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2. KAPITEL – MITTWOCH, 27. JUNI 2040

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Am nächsten Morgen freut sich Jutta auf ihre Gesprächspartnerin. Deren Aussehen hat sie gestern nicht mehr gestört. Dagegen tat ihr das spürbare Interesse von Sandra gut. Nach dem Gespräch auf der Seeterrasse hatte Jutta die Medialistin noch zu ServiceAktiv geführt. »Das finde ich toll!«, hatte Sandra mit Blick auf die Bürotür ausgerufen. Innen und außen an der pastellblauen Tür prangte in leuchtendorangenen Lettern ein Spruch des klassischen deutschen Dichters Johann Wolfgang von Goethe: »Erfolg hat drei Buchstaben: TUN!.« »Dieser Spruch bringt unsere Firmenphilosophie auf den Punkt. Ich habe ihn vor vielen Jahren in einer Gaststätte am Zwenkauer See entdeckt und sofort zu meinem Slogan erkoren«, hatte Jutta erklärt. Gemeinsam mit ihrem Vertreter Johannes Müller erläuterte sie der Besucherin das Geschäftsmodell ihrer Firma. Er war der Einzige, der offensichtlich nicht merkte, wie die anderen Mitarbeiter hinter ihren Bildschirmen grinsten, als er die Besucherin anhimmelte.

Doch dann war Manuela Sommer gekommen und Johannes musste sich organisatorischen Fragen zur Unterbringung der neuen Bewohner widmen und recherchieren, wie viele Wohnungen mit welcher Ausstattung und wie viele Pflegeplätze in kurzer Zeit zur Verfügung gestellt werden können. Sandra beobachtete, wie dreidimensionale Bilder, Tabellen und Grafiken auf den Bildschirmen erschienen. Manuela beschrieb den Zustand einer künftigen Bewohnerin: »Sie ist nicht dement, aber die Ärzte bekommen ihre Depression nicht in den Griff. Seit Jahren hadert sie mit dem körperlichen Verfall, weil sie ihr ein Bein amputieren mussten. Alle Versuche, es durch eine Prothese zu ersetzen, mit der sie wieder laufen kann, schlugen fehl. Nun hat sie eine neue Operation abgelehnt, obwohl es jetzt viel bessere Materialien und Verfahren gibt, Gliedmaßen künstlich zu ersetzen. Sie will sich aber nicht helfen lassen, ist stur und aggressiv.«

»Müssen wir sie unbedingt hier haben? Hat sie keine Kinder, die sich um sie kümmern können?« hatte Johannes gefragt. »Nein, sie scheint ganz allein zu sein. Wir müssen eine Lösung finden. Wenn wir sie erst einmal emotional erreichen, lässt sich bestimmt noch viel für sie tun. Und bitte, Frau Lenz, veröffentlichen Sie diese Diskussion nicht. Wir unterliegen der Schweigepflicht bei persönlichen Details unserer Bewohner.«

Sandra hat ihr Minigerät sinken lassen, das Kamera, Computer und Telefon in einem ist, nicht mehr zu vergleichen mit den Smartphones, wie sie um 2010 aufgekommen waren. Das Gerät liegt bequem in der Hand wie eine Computermaus. Es ist stets aufnahme- und empfangsbereit. Das kleine Display vergrößert sich auf Knopfdruck, indem sich eine biegsame Folie entfaltet, auf der man Texte, Bilder oder auf Wunsch den jeweiligen Telefonpartner bequem erkennen und vergrößern kann. Seit sich diese Multimediageräte durch ihre hohe Qualität und die preisgünstige Anschaffung durchgesetzt haben, können freie Bildjournalisten kaum noch von ihrer Tätigkeit leben. Informationen, Berichte und Reportagen sind unverändert gefragt. Die Menschen benötigen Medien als Orientierungshilfe für die explosionsartig gewachsenen Möglichkeiten, das Leben zu gestalten. Doch diese multimedialen Leistungen erbringen immer weniger Personen, die Medialisten. Die meisten von ihnen arbeiten auf Honorarbasis, bis auf die Koordinatoren in den Zentralen. Diese stellen aus dem Material die bebilderten Artikel und Filme zusammen, die sie in die verschiedenen digitalen Kanäle leiten. Nach wie vor sind auch gedruckte Versionen der Informationen und Unterhaltungsbeiträge gefragt.

Sandra hatte noch einige Fragen gestellt und ihre Kamera über die Umgebung schwenken lassen. Doch Jutta war erschöpft gewesen und hatte sich nach ihrem Liegestuhl auf dem schattigen Balkon gesehnt. Außer Vogelgezwitscher wollte sie nichts mehr hören. Nicht einmal ihre nach dem organischen Lichtprinzip arbeitende Videobrille für einen Film reizte sie noch, sie wollte in die großen Baumwipfel schauen und ihre Gedanken ordnen. Sie war froh, dass die kleinen Jungs nicht auf dem Balkon über ihr zu hören waren, sondern sich offensichtlich noch auf dem Spielplatz austoben konnten. ServiceAktiv hatte der Familie neben dem Transportservice noch einen jungen Mann vermittelt, der verantwortungsbewusst solche Freiluftaktivitäten der temperamentvollen Jungen betreute und die Eltern stundenweise entlastete.

Doch dann hatte sich Enkelin Amelie aus Brea in Kalifornien am Telefon gemeldet. Lange hatte Jutta nichts von ihr gehört.

Jutta steht in der geöffneten Balkontür und atmet tief die kühlere, feuchte Luft ein. In der Nacht hat ein schweres Gewitter der Hitzeperiode ein vorläufiges Ende bereitet. Aber es wird schon wieder schwül.

Wie schön wäre es, wenn ihre Enkelin sie tatsächlich besuchen würde. Viele Gelegenheiten wird es nicht mehr geben. Als sie sich am Telefon meldete, hatte Jutta einen Augenblick gehofft, Amelie würde auf die Einladung reagieren und ihr Kommen ankündigen. Oder, noch eine geheime Hoffnung, sie würde Jutta zur Urgroßmutter machen. Doch die Neununddreißigjährige klagte über die mittleren und kleinen Katastrophen ihres Alltags, über ihren Mann Eduard und die extreme Trockenheit. Jutta hätte sie gern auf dem Bildschirm gesehen, aber die junge Frau hatte ihre Kamera ausgeschaltet mit dem Hinweis, sie hätte sich bei der Hitze nicht geschminkt und so wolle sie sich niemandem zeigen. Jutta weiß, dass die Enkelin unter Flugangst leidet, seit sie eine Beinah-Katastrophe bei der Landung eines Flugzeugs in Los Angeles erlebt hatte. Die Maschine war durch eine technische Panne über die Landebahn hinaus gerollt. Den Passagieren war nichts passiert. Dank des perfekt funktionierenden Notsicherungssystems konnten alle rechtzeitig evakuiert werden. Doch die Angst hatte sich in Amelie festgehakt.

Jutta hatte sehr darunter gelitten, dass sich das Mädchen schon mit zwanzig Jahren rigoros von seiner Mutter gelöst hatte und 2021 Hals über Kopf mit seinem zehn Jahre älteren amerikanischen Freund in dessen Heimat zog. Amelie hatte das Verhaltensmuster von Juttas Tochter Carola wiederholt, die mit achtzehn Jahren weg von Jutta mit ihrem Freund nach Frankfurt am Main gegangen war. Wie schon ihre Mutter hatte auch Amelie der Großmutter versichert, oft zu Besuch zu kommen, die Entfernungsei doch heutzutage kein Problem mehr. Die Praxis sah anders aus und seit der Flugpanne vor fünf Jahren hatten sich Großmutter und Enkelin nur am Bildschirm gesehen. Auch das wurde in letzter Zeit immer seltener. Jutta hatte der jungen Frau zu Weihnachten ein Seminar zur Überwindung der Flugangst geschenkt und sie zur Geburtstagsfeier am fünfzehnten Juli eingeladen. Amelie hat sich immer noch nicht geäußert, ob sie nach Leipzig fliegt. Ob es an Eduard liegt, den es kaum nach Deutschland zieht?

Die Stimme von ihrem Bildschirmwecker reißt Jutta aus den Grübeleien, die sie seit fünf Uhr am Morgen nicht mehr schlafen ließen. »Es ist 9.30 Uhr. In einer halben Stunde haben Sie einen Termin in Ihrer Firma ServiceAktiv.«

Im Büro sitzt Verwalterin Manuela Sommer mit Johannes Müller am Bildschirm, auf dem Grafiken und Zimmergrundrisse zu sehen sind. Johannes erklärt: »Wir haben jetzt alles geregelt. Die zwölf Pflegebedürftigen aus dem Park-Heim bekommen Unterkunft bei uns. Drei Umzüge beginnen heute, die anderen in den nächsten Tagen. Willst du sämtliche Neulinge selbst besuchen und die Reporterin mitnehmen? Das ist bestimmt interessant für sie.«

Jutta mustert ihren Vertreter und Nachfolger, mit dem sie seit zehn Jahren gut zusammen arbeitet. Wie immer stehen seine rötlichen Locken etwas wirr vom Kopf ab und er trägt eine zitronengelbe lange Hose zu einem grauen Baumwollshirt. Als »Mann mit der gelben Hose« ist er überall bekannt. Jutta kann sich nicht daran erinnern, ihn jemals in einer andersfarbigen Hose gesehen zu haben. Sie schmunzelt über die Marotte, doch die ist ihr gleichgültig. Was für sie zählt, ist die absolute Zuverlässigkeit und Kompetenz des jungen Informatikers. Selbst in den stressigsten Situationen hat er sich bisher nie aus der Ruhe bringen und zu Streitereien provozieren lassen. Sie wundert sich, dass der im Team beliebte Zweiunddreißigjährige bisher keine feste Partnerin hat. Dabei ist der vor zwanzig, dreißig Jahren normale Trend zum langen Singledasein bei vielen jungen Leuten heute größtenteils vorbei. Es gibt entgegen aller damaligen Prognosen wieder viel mehr frühzeitige Partnerschaften und Familien. Die sich ständig ändernden beruflichen Herausforderungen und oft damit verbundene Ortswechsel meistern sie durch Netzwerke und Hilfsangebote. Jutta ist stolz, dass ihre Firma Leistungen realisiert, die die Eltern entlasten und ihnen neben der Berufstätigkeit noch Freizeit ermöglichen.

Natürlich, Johannes hat recht, denkt Jutta: Wenn sie mit mir gemeinsam die Besuche erledigen würde, könnte Sandra am besten erleben, wie neue Bewohner mit dem Servicekonzept vertraut gemacht werden, wie wir sie in das Leben hier integrieren und aktivieren. Doch Juttas Bauchgefühl warnt sie. So sagt sie: »Nein, lass mich erst darüber nachdenken und in Ruhe die Namen und Biografien ansehen.«

Bevor sie einen Blick auf die Daten werfen kann, registriert sie, wie die blauen Augen von Johannes aufleuchten. Sandra Lenz steht in der Tür, ähnlich wie am Vortag gekleidet. Unter den durchsichtigen Pluderhosen trägt sie heute dunkelblaue Shorts und dazu passend eine blaue Kette aus dicken Holzperlen und blau-golden schimmernde riesige Ohrringe. Die Haare sind zu einem Pferdeschwanz mit einer großen blauen Schleife gebunden. Einen Schuhtick hat sie offensichtlich auch, denkt Jutta beim Blick auf die blauen, hochhackigen Schuhe aus einem glänzenden Material, das farblich perfekt zur Haarschleife passt.

Doch wie unwichtig sind Äußerlichkeiten. Jutta denkt daran, dass Sandra gestern viel länger als geplant mit ihr zusammen war und außer dem Eistee am Vormittag und einem großen stillen Wasser am Nachmittag nichts zu sich genommen hatte. Dass Juttas eigene Familie so viel Interesse an ihrem Leben und ihrem Engagement zeigen würde, erscheint ihr als unerfüllbarer Wunschtraum. Wie so oft taucht die Erinnerung an Carolas Worte auf: »Du hast mich weggetrieben, so wie du meinen Vater aus unserem Leben vergrault hast. Nun musst du damit leben, dass ich meinen eigenen Weg gehe, und nicht in Leipzig bei dir«!

