Читать книгу „… Gesetz und Freiheit ohne Gewalt“: „Die höchste Form der Ordnung“ - Richard A. Huthmacher - Страница 16

„IHR ZIEL IST EINE BRÜDERLICHE GESELLSCHAFT, EINE IDYLLISCHE WELT. SIE NENNEN SICH MAOISTEN, TROTZKISTEN ODER KOMMUNISTEN. MAN NENNT SIE CHAOTEN. SIE SIND ANARCHISTEN“: WAS IST WAHRHEIT, WAS IST LÜGE?

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„Sie agitieren bei wilden Streiks, besetzen Wohnungen, stürmen Rathäuser, und einige berauben Banken. Ihr Ziel ist eine brüderliche Gesellschaft, eine idyllische Welt. Sie nennen sich Maoisten, Trotzkisten oder Kommunisten. Man nennt sie Chaoten. Sie sind Anarchisten. Aber sie faszinieren die Jugend und infizieren Parteien.“ So, in seiner unnachahmlich differenzierten Art, DER SPIEGEL.

„´Das Epp’sche Corps ist unter großem Jubel in bester Haltung eingezogen´, schrieb er [Thomas Mