Читать книгу Gesammelte Werke von Ricarda Huch - Ricarda Huch - Страница 57

Der Zustand des Reiches im 15. Jahrhundert

Оглавление

Inhaltsverzeichnis

König Nobel beruft einen Reichstag, zu dem sich seine Vasallen, große und kleine, geistliche und weltliche, gehorsam einfinden. Da ist Braun der Bär, treuherzig brummend, obwohl er sich als der wahre König fühlt, Isegrim der Wolf, der unersättliche, Bellin der Schafbock, der des Königs Kanzlei, das Urkunden- und Schriftenwesen unter sich hat, Lampe der Hase, Hinze der Kater, Henning der Hahn und viele andere, und alle scharen sich in Ergebenheit um Nobel, der pompös auf dem Throne sitzt und eine von den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Fürsorge aufgeblähte Ansprache hält. Nicht erschienen ist Reineke Fuchs, weil er, vieler Missetaten und Gesetzesübertretungen sich bewußt, voraussieht, es werde ein übles Ende mit ihm nehmen. Alle Tiere, einige Fuchsverwandte, Dachs, Affe ausgenommen, hassen, fürchten ihn, der viel klüger und listiger ist als sie, und seine Listigkeit benutzt, um die kleinen zu fangen und die großen, plumpen Herrschaften in die ärgsten Ungelegenheiten zu verstricken. Es gelingt endlich, ihn zu Hof zu bringen, und schon ist ihm die Schlinge um den Hals gelegt, da kommt er noch einmal zu Worte und erweckt des Königs Gelüsten nach einem Schatz, den er irgendwo versteckt zu haben vorgibt. Argwöhnisch verlangt Nobel, daß Reineke selbst ihn zur Stelle geleite; aber Reineke wendet vor, daß er im Bann sei und daß es sich für die Majestät des Königs nicht zieme, sich mit einem Gebannten öffentlich zu zeigen; er wolle zuerst nach Rom gehen und sich vom Banne lösen. Das leuchtet Nobel ein; denn mit den römisch-päpstlichen Angelegenheiten ist nicht zu spaßen.

Nobel trägt seine Löwenperücke mit so viel Würde, und die gefährlichen Vasallen agieren ihre Dienstbeflissenheit und schwärmerische Verehrung für das Oberhaupt so glatt, daß wir ein Bild der Eintracht und wohlerworbener Rechte vor uns sehen. Im Grunde sind sie allesamt räuberische Bestien, je stärker, desto skrupelloser, während die Schwachen, Kleinen, die es gern den Mächtigen gleichtäten, durchzuschlüpfen suchen, wie es eben geht. Nobel treibt es in seinem Bezirk so wie sie; wenn er als König inmitten seiner Großen auftritt, deren er nicht Meister werden kann, hat er etwas Hohles, etwas von einer grimmigen Larve an sich, hinter der ein ratloser Schwachkopf steckt, und seine Neigung gilt eigentlich dem Schelm Reineke, dessen erfinderische Schliche ihm zugute kommen könnten, wenn es den großen Hansen einfallen sollte, die Zähne gegen ihn zu fletschen.

Eine bewundernswerte Dichtung ist das auf uralter Tiersage aufgebaute Epos von Reineke Fuchs, das um das Ende des 15. Jahrhunderts in niederdeutscher Sprache aufgezeichnet wurde. Kaum ist eine beißendere Satire denkbar, die die höchsten Gewalten im Reich im Bilde gefräßigen Viehs erscheinen läßt, zugleich aber so kindlich gutartig, so naturgemäß, so spielerisch treffend und vor allen Dingen so lustig, daß eine satirische Absicht kaum empfunden wird. Können doch Kinder das Gedicht wie ein Märchen lesen. Nur an einer einzigen Stelle trägt es den Zorn des Verfassers über den Künstler davon, als er Reineke sich über die verrotteten Verhältnisse am päpstlichen Hofe aussprechen läßt, und dem Affen Märten, der mehrere Jahre hindurch Schreiber bei einem Bischof war und in Rom gut bekannt ist, Beziehungen zum Doktor Greif, zu den Herren Losefund, Wendemantel, Schalksund hat, eine Schilderung des schändlichen Treibens an der Kurie in den Mund legt.

Man schwätzt dort wohl vom Recht sehr viel;

Ja Quark! Geld ist das was man will!

Ist eine Sache noch so krumm,

Mit Geld dreht man sie bald herum.

Wer blechen kann, für den wird Rat.

Weh dem, der nichts im Säckel hat.

Bei allem Spott und Zorn, die das Gedicht erfüllten, ist doch etwas ererbte Anhänglichkeit an Papst und Kaiser geblieben: der Papst ist ein armer alter Mann, der nichts von den Greueln weiß, die um ihn her im Schwunge sind, der Kaiser ist fromm und gut, wenn auch zu schwach, um das Böse zu hindern.

Die beiden von Gott eingesetzten Mittelpunkte der Ellipse ließ man gelten, außer ihnen fast nichts mehr von dem, was einst unerschütterlich gültig gewesen war.

Ursprünglich aus den fünf Stammesherzogtümern Franken, Sachsen, Schwaben, Bayern, Lothringen bestehend, teilte sich das Deutsche Reich gemäß dem deutschen Hange nach individueller Besonderheit und Unabhängigkeit allmählich in einzelne selbstständige Herrschaften, deren es mehr als dreihundert gab. Aus der Reihe der Fürsten sonderten sich zuerst durch Gewohnheit, dann durch Gesetz als bevorzugt und einflußreich die sieben Kurfürsten, auf die sich das Recht der Kaiserwahl beschränkt hatte und denen gleichzuwerden die Standesgenossen eifersüchtig strebten. Der niedere Adel der Grafen und Herren konnte hoffen, gefürstet zu werden; hatten doch mehrmals Grafen den kaiserlichen Thron bestiegen. Hoher und niederer Adel teilten sich in den Besitz der zahlreichen geistlichen Bistümer, Abteien und Propsteien, die sich reich und ansehnlich zwischen den weltlichen ausbreiteten. Überall verstreut hausten in ihren Burgen die Ritter, als Kinder schon mit dem Pferd verwachsen, mit der Waffe vertraut, verpflichtet, dem Kaiser auf seinen Kriegszügen zu folgen. Als ein im Range niedrigeres, aber durch Tüchtigkeit und Reichtum ausgezeichnetes Element erblühten daneben die Reichs- und Freistädte, Sitze einer ebenso gebildeten wie gewerbstätigen und kriegerischen Bürgerschaft, mit denen manche Landstadt, obwohl dem Namen nach irgendeinem Fürsten untertan, an Selbständigkeit wetteiferte. Die Freiheit der Landgemeinden ging unglücklicherweise bald unter, nur wenige im Gebirge und am Meere erhielten sie oder erwarben sie in schweren Kämpfen wieder; immerhin beruhte die Dienstbarkeit der Bauern auf Verträgen, welche die gegenseitigen Rechte und Pflichten von Herrschaft und Untertan regelten, so daß eigentliche Leibeigenschaft nicht vorkam. Die Spitze des reichgegliederten Körpers bildeten zwei Häupter, Papst und Kaiser, die die Staatslehre mit Sonne und Mond zu vergleichen pflegte. Beide waren auf der Höhe des Mittelalters grundsätzlich absolut, nur von Gott abhängig, tatsächlich aber mannigfach beschränkt, sowohl durch die Beziehung zu ihren Wählern wie durch ihre Beziehung zueinander, die wie alles in diesem lebendig strömenden Gebilde nur durch Gewohnheit oder durch auf den jeweiligen Fall berechnete Bestimmungen geregelt wurde. Beide strebten nach Unabhängigkeit voneinander und nach Herrschaft übereinander, woraus sich ein dauernder, nur gelegentlich durch Friedensschlüsse unterbrochener Kampf ergab, unendlich, weil diese beiden Mächte durch ihre Stellung im Reich unauflöslich miteinander verbunden und einander unentbehrlich waren. Wenn der Papst die Fülle der geistlichen Macht besaß, so nannte sich der Kaiser Herr des Erdkreises, dominus mundi, insbesondere war er Herr des Reiches, Inhaber des gesamten Bodens und aller Rechte, was alles er besaß, um davon auszuteilen; es strömte von ihm aus, um wie zum Herzen des Körpers zu ihm zurückzufließen. Diejenigen, welche am meisten Empfänger seiner Gnaden waren, trachteten, je reicher sie wurden desto mehr danach, unabhängig und selbständig zu werden, und wurden dadurch zu einer dem Kaiser entgegenwirkenden Macht. Indem sie sich auf den stets zur Intrige bereiten Papst stützten und sich mit sehr wirksamen geistigen Waffen ausrüsteten, waren sie ihm oft überlegen, und der Herr des Reiches mußte sich dies Reich mit der Waffe erobern.

Wie auf dem Papst die Einheit des Glaubens, so beruhte auf dem Kaiser die Einheit der inneren und äußeren Politik. Das Zusammenwirken der Reichsglieder wurde bewirkt durch die Gefolgschaft, die bei Reichskriegen dem Kaiser zu leisten war, und durch den Reichstag, auf dem allerdings nicht alle Stände vertreten waren: die Bauern und Ritter fehlten ganz, die Städte wurden nur dann zugezogen, wenn die Fürsten ihrer bedurften; erst gegen das Ende des Mittelalters erreichten sie die eigentliche Reichsstandschaft, und auch dann nicht unbestritten.

Wie im menschlichen Körper geistiges und leibliches Leben einander stetig durchdringen, so verband sich im Körper des Reiches kirchliche Betätigung mit jeder staatlichen und gesellschaftlichen; in Krieg und Frieden, in Handel und Handwerk, auf dem Markt und beim Geldverkehr, im Hause und im Stalle leuchtete die goldene Ader des Ewigen auf, das Alltagstreiben der menschlichen Begierden adelnd. Soweit es auf Erden möglich ist, kann man von dem Reich sagen, daß es in seiner Mannigfaltigkeit und Gelenkigkeit, in der Fülle seiner aufeinander bezogenen Individualitäten, die Sternen und Sternbildern gleich durcheinanderschwärmten und sich gelten ließen, in der Großartigkeit und Freiheit seiner Anlage, wo es ohne Zwang stetigen Umschwung um den Mittelpunkt, ohne mechanische Verkettung Zusammenhang gab, wo Macht sich segensreich ausblühen konnte, weil keine ohne gegenwirkende Macht blieb, den Kosmos spiegelte.

Dasselbe kosmische Allumspannen, wie dem staatlichen Teil des Reiches eigen war, zeichnete den kirchlichen aus. Wie der Staat republikanische, monarchische, aristokratische und demokratische Bildungen in sich duldete, ja aus sich hervorbrachte und ineinandergreifen ließ, so litt die Kirche die verschiedensten Ausprägungen der Beziehung zum Göttlichen. Sie pflegte die Askese und Weltabgeschiedenheit der Mönche neben der Pracht und Weltfreudigkeit der Weltgeistlichen, nebeneinander die ackerbautreibenden und die gelehrten Klöster, die Prediger und die Bettelmönche, sie schützte die freien Vereinigungen von Männern und Frauen, die im Nordwesten des Reiches entstanden, gegen die Angriffe der Fanatiker, sie schonte die Frömmigkeit der Mystiker, die auf dem Wege der Verinnerlichung oder der Ekstase die Vereinigung mit Gott suchten, und schritt erst dann gegen sie ein, wenn sie die Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf zu verwischen, Gottverwandtschaft mit Gottgleichheit zu verwechseln schienen. Auch über die große Masse derer, die ganz in der Lust oder den Sorgen der Welt aufgingen, wenig um den Willen Gottes bekümmert, ließ sie die segnende Sonne leuchten, zufrieden, wenn sie die vorgeschriebenen Gebräuche mitmachten und Glieder des geheiligten Körpers blieben, innerhalb dessen sie von dem Strom der göttlichen Gnade, der ihn durchflutete, ergriffen werden konnten. Gehorsam gegen den Organismus, der der Idee nach die gesamte Christenheit umfaßte und in dem allein die Seligkeit erlangt werden konnte, war das einzige, was die Kirche unbedingt von jedem verlangte: es war gleichbedeutend mit dem Gehorsam gegen Gott. Ungehorsam war Ketzerei, die unerbittlich bestraft wurde; denn mit der Ausrottung des Ketzers war eigentlich nur die Verdammnis vollstreckt, der derjenige, welcher aus der Kirche heraustrat, verfiel. Diesen unbedingten Gehorsam nun, der der Kirche geschuldet wurde, nahm mehr und mehr der Papst als Inhaber der kirchlichen Gewalt für sich in Anspruch. Während Kaiser und Reich, anfangs eine Einheit, im Verlauf des Mittelalters immer mehr auseinandertraten und sich sogar gegeneinander wenden konnten, verschlang der Papst die Rechte der Kirche in seine Person. Der Papst war die Kirche, der Kaiser war keineswegs das Reich; insofern entwickelte sich die Stellung des geistlichen Herrn des Erdkreises umgekehrt wie die des weltlichen. Es war, als ob das ewige Rom seinen gegenwärtigen Herren den Imperialismus der Cäsaren mitteilte, deren Nachfolger sie sich mit ganz anderer Berechtigung hätten nennen können als die deutschen Kaiser. Zwar war die Macht des Papstes eine rein geistige; aber gerade deshalb konnte keine Überlegenheit der Waffen sie vernichten. Weil das Abendland an ihn glaubte, konnte er seine Könige gegeneinander ausspielen und konnte er innerhalb der Kirche Kardinäle und Bischöfe, die ursprünglich seinesgleichen waren, seiner Herrschaft unterwerfen.

Diesem wie ein gigantischer Baum gewachsenen Reichskörper war die Neigung zum Verwildern, die nach einem Worte Goethes der Natur eigen ist, die Neigung zur Ausartung und Entartung angeboren. Nur in einzelnen Höhepunkten seiner Geschichte erfüllte er seine Idee ganz; sehr bald machten sich störende, zerstörende Schäden bemerkbar. Jede menschliche Einrichtung erfordert, um sich blühend und fruchtbar zu erhalten, den immer neuen Einsatz menschlicher Kräfte unter der Führung der Idee, die sie entstehen ließ. Ist es immer selten, daß ein solcher dauernd erfolgt, so standen ihm gewisse Eigenschaften der Deutschen besonders im Wege: Streben nach Unabhängigkeit und maßloses Wuchernlassen aller Triebe auf der einen Seite, auf der anderen Bequemlichkeit, die lieber Lasten trägt, als sich wehrt. Das Verfolgen eigener Interessen auf Kosten der Gesamtheit nicht selten bis zum Verrat, woran fast alle Reichsstände, hauptsächlich die höchsten und mächtigsten, sich gewöhnten, und die Unfähigkeit der kaiserlichen Zentralgewalt, die der stete Kampf mit dem Papst lähmte, sich Gehorsam zu verschaffen, führten dahin, daß die Reichsglieder nur noch mit Mühe und oft gar nicht zu einem produktiven Zusammenwirken zu bringen waren. Anstatt dessen drohte der Krieg aller gegen alle.

