Читать книгу Neuseenstadt 2040 - Ricarda Stöckel - Страница 7

PROLOG

Оглавление

Die Frage des Mannes haute mich um. Ich fühlte mich am Ende. Nutzlos, arbeitslos, krank. Zwar hatte ich im Frühjahr 2005 meine Krankheit größtenteils überwunden und der Arzt versprach mir bessere Zukunftsaussichten. Was für eine Zukunft?

Seit dem bösen Spiel meiner besten Freundin hatte ich alles verloren.

Dann war die Krankheit ausgebrochen, von der ich mich wie durch ein Wunder langsam erholte. Doch wohin sollte mich mein Weg führen, wenn ich als Ziel nur ein großes schwarzes Loch sah? Was hatte das alles für einen Sinn, wenn mein ständiger Begleiter Einsamkeit hieß?

Mit diesen Gedanken starrte ich auf die glitzernden Wellen des Sees, einer der Bergbaufolgeseen, die dem Leipziger Südraum den Namen »Neuseenland« gegeben hatten. Viele Jahre hatte ich verfolgt, wie sich aus dem ehemaligen grauen Tagebaugelände diese Erholungslandschaft entwickelte. Plötzlich spürte ich, wie sich ein klein wenig Freude durch den Gedankenmorast kämpfte. Ich bemerkte den Mann, der mich von der Nachbarbank aus fixierte. Die kleine Freude kam an der Oberfläche an und entwickelte sich zu der erstaunlichen Vorstellung: Ich bin ja doch noch attraktiv, wenn mich ein Mann so beobachtet!?

Mein Herz machte einen Sprung, als er sich erhob, zu meiner Bank schlenderte und fragte: »Darf ich mich zu Ihnen setzen und Sie etwas fragen?« Eine angenehme tiefe Stimme, deren Klang mich an meinen Frankfurter Schwiegersohn erinnerte. »Ja, bitte«, sagte ich und schaute ihn voller Erwartung an, während ein Duft nach Aftershave meiner Nase schmeichelte. Und dann kam die Frage. Alles hatte ich erwartet, doch nicht: »Würden Sie in ein Altersheim ziehen?«

Die Wellen auf dem See kräuselten sich stärker. Der Wind blies auf meine nackten Arme, die sich mit Gänsehaut überzogen. Mein Gesicht glühte und ich drehte mich von dem Blonden weg, um meine schwarze Strickjacke aus der Tasche zu holen.

Von wegen jung und attraktiv! Wie hatte ich mir bloß einbilden können, der Fremde würde mit mir flirten wollen? Eine Unverschämtheit, diese Frage: Ich war fünfundfünfzig Jahre alt. Natürlich zu alt, das hatten sie mir schon vor einem Jahr beim Rauswurf aus der Firma zu verstehen gegeben. Unnütz, alt, ungeliebt – der Sumpf in meinem Kopf hatte den kecken freudigen Gedanken bereits wieder verschlungen. Was bildete der Kerl sich ein? Wollte er provozieren?

»Finden Sie mich so alt und hinfällig?« Ich legte eine Portion Wut in meine Antwort. Doch der Mann, der bestimmt auch schon länger den vierzigsten Geburtstag hinter sich hatte, ließ sich nicht beirren. »Ich sollte mich wohl erst einmal vorstellen: Enrico Sommer ist mein Name. Ich finde nicht, dass Sie alt aussehen, im Gegenteil. Ich frage aus einem beruflichen Grund. Warum möchten Sie auf keinen Fall in ein Heim ziehen?«

Die Mischung aus Freundlichkeit und Sachlichkeit in seiner Stimme besänftigte mich. Eine einfache Frage, die Antwort verlangte: »Um Himmels Willen, so ein Altenghetto ist doch furchtbar. Nur mit Siechtum und Tod konfrontiert zu werden, das ist kein Leben, da geht man ein wie eine Primel, selbst wenn man noch nicht krank ist!«

»Ich habe andere Erfahrungen gesammelt«, sagte der Fremde immer noch mit ruhiger Stimme. »Aber sagen Sie mir doch, wie Sie sich wünschen, im Alter zu wohnen, wenn Sie ohne Hilfe nicht mehr auskommen?«

Jetzt wurde es schwieriger. Etwas abzulehnen ist einfach. Aber um eine vernünftige Alternative zu finden, müsste ich gründlicher nachdenken. Ich hatte genug Sorgen. Sollte ich mir jetzt auch noch ein Leben ausmalen, in dem ich alt, krank und pflegebedürftig sein würde? Welche Zumutung!

Wieder erreichte mich die tiefe Stimme: »Schön ist es hier am See, lieben Sie ihn auch so wie ich? Hier müsste man wohnen«.

Das war der entscheidende Satz. Er gab mir plötzlich das Gefühl, mit dem offensichtlich aus Hessen stammenden Menschen auf einer Wellenlänge zu sein. Meine Fantasie diktierte mir einen Wunschzettel für mein Alter. Es wurde eine Spinnstunde daraus. So angeregt hatte ich mich lange mit niemandem unterhalten. Ich fühlte mich richtig gut, als ich auf mein Fahrrad stieg und nach Hause radelte. Das Lachen von Enrico Sommer behielt ich noch lange im Ohr. Zum Abschied hatte ich ihm meinen Namen genannt: Jutta Herbst.

Neuseenstadt 2040

Подняться наверх