Sie konnte nicht verstehen, dass die Tochter so rigoros urteilte. Jutta hatte sich all die Jahre bemüht, den Kontakt trotz vieler Missverständnisse niemals abreißen zu lassen. Wenigstens das ist ihr gelungen, nicht zuletzt durch ihre Besuche in Frankfurt und ihr Bemühen, der jungen Familie in dieser Zeit zu helfen. Während sich Jutta mit ihrem Schwiegersohn gut verstand, stritt sie sich mit ihrer Tochter immer wieder über Kleinigkeiten. Dadurch waren die Chancen zu guten Gesprächen vertan. Carola verstand die Mutter nicht, die mit sechzig Jahren ihre Firma aufzubauen begann. Mehrfach kritisierte die Tochter, dass Jutta ihre Kraft und Zeit für fremde Leute verschwende. Das Geschäft würde nicht genug abwerfen, sondern die Investitionen in die Firma das mühsam verdiente Geld gleich wieder verschlingen. In den ersten Jahren war das tatsächlich so und Jutta grübelte manche Nächte lang, ob ihre Tochter vielleicht doch recht hatte und sie selbst stur war und vergeblich einer Illusion nachjagte.

Jutta bedauert, dass Carola sie so selten besucht hat. So konnte sich die Tochter kaum vorstellen, wie sich das Leben in Sommerlust entwickelte und durch die Service-Firma immer attraktiver wurde. Carolas Besuche waren meist kurz und überwiegend von ihren Shoppingtouren bestimmt. Jutta verstand nicht, dass jegliches Interesse an Politik bei Carola erloschen war. Dabei war die Politik 1989 der zweite große Konfliktherd in der Mutter-Tochter-Beziehung gewesen.

Zu ihrem Kummer gelang es ihr auch nicht als Großmutter, eine gute Beziehung zu Enkelin Amelie aufzubauen, obwohl sie sich das sehr gewünscht hatte. Wie gern hätte sie die Kleine öfter zu Besuch gehabt, Zeit mit ihr verbracht und ihr die herrliche Wasserlandschaft gezeigt, die jedes Jahr mehr begeisterte Touristen anzog.

Jutta versucht, sich wieder auf Sandra zu konzentrieren, und schaut zu ihr auf: »Heute zeige ich Ihnen eins unserer Restaurants und dort lade ich Sie zum Essen ein, ohne Widerrede. So einen Hungertag wie gestern verkrafte ich nicht noch einmal. In meinem Alter muss man vernünftig essen, um einigermaßen fit zu bleiben. Und Ihnen kann das auch nichts schaden. Außerdem gibt’s dort einiges zu zeigen, das zu unserer Arbeit gehört.«

Jutta merkt, wie Sandra kurz zögert und zu Johannes schaut, bevor sie nickt. »Ja, natürlich. Sehen wir uns die Küche an. Und wenn ich etwas esse, erzählen Sie mir aus Ihrem Leben? Bitte. Ein paar Bilder von früher möchte ich auch gern sehen.«

Jutta lacht: »Sie sind ja eine Erpresserin. Normalerweise trenne ich mein Privatleben von meinem gesellschaftlichen und erzähle Reportern nur über letzteres. Bisher waren alle damit zufrieden.«

Sandra antwortet leise: »Viele Leute meiner Zunft sind oberflächlich. Aber ich möchte Sie gern richtig kennenlernen, bevor ich die Reportage schreibe. Für mich ist es sehr wichtig, dass mir dieser Beitrag gut gelingt. Es wird mein erster für ›Leben mit Ideen‹.«

Jutta hat das Gefühl, dass sie ihr vertrauen kann. Irgendetwas zieht sie zu dieser jungen Frau. Warum soll sie nicht doch einmal ihr Leben erzählen und den angesammelten Ballast loswerden?

