweihte Hostie aufgefunden wurde, an der sich Spuren des Blutes Christi gezeigt haben sollten, und daraufhin das Dorf ein besuchter Wallfahrtsort wurde, was die Fürsten duldeten, verbot Cusa die Wallfahrten und ließ die Hostie verbrennen, bevor noch die päpstliche Entscheidung erfolgt war. Er befahl den Geistlichen, dergleichen irreführende Wunder nicht zu verbreiten; denn der katholische Glaube lehre, daß der verklärte Leib Christi in verklärten Adern verklärtes Blut enthalte. In seinen Verordnungen gegen den Bilderdienst ging er so weit, daß er die Bilder ganz abgeschafft wissen wollte, wenn sich zeige, daß das Volk mehr an den Bildern hänge, als mit der gesunden Glaubenslehre verträglich sei. Er tadelte die Auffassung der Religion als einer Anstalt für Magie, wozu Volk und Geistlichkeit sie wetteifernd gemacht hätten. Über den Ablaß suchte er richtige Ansichten zu verbreiten und sprach seine Verwunderung darüber aus, daß die Geistlichen soviel Wesens davon machten, da doch ein zerknirschtes und demütiges Herz Vergebung aller Sünden habe. Mit solchen Auffassungen stand Cusa nicht etwa allein: der Grund zu ihnen wurde bei ihm wohl in der Schule von Deventer gelegt, die Gerhard Groot oder de Groot, der von 1340 bis 1384 lebte, gegründet hat. Dieser selbst war beeinflußt von seinem Freunde Heinrich Aeger von Kalkar und von Johann Ruysbroek, so genannt nach einem Dorf in der Nähe von Brüssel, wo er 1293 geboren war. Ruysbroeks Gedankengänge zielten nach Art der Mystiker auf ein Einswerden der menschlichen Seele mit Gott, wobei die Seele nicht in Gott zerfließe, sondern ihre Selbständigkeit behalte. Die beständige Vernichtung unseres Ich in der Liebe ist nach ihm das Wesen der Seligkeit. Das Zusammenleben der Brüder in Grünthal, einem Augustinerkloster, wohin Ruysbroek sich zurückgezogen hatte, machte solchen Eindruck auf Gerhard Groot, daß er nach diesem Muster in seiner Vaterstadt Deventer eine Genossenschaft junger Leute begründete, die ihren Lebensunterhalt durch Abschreiben von Büchern verdienten. Diese »Brüder vom gemeinsamen Leben«, die sich rasch ausbreiteten, unterschieden sich von den Mönchen durch Freiwilligkeit, von der Kirche schied sie ihre Gesinnung, ohne daß sie sich dessen bewußt waren oder darüber nachdachten. Der scholastischen Wissenschaft setzte Gerhard einen Unterricht entgegen, der von der Anschauung des Lebens ausging, etwa vom Leben der Heiligen, namentlich vom Leben Christi. In der Heiligen Schrift, deren Studium er für die wichtigste Aufgabe hielt, suchte er vor allem Christus, Christus als Vorbild und Gegenstand der Liebe, aus der, wenn sie im Menschen entzündet sei, das Gute hervorfließe. Dies, daß nur die göttliche Gnade selig mache, die das Herz mit Liebe erfüllt und aus der Liebe das Gute erzeugt, daß nicht vom Beichtvater vorgeschriebene gute Werke Verdienst erwerben und von Sünde reinigen können, war der Grundgedanke der »Brüder vom gemeinsamen Leben« wie auch vieler anderer Theologen, ein Gedanke, der den Ausgangspunkt und Mittelpunkt der reformatorischen Bewegung des 16. Jahrhunderts bilden sollte. »Ohne die Liebe Gottes und des Nächsten«, sagte der 1380 geborene Thomas a Kempis, »nützen keine Werke, wenn sie auch von Menschen gelobt werden, sondern sie sind wie leere Gefäße, die kein Öl haben, und wie Lampen, die in der Finsternis nicht leuchten.« Indem er so dachte und sprach, fiel es Thomas nicht ein, daß er damit die Kirche angreife oder gar außer ihr stehe; er ging, wie seine Gefährten, still seinen Weg an der Kirche vorüber, als wäre sie nicht da, die mit ihrer Macht und Pracht die Welt erfüllte. Dies gelassene Verkünden evangelischer Gedanken, als wären sie selbstverständlich, dies Nichtbeachten der Kirche hat vielleicht ihre Fundamente ebenso erschüttert wie der bewußte Angriff.