Allen Forderungen des Kaisers mißtrauisch gegenüberstehend, gingen die Fürsten ganz auf in dem Streben, aus den vereinzelten Gebieten und Rechten, die ihnen zustanden, ein zusammenhängendes Territorium zu bilden, dessen unumschränkte Herren sie wären. Dabei standen ihnen im römischen Recht erfahrene Räte zur Seite, die das fein durchdachte, der Zentralisierung günstige fremde Recht auf die fließenden Verhältnisse des Reiches anwendeten, bei dem es mehr als auf Herrschaft auf zu erkämpfende Ausgleichung ankam. Noch waren sie fern davon, eine absolute Herrschaft über ihre Untertanen ausüben zu können: die Geistlichen, Herren, Ritter und Städte, die ihr Gebiet umfaßte, hatten sich im Maße, wie die Lehensbeziehungen an Kraft verloren, zu den sogenannten Landständen vereinigt, ohne deren Zustimmung der Fürst weder Steuern erheben noch Krieg führen konnte. Neben den Landständen stellte sich dem Machtstreben der Fürsten das Gegengewicht der Reichsritter und Reichsstädte entgegen, deren Selbständigkeit durch sie bedroht war. Wie es dem Fürsten untertänige Landstädte gab, so gab es auch landsässige Ritter; die Reichsritter, unmittelbar dem Kaiser unterstellt, eingeteilt in eine fränkische, eine schwäbische und eine rheinische Gruppe, waren stolz darauf, selbständige Reichsstände zu sein wie die Fürsten, und hätten ihre Herrschaft, mochte sie noch so armselig sein, nicht gegen ein reichlicheres Dasein in der Untertänigkeit unter einem Fürsten getauscht. Vereinigt hätten Reichsritter und Reichsstädte vielleicht etwas gegen die Fürsten ausrichten können; allein zwischen ihnen bestand ein ebenso scharfer Gegensatz wie zwischen ihnen beiden und den Fürsten, da die verarmende Ritterschaft die reich gewordenen Bürger haßte und verachtete und sich nicht selten an ihnen schadlos zu halten suchte.

Das deutsche Recht gab jedem freien Manne die Befugnis, den, von dem er sich verunrechtet glaubte, zu befehden, wenn er bei den zuständigen Gerichten vergeblich Recht gesucht hatte. Als nun die Ritterschaft infolge der veränderten Kriegsweise überflüssig und zum Teil infolge wirtschaftlicher Veränderungen arm geworden war und auf ihren Burgen wie in Wolfshöhlen ein verwildertes Dasein führte, benutzte sie wohl das Fehderecht, nicht um sich Recht zu verschaffen, sondern um unter dem Vorwand der Fehde Angehörige des bekämpften Gebietes zu überfallen und zu berauben und sich von der geängstigten Herrschaft den Frieden abkaufen zu lassen.

Da zu diesen Fehden noch die Kriege kamen, die der Kaiser führen mußte, um sich Gehorsam zu erzwingen, und die die Fürsten untereinander führten, um ihre Besitzungen auszudehnen, gab es jederzeit irgendwo im Reiche Krieg, wurde bei der Art der damaligen Kriegführung irgendwo deutsches Land verwüstet. Denn die Kriege bestanden hauptsächlich darin, daß die dem Gegner gehörenden Dörfer geplündert und verbrannt, seine Untertanen vertrieben, getötet, verstümmelt wurden. Die schrecklichsten Folgen des Krieges hatten demnach die Bauern zu tragen, die er gar nichts anging. Überhaupt war die Lage des Bauernstandes ein besonders häßlicher Makel im Bilde des Reiches.