»Gut, dafür brauchen wir aber viel Zeit. Und von Ihnen möchte ich auch mehr erfahren. Zum Beispiel bin ich neugierig, wieso Herr Sommer Sie gestern so mit seiner Orgel begeistern konnte. Dieses alte Instrument ist doch nichts für die meisten jungen Leute.«

Sandra zuckt zusammen.

Das Gewitter ist zurück gekommen und entlädt sich mit heftigem Krachen. Der Himmel hat sich verdunkelt. Automatisch schließen sich die Bürofenster und das Licht schaltet sich ein, eine angenehme blendfreie Beleuchtung von den Leuchtfolien an der Decke und an den Fenstern. »Oh, Sie sind hier mit organischen Leuchtdioden ausgestattet, dazu haben die Mittel für unser Redaktionsbüro bisher nicht gereicht«, stellt Sandra fest und setzt hinzu: »Was passiert, wenn der Strom ausfällt? Gibt es genug Reserven oder benötigen Sie das öffentliche Stromnetz?«

Manuela und Jutta lachen. »Schauen Sie«, erklärt Manuela Sommer, »dort steht unser Energieturm, das Herzstück unserer Anlage. Sommerlust hat sich vor zehn Jahren vom zentralen Stromnetz unabhängig gemacht, als das große Braunkohlekraftwerk im Süden von Leipzig geschlossen wurde. Damals wurden die großen und kleinen Energiekonzerne zu einem zentralen, staatlichen Stromversorger zusammengeschlossen. Bis dahin war es nicht selbstverständlich gewesen, dass sich Gebäude, Wohngebiete und ganze Städte weitgehend unabhängig aus erneuerbaren Energien versorgen konnten. Die Stromkonzerne, die Stadtwerke und die vielen weiteren Stromanbieter konkurrierten miteinander um die Netze und die Kunden. Der künstlich erzeugte Wettbewerb brachte den Menschen keine Vorteile, sondern Ineffizienz und ständig steigende Energiekosten. Mein Mann war zu dieser Zeit in seinem Architekturbüro am Bau spektakulärer Bauten mit ganz neuen Energiemodellen beteiligt. Diese Erfahrungen setzte er beim Bau unseres Wohngebietes ein.

Unser Energieturm entstand nach dem Vorbild des Pearl-River-Towers in China, der 2011 fertiggestellt worden war. Unserer hat keine neunundfünfzig Stockwerke, sondern nur zwanzig. Er enthält aber auch eine Fassade aus Fotovoltaikzellen, vertikale Windkraftanlagen und intelligente Stromspeichersysteme. Er ist ein Energie-Plus-Gebäude, das noch Strom für unsere Elektrotankstelle, für unsere Küchen und Wäschereien produziert. Dass wir in dem Turm auch Fische und Algen züchten, Pilze, Kräuter und Gemüse anbauen, ist nur ein Zusatznutzen. Aus den wuchernden Algen erzeugen wir Nahrungsmittel und Strom. Deshalb haben wir für dieses Hochhaus eine Ausnahme-Baugenehmigung erhalten. Ansonsten bauen wir hier Gebäude von höchstens fünf Stockwerken.

Unsere Wohn- und Bürohäuser, die Schulen und das Krankenhaus sind Nullenergie- oder Plusenergiehäuser. Die älteren Häuser, die vor 2020 hier entstanden waren, wurden in den letzten Jahren auf diesen technischen Standard nachgerüstet und mit neuen Fassaden versehen.«

Nach einem Blick zu Jutta unterbricht Manuela ihre Ausführungen: »Jetzt bin ich wieder ins Reden gekommen. Aber Sie wollen sich mit Frau Herbst über ServiveAktiv unterhalten, ich gehe schon.«

Die künstliche Beleuchtung verblasst in dem Maß, wie es draußen heller wird. Das Gewitter zieht ab und der Regen hört auf. »Fenster auf«, sagt Johannes und die Scheiben schieben sich seitlich in die Mauerrahmen. Frische, nach nasser Wiese duftende Luft erfüllt den Raum.