Von den Kämpfern war der bedeutendste Johann Ruckrath, nach der Stadt, wo er im Beginn des 15. Jahrhunderts geboren war, Johann von Wesel genannt, Doktor der Theologie, Professor in Erfurt, später Prediger in Mainz und Worms. Er verband scharfe Urteilskraft und unnachsichtige Logik mit streitbarem Temperament. Seine Kritik wendete sich gegen den im Jahre 1450 durch den Papst eingesetzten und in Deutschland durch Nikolaus von Cusa verkündeten Jubelablaß, im allgemeinen gegen die Entartung der Geistlichen und die Äußerlichkeit der kirchlichen Frömmigkeit. Gleich den »Brüdern vom gemeinsamen Leben« fand er im Evangelium nichts von Werkheiligkeit, sondern Christus und die aus ihm entspringende Liebe, die das Gesetz freiwillig erfüllt. »Denn eine andere Erfüllung des Gesetzes gibt es nicht, als daß die Liebe Gottes ausgegossen ist in das Herz der Menschen. Wer diese festhält, der ist mit Gott ein Geist geworden.« Anders aber als etwa Thomas von Kempen war er sich des Gegensatzes gegen die Kirche durchaus bewußt und rücksichtslos im Ausdruck seiner Kritik, wobei er vor dem Papst selbst nicht haltmachte. Man solle sich nicht schrecken lassen, sagte er, durch päpstliche Blitze, Verwünschungen und Verdammungen, die aus den Bullen – sie wären Papier und Blei – nur kalte Strahlen sendeten. Er starb, bald nachdem er zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt war, 1481 im Augustinerkloster zu Mainz.

In der geistigen Luft, die die »Brüder vom gemeinsamen Leben« umgab, war Nikolaus von Cusa erzogen, und von ihnen ist ihm wohl seine Auffassung von dem ewigen Geheimnis Gott und der Beziehung des Menschen zu Gott überkommen. Auch er dachte nicht an eine Trennung von der Kirche, nicht einmal an einen Gegensatz zu ihr. Den Hussiten hielt er vor, daß es diabolische Vermessenheit sei, eine Überzeugung bis zur Zerreißung der kirchlichen Gemeinschaft, bis zum Schisma durchführen zu wollen. Selbst wenn der Gebrauch des Kelches zu Recht bestehe, werde er zum Unrecht, sowie der Frieden und die Einheit der Kirche darunter leide. Auch insofern kann man ihn keinen Vorläufer Luthers nennen, als er von einem Sichberufen auf die Heilige Schrift nichts wissen wollte; die Heilige Schrift, sagte er, habe nur die Autorität, die die Kirche ihr zubillige. Eher könnte man ihn in mancher Beziehung einen Vorläufer moderner Denkungsart nennen. Wenn er die Bekenntnisse der nichtchristlichen Völker unter dem Aspekt vergleichender Wissenschaft betrachtete, wenn er fand, daß die menschliche Erkenntnis sich der Gottheit, dem unergründlichen Geheimnis, auf verschiedenen Stufen annähere, je nachdem sie von ihrem Lichte getroffen wird, und wenn er glaubte, daß, wenn dies einmal von allen eingesehen werde, ein allgemeiner Religionsfriede alle Völker vereinigen werde, so bereitete er eine Auffassung vor, wie sie erst Jahrhunderte später nicht das Gemeingut aller, aber die Errungenschaft einzelner Geister war.