Längst mit wenigen Ausnahmen vom Kaiser durch die Mittelmächte getrennt, hatten die Bauern keine Möglichkeit, bei einem höheren Gericht gegen Bedrückung Schutz zu suchen. Steuern zahlen zu müssen wurde von den Deutschen als Zeichen der Knechtschaft betrachtet, von Adel und Geistlichkeit mit Entrüstung abgelehnt, einzig in den Städten bestand ein ausgebildetes Steuerwesen. Der geistliche und der weltliche Adel nährten sich hauptsächlich von den Leistungen und Abgaben der Bauern, die allerdings während des Mittelalters nicht allzu hoch waren, aber gesteigert wurden, als die Lebenshaltung anspruchsvoller wurde. Aber nicht nur, daß das schwächste Glied des Reiches die Pyramide tragen mußte, es wurde ihnen nicht Dank, sondern Verachtung zuteil, wie denn immer der Stärkere den Schwächeren erst auszunützen und herabzudrücken und, wenn die Knechtung gelungen ist, als geborenen Sklaven zu verhöhnen pflegt. Nur um Anforderungen des Kaisers abwehren zu können, gedachten die Fürsten und Herren wohl des armen Mannes, wie der Bauer genannt wurde, der ohnehin unter Lasten fast zusammenbräche und nicht noch mehr beladen werden könne.

Ein bedrohliches Zeichen war es, daß der Umfang des Reiches nicht nur nicht mehr wuchs, sondern daß auf allen Seiten von ihm abbröckelte. Italien löste sich fast ganz ab, es blieb nichts übrig als einige leere Ansprüche, die hie und da ein Kaiser geltend machte, der Osten war durch Hussiten und Türken bedroht, denen nur kümmerlich widerstanden wurde, geschweige denn, daß es zu einem erfolgreichen Gegenangriff gekommen wäre. Wo war die einst so gefürchtete Kriegstüchtigkeit der Deutschen geblieben, die doch auf diesen Ruhm hin die höhere Bildung der romanischen Nachbarn geringschätzen zu dürfen glaubten? Die Ritter hielten sich zwar für befreit von allen Lasten, weil sie mit ihrem Blut steuerten, wie sie sagten; aber sie entschuldigten sich nun oft, wenn der Kaiser sie rief, mit ihrer Armut, die es ihnen unmöglich mache, Pferd und Harnisch zu halten; die Fürsten fürchteten Überfall von Seiten ihrer Feinde, wenn sie abwesend wären, und außerdem hatte der Süden kein Interesse für die Bedürfnisse des Nordens, der Westen keines für die des Ostens. Niemand rührte sich, um den Übergang der Lande des Deutschen Ordens an das Königreich Polen zu verhindern, im Norden hielt sich die Hansa mühsam gegen Skandinavien und Holland, im Westen zog das Herzogtum Burgund die blühenden Niederlande an sich. Frankreich, von jeher der eifersüchtige Nebenbuhler, drängte mit Macht an den Rhein, strebte offen nach der Kaiserkrone und machte die rheinischen Fürsten mit Geldzuwendungen von sich abhängig. Denn wie allmählich die Naturalwirtschaft in Geldwirtschaft überging, die Ansprüche an die Bequemlichkeit des Lebens und die Lust am Luxus zunahmen, ergriff gerade in Deutschland, wo noch wenig Geld im Umlauf war, eine unbändige Gier nach Geld alle Kreise. »Ja Quark! Geld ist das, was man will«, der Vers des Affen Märten galt nicht minder für Deutschland als für Rom. Man zog es sich gegenseitig aus den Zähnen, schabte es sich von den Knochen und hätte es der Hölle aus dem Rachen gerissen.