»Können wir das mit der Küche nicht morgen erledigen? Ich hab überhaupt keinen Hunger und mag jetzt auch nicht sehen, wie gekocht wird, vor allem kein Fleisch.« Jutta schaut erschrocken in das blasse Gesicht von Sandra. »Ist Ihnen nicht gut? Brauchen Sie einen Arzt?«

»Nein, nein. So ein Eistee wie gestern wäre perfekt. Können wir uns wieder dort unterhalten, wo wir gestern waren?«

Die Frauen fahren mit einem kleinen, automatisch gesteuerten Elektroauto zur Seeterrasse und lassen sich unter dem Dach nieder, während von den Kastanienblättern das Wasser tropft. Heute esse ich etwas, und wenn die junge Dame hundert Mal hungrig daneben sitzt, denkt Jutta und fragt: »Wollen sie zuerst von meinem ersten oder von meinem zweiten Leben hören?«

»Erzählen Sie mir bitte von Anfang an. Ich habe ausgerechnet, dass Sie schon fünfundsechzig Jahre alt waren, als ich geboren wurde. Wie soll ich verstehen, was Sie erlebt haben? Ich habe schon bei meinem Großvater Mühe zuzuhören, wenn er so durcheinander von seiner Jugend erzählt.«

»Lebt er noch, Ihr Großvater?«

»Oh ja, zum Glück ist er auch noch recht gesund. Er wohnt in Dresden und ich mag ihn sehr. Er versteht mich viel besser als meine Eltern. Nein, genug von meiner Familie, jetzt erzählen Sie!«

»Sie haben ausgerechnet, dass ich 1950 geboren wurde. Mit meinen Eltern habe ich in Leipzig-Stötteritz gewohnt. Mein Vater war Schriftsetzer. Manchmal hat er mich in seine kleine Setzerei mitgenommen und mir gezeigt, wie die Zeilen aus einzelnen Bleibuchstaben in einem Winkelhaken zusammengesetzt wurden. Die Buchstaben sah man nur in Spiegelschrift. Das hat mich so fasziniert, dass ich den alten Handwerksberuf selbst gelernt habe. Bei uns in der DDR gab es zu der Zeit das Konzept, neben der zum Abitur führenden Oberschule in vier Jahren zusätzlich einen Facharbeiterberuf zu lernen. Wenn es dann, etwa wegen damals häufiger früher Mutterschaft, nicht mit dem geplanten Studium klappte, hatte man immerhin einen abgeschlossenen Beruf.

Meine Mutter war Krankenschwester. Sie war sehr streng. Meine Tante Anita, ihre jüngere Schwester, fand ich als Kind viel lustiger. Eines Tages war sie in den Westen Deutschlands verschwunden, für mich auf Nimmerwiedersehen.«

Sandra kaut auf dem leeren Löffel und sagt: »Das klingt wie aus einer längst versunkenen Welt. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie ein Land durch eine Mauer geteilt sein kann. Wieso lassen sich Menschen in einem Teil des Landes einsperren? Auch mein Großvater hat mir davon erzählt. Wann war das mit der Mauer?«

»Die Tante hat uns vor dem Mauerbau 1961 verlassen, dann war es vorbei mit den gegenseitigen Besuchen. Die Familie war auseinander gerissen. Dass es damals sehr vielen Menschen so ging, war ein schwacher Trost. Für die Zurückgebliebenen war es besonders schlimm. Die Ausgewanderten hatten ihre Freiheit und konnten die Welt entdecken. Nur in die DDR durften sie erst sehr viel später und mit behördlicher Genehmigung als Besucher wieder einreisen.