Wie edel und weise nun aber diese Art zu denken sein mag, unendlich verschieden, wie Mondlicht vom Sonnenlicht verschieden ist, war sie von der religiösen Glut, die einst das Christentum im Abendland entzündete. Cusa mochte es an sich selbst erlebt haben, daß, wie er klagte, die Beschäftigung mit den Künsten und Wissenschaften den Geschmack am Worte Gottes und die Einfalt des Glaubens raube. Die Glut, sagt er, sei erkaltet. Der Gott solcher Denker war nicht mehr der mächtigste unter allen Göttern, der seinen Anbetern Sieg verleiht, das Christentum nicht mehr die Formel, die die Tore des Paradieses auch dem Sünder öffnet. Diese verfeinerte Religion war keine Magie mehr, und wurde sie dadurch auch von mancher düsteren Beimischung geläutert, so büßte sie doch an Jenseitszauber ein. Das Jenseits begann mit dem Diesseits zu verschmelzen. Das bedeutete Veredelung und zugleich Verarmung: auf Kosten des Himmels wurde die Erde ein angenehmer Aufenthalt.

Der eherne Marsch von der unendlichen Herrschaft Roms, dessen triumphierenden Klängen sich einst das Abendland gebeugt hatte, verlor seine Gewalt über die Seelen; ein anderer Gesang, stark, leidenschaftlich, süß, wurde in deutschen Landen angestimmt, der die europäische Welt verwandeln sollte, der Gesang von Freiheit und Gläubigkeit. Er brachte zunächst nur Wirrsal und beförderte die Auflösung. Die Reinheit und Kraft der Urkirche, die das Neue Testament so ergreifend darstellt, ließ sich sowenig wiederbringen, wie die kaiserliche Macht des frühen Mittelalters und damit die Einheit des Reiches sich erneuern ließ. Die Schwächung der bisherigen Ideale, des Himmels, wo alle Dunkelheiten in Klarheit sich lösen und alle Tränen versiegen werden, der Kirche, welche die irrenden Menschen zum Himmel leitet, des heiligen Reiches, das die Gerechtigkeit auf Erden zu verwirklichen und Frieden zu schaffen sucht, kam einer irdischen Macht zugute, nämlich dem Staat, den nicht der Kaiser, sondern den die Fürsten ausbildeten. Stimmte doch der junge Piccolomini der Ansicht des französischen Königs zu, das beste würde sein, von einem Konzil ganz abzusehen, anstatt dessen sollten die Fürsten zusammenkommen und alles bereden; die Kirche sei da, wo sich die Fürsten versammelten. Die Fürsten könnten, so meinte auch Piccolomini, selbst wider den Willen des Klerus das Friedenswerk vollziehen, denn der sei der Papst, dem die sämtlichen Fürsten huldigten. »Wir haben alle den Glauben«, sagte er, »den unsere Fürsten haben; würden diese Götzen anbeten, so würden auch wir dieselben anbeten, ja wir würden nicht bloß den Papst, sondern Christus selbst verleugnen, wenn es die weltliche Macht befiehlt.« Der, welcher das geschrieben hatte, wurde später selbst Papst und stattete sich als solcher mit ganz anderen Ansichten aus; aber es war ausgesprochen worden, weil Tatsächliches ihm entsprach. Die Kirche hatte das Reich bekämpft und erniedrigt, und das Reich riß im Sturze die Kirche mit sich in den Abgrund; der absolute Staat wurde der Erbe ihrer Ansprüche.

So war denn das Reich, war Deutschland auseinandergefallen. Das christliche Abendland, in dem Papst und Kaiser die Völker zu einer Einheit zusammengefaßt hatten, wie heftig sie sich auch bekriegen mochten, wurde zu einem Nebeneinander von Nationen, die sich eifersüchtig, mißtrauisch, gerüstet gegenüberstanden, ohne eine von allen anerkannte Macht über sich, die sie friedlich hätte verbinden können.

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