Die Deutschen haben einen ausgeprägten Sinn für Gemütlichkeit an reichbesetzter Tafel, für langausgedehntes Sichauslärmen beim Trunk. Nicht nur ihre Zunge genießt, ihre seelische Schwerfälligkeit verlangt nach Berauschung. Auch in der Liebe sind sie ausschweifend, obwohl ihnen das vulkanische Sinnenfeuer der südlichen Völker abgeht; Mann und Frau mögen den traulich-zärtlichen Umgang miteinander nicht missen. Diese Eigenschaften führten bald zu einer Erweichung der strengen Ordensregeln in den deutschen Klöstern. Mit der Einführung unnachsichtiger Askese hatten die Vertreter reformatorischer Richtungen, die von Zeit zu Zeit auftraten, im allgemeinen kein Glück; die deutschen Mönche widersetzten sich oder liefen fort. Vollends als in allen Kreisen das Leben reicher und lockerer geworden war, gaben sich auch die Insassen der Klöster ohne Bedenken dem Wohlleben hin. Es kam vor, daß in den Männerklöstern kinderreiche Familien hausten, daß Frauenklöster Bordellen glichen. Nahmen nun die Sittenrichter schon an den Ausschweifungen der Weltleute Anstoß, um wieviel mehr empörten sie sich über diejenigen, die, auf ein heiligmäßiges Leben pochend, Verehrung beanspruchten, während sie sich wie Schweine im Kot des Lasters wälzten; denn das sagte man ihnen nach. Besonders in städtischen Handwerkerkreisen, wo Ehrbarkeit vorherrschte, war die Entrüstung über das Treiben in den Klöstern lebhaft. Es kam dazu, daß die Städte den Klöstern alle die kulturellen Aufgaben, die sie im frühen Mittelalter so großartig erfüllten, abgenommen hatten, und die überflüssig gewordenen nun nicht als Wohltäter, sondern als Störenfriede ansahen. Arbeiteten die Klosterleute nicht, so beschimpfte man sie wegen Müßigganges, aber viel schlimmer war es, wenn sie arbeiteten; denn das betrachteten die Handwerker als Eingriff in ihre Zunftrechte. Nach allen Seiten erregten sie Feindschaft und Eifersucht; die Pfarrer verboten ihnen zu predigen, die Handwerker zu arbeiten, sogar das Recht, die Toten in ihren Kirchen zu begraben, wurde ihnen bestritten. Es gab im 15. Jahrhundert kaum eine verachtetere und verhaßtere Menschenklasse als die Klostergeistlichkeit.

Innerhalb des Klerus gab es verschiedene Spaltungen. Nicht nur bekämpften sich einige Orden untereinander, wie die Franziskaner und Dominikaner, die Weltgeistlichen verachteten die Mönche als Dummköpfe, die Mönche warfen jenen wohl Ketzerei vor. Der niedere Klerus, auf dem alle Pflichten des Amtes lasteten, blickte mit Bitterkeit auf die Bischöfe und Domherren, die hohe Einkünfte auf weltliche Art verzehrten, während sie, die die Arbeit leisteten, sich ärmlich behelfen mußten. Die Bischöfe ihrerseits ertrugen widerwillig die Einmischung des Papstes und seufzten über die Abgaben, die er von Zeit zu Zeit verlangte.

Am bedenklichsten für die Kirche war, wie sehr die Ehrfurcht vor dem Papst nachgelassen hatte. Gerade die Finanzwirtschaft des Heiligen Stuhles erregte Ärgernis. Seit die Päpste die Prozesse aus aller Welt, weltliche und geistliche, vor ihr Tribunal zogen, in allen Händeln Schiedsrichter sein wollten, brauchten sie viel Geld und suchten es sich, da ein geregeltes Steuerwesen nicht durchzusetzen war, unter allen erdenklichen Vorwänden zu verschaffen. Allein wieviel auch zusammenfloß, es genügte nicht für die zahllosen Geschäfte, Kriege, Bauten, Geschenke, Bestechungen, so daß immer neue Ablässe und Türkengelder aus den Taschen der Gläubigen und Gehorsamen, und das waren doch am meisten noch immer die Deutschen, gezogen werden mußten. Und wie sehr war das politische Ansehen des Papstes gesunken, seit er die Hohenstaufen gestürzt hatte! Frankreich, auf das er sich gestützt hatte, suchte ihn seinen Interessen dienstbar zu machen, rückte in die einstige Stellung der Kaiser rücksichtsloser ein. Die Abhängigkeit und der lange Aufenthalt in Avignon schwächten das päpstliche Ansehen und führten schließlich zu einer Spaltung der Kirche, dem Schisma. Der merkwürdige Umstand, daß es einmal zugleich drei Päpste und drei Kaiser gab, veranschaulichte aller Welt die furchtbare Zerfallenheit des Reiches. Noch einmal konnte freilich Siegmund, längstvergessene Kaisergewalt ausübend, die Absetzung oder den Verzicht dreier Päpste und die Wahl eines neuen zuwege bringen, nicht aber die Reformation, die allgemein, hauptsächlich von Deutschland gefordert wurde! Nachdem auch das Konzil von Basel versagt hatte, befand sich der Papst von neuem auf dem Wege zu monarchischer Allgewalt.