Meine Mutter war sicher so ernst, weil sie sich um meinen fünf Jahre jüngeren behinderten Bruder sorgte. Damit er besser gepflegt werden konnte und mit dem Rollstuhl Platz hatte, musste ich mein größeres Zimmer gegen sein kleineres vertauschen. Das sah ich zwar ein, haderte aber mit dem Schicksal und meinen Eltern, weil sich zu Hause immer alles um Manfred drehte. Wir hatten eine große Altbauwohnung, in der auch meine Großeltern lebten. Sie kümmerten sich um uns Kinder, wenn die Eltern arbeiteten, und so besuchte ich auch erst mit sechs Jahren bis zum Schulanfang den Kindergarten. Damals wurden viele Kinder zu Hause betreut und wir spielten in den Höfen, auf der Straße und in den Parks. Ich war viel lieber draußen als in der Wohnung, denn es gab zwischen meiner Oma und meiner Mutter ständig Streit. In der Schule lernte ich meine Freundin Ina Maiwald kennen und ich war gern bei ihr zu Hause. Sie wohnte gleich um die Ecke. Als Einzelkind hatte sie alles für sich – und nette, verständnisvolle Eltern. Ich habe meine Freundin geliebt, aber auch beneidet.

1960 war für mich das erste schlimme Schicksalsjahr. Meine Eltern erfuhren kurz nach Manfreds fünftem Geburtstag im Mai, dass es für seine Krankheit keine Heilung geben und er jung sterben würde. Er hat noch fünfzehn Jahre gelebt, sein Tod mit zwanzig Jahren war ganz schrecklich für uns. Mein Opa starb im Juni 1960 und meiner trauernden Oma versuchte ich so oft wie möglich aus dem Weg zu gehen. Sie wollte mir immerzu von ihrer Jugend erzählen und es hat mich nicht interessiert. Heute wäre ich glücklich, wenn sie noch da wäre. Jetzt, wo ich selbst alt bin, kann ich mich in ihre Situation versetzen und möchte ihre Biografie begreifen. Leider habe ich zu spät erkannt, dass das Schicksal meiner Großeltern entscheidend das meiner Eltern geprägt hat und damit auch mein Leben. Es ist in der Familie wie in der gesamten Weltgeschichte: Die Handlungen der Vorfahren bestimmen in einem wesentlichen Maß unsere Gegenwart. Wir legen heute die Grundsteine für die Zukunft. Das Leben der Menschheit ist eine unendliche Kette, gefädelt aus den begangenen und unterlassenen Taten der Generationen.«

Sandra zupft an einer Haarsträhne, die sich aus ihrer kunstvollen Frisur gelöst hat: »Frau Herbst, das macht mich richtig nachdenklich. Ich sollte mir mehr aus dem Leben meines Opas erzählen lassen. Ich weiß nicht, wie lange ich ihn noch habe. Wenn nur nicht der ständige Alltagsstress wäre und ich mehr Zeit hätte!« Sie seufzt und sagt: »Es ist eben so. Jetzt bin ich bei Ihnen und freue mich, dass Sie mir so viel erzählen!«

Jutta spricht weiter: »Die meisten Nachmittage und Ferientage verbrachte ich bei Ina. Wir erledigten zusammen Hausaufgaben und spielten mit anderen Kindern, dachten uns manchen Unsinn aus. Es war trotz des Kummers in der Familie eine schöne Zeit für mich. Am Ende der Sommerferien kam der Schock. Ich klingelte an Maiwalds Wohnungstür, doch dahinter herrschte Totenstille. Ich klopfte und rief. Im Erdgeschoss öffnete sich die Tür und der Mann, der das Hausbuch führte, kam heraus. In jedem Mietshaus gab es einen Verantwortlichen für dieses Dokument, in das die Daten der Hausbewohner und ihrer Besucher eingetragen wurden. Diese Bücher waren ein Bestandteil des umfassenden Kontrollsystems durch die Staatssicherheit in der DDR und es war Pflicht, diese exakt zu führen.« Jutta bemerkt, dass Sandra ihr Aufnahmegerät nicht betätigt und nichts aufgeschrieben hat. Sie reißt den Blick erst von Juttas Lippen, als ein alter Mann mit einem Roboter auftaucht, der die Erde der Blumenrabatte neben der Terrasse lockert.

Jutta steht auf, streckt sich, streicht sich die Haare aus dem schon wieder feuchten Gesicht und trinkt einen Schluck Wasser.