Das Verlangen nach Reformation wurde öffentlich, durchaus unter dem Schutz der Gesetze erhoben, vom Kaiser, von vielen abendländischen Fürsten, von den Prälaten, von den Universitäten, vom Volke; außerdem aber gab es einen unterirdischen Angriff auf die Kirche, den der Ketzer. Zu den Ketzern des 13. Jahrhunderts, den Sekten vom freien Geist, den Arnoldisten, die von den Gesetzen und Zeremonien des Papsttums nichts wissen wollten, zu den Waldensern, die man die Bibelgläubigen nannte, kamen im 15. Jahrhundert die Hussiten, die sich besonders in den Böhmen benachbarten Gebieten ausbreiteten, vielfach verschmelzend mit den Waldensern. In der großen, reichen und gebildeten Stadt Nürnberg hatten die Hussiten viel heimliche Anhänger; war doch Huß auf seiner verhängnisvollen Reise nach Konstanz in Nürnberg mit Ehren empfangen worden. Würzburg und Bamberg, wo die Stadt uneins mit ihrem Bischof zu sein pflegte, waren zuweilen voll von Ketzern. Den größten Bestandteil der Sekten bildeten die Handwerker, stille fleißige Leute, denen nichts Böses nachzusagen war, als daß sie vor lauter Arbeiten, Lehren und Lernen nicht genug zum Beten kämen. Aber auch ein Markgraf von Brandenburg wurde hussitischer Ketzerei verdächtigt, und auf dem Baseler Konzil wurde einmal die Befürchtung ausgesprochen, es würden sich, wenn man nicht bald und durchgreifend reformiere, alle Bauern zu den Hussiten schlagen. Denn die Hussiten wollten nicht nur eine kirchliche, sondern auch eine soziale Revolution; Tausende von hoffenden Menschen scharten sich im Jahre 1476 um den jungen Pfeifer von Niklashausen im Taubergrund, der ihnen eine paradiesische Republik vormalte, wo alle Menschen durch die Aufteilung der geistlichen Güter gleich und glücklich sein würden, nachdem man die Pfaffen totgeschlagen hätte.

Es gibt jederzeit in den staatlichen und kirchlichen Einrichtungen Schäden, die bekämpft werden, die vielleicht auch zu ernstlichen Beeinträchtigungen führen; sie gehören zu den unlöslichen Resten des Lebens und können mitgetragen und ausgeglichen werden, wenn die Grundlage des Gesamtorganismus fest und seine Konstruktion im allgemeinen gesund ist. Im 15. Jahrhundert aber war das Reich, das mittelalterliche Gottesreich, in dem Kirche und Staat ineinander verflochten waren, so durch und durch im Verfall, daß die Notwendigkeit einer Wiederherstellung offenkundig war. Die Reformation an Haupt und Gliedern, wie man es nannte, war die Aufgabe der Zeit. Fürsten und Volk, Priester und Laien, Gelehrte und Ungelehrte sprachen davon und gaben sich damit ab. Man lebte im Reich wie in einem sehr alten Bau, wo man zuweilen bei Nacht ein schauerliches Rieseln im Gemäuer zu hören und ein Schwanken unter den Füßen zu spüren glaubte.

Gesammelte Werke von Ricarda Huch

Подняться наверх