Nach einem Blick in das gespannte Gesicht ihrer Zuhörerin unterdrückt sie den Impuls, per Knopfdruck das Speiseauswahldisplay zu bestellen. Sie setzt sich wieder und fährt fort: »Jedenfalls vergesse ich nie, wie sich dieser glatzköpfige dicke Mann vor mir aufbaute und mit wichtiger Stimme erklärte, dass die Maiwalds Republikflüchtlinge seien, denen man keine Träne nachzuweinen brauche. Ich stand wie erstarrt in dem Haus und flehte die geschlossene Wohnungstür an, sich entgegen des eben Gehörten zu öffnen, damit ich wie immer mit meiner Freundin zusammen sein konnte.«

Sandra schluckt und fragt leise: »Und haben Sie die Freundin jemals wieder gesehen?«

»Ja, viel später. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.« Jutta räuspert sich. »Zunächst hatte ich immer auf Post gewartet, jeden Tag rannte ich mit neuer Hoffnung zum Briefkasten, doch Ina meldete sich nicht. Ich wollte ihr so viel erzählen und wissen, wie sie jetzt lebte. Vielleicht würde sie zurückkommen, malte ich mir manchmal abends vor dem Schlafen aus. Ein Jahr später wurde am dreizehnten August 1961 die Berliner Mauer gebaut und die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik war dicht – für immer und ewig, wie wir alle dachten.

Ich fühlte mich wie im Gefängnis, zumal meine Eltern wegen Manfred auch nicht mehr innerhalb der DDR in den Urlaub fuhren. Ich beneidete meine Klassenkameraden, wenn sie nach den Ferien über ihre Reisen berichteten: An die Ostsee, ins Gebirge oder vielleicht sogar bis in die Tschechoslowakei oder nach Ungarn – oder irgendwohin zu den Großeltern. An meinem geheimen Kummer änderte auch der Kleingarten nichts, den meine Eltern nach jahrelanger Wartezeit bekamen und der zu Fuß und mit dem Rollstuhl zu erreichen war.

Mit zwölf Jahren durfte ich endlich ins Ferienlager fahren, zwei Wochen im Sommer. Dort hat es mir gefallen. Die meisten Betriebe finanzierten die Ferienlager für die Kinder ihrer Beschäftigten, die dafür nur einen geringen symbolischen Beitrag von zwölf Mark leisten mussten.

Später habe ich in Karl-Marx-Stadt, das heute wieder Chemnitz heißt, in einer Druckerei selbst die Ferienlager- und Urlaubsplätze vergeben.« Jutta lacht: »Ich weiß noch genau, dass ich mich wie der liebe Gott fühlte, denn ich habe der Ferienkommission die Vorschläge vorgelegt, wer welchen Urlaubsplatz bekommt – und wessen Antrag abgelehnt wird. Oft hat mir die Kommission zugestimmt, wenn ich die Hierarchiegrenzen und persönlichen Wünsche der Chefs berücksichtigt hatte.«

Juttas Telefon vibriert. Sie wirft einen Blick auf das Display und drückt den grünen Button. »Entschuldigung, es ist sicher wichtig.« Manuela ist zu sehen und ruft: »Jutta, wie lange redet ihr noch? Ich war bei dieser Frau und komme nicht mit ihr zurecht. Sie ist so schwierig, dass ich fast bereue, sie mit hierher geholt zu haben. Kannst du kommen? Schau dir meine Aufnahme an.« Angestrengt starrt Jutta auf das Display, wo eine wild um sich schlagende, etwas Unverständliches kreischende alte Frau zu sehen ist, die kurz danach reglos in sich zusammensinkt. Jutta wird blass und flüstert: »Das kann doch nicht sein, nein, ich bilde mir das nur ein. Manuela, wie heißt diese Frau?« Sie dreht sich zu Sandra um und bemerkt deren verwunderten Gesichtsausdruck.

»Ich muss für heute Schluss machen. Wir sehen uns morgen.«

Mühsam steht Jutta auf und verlässt mit dem Elektromobil die Terrasse. Als sie sich noch einmal umdreht, sieht sie, dass Sandra ihren Eistee und Juttas Wasser bezahlt. Jetzt habe ich doch nichts gegessen, denkt sie. Aber morgen lade ich sie zum Essen ein, unbedingt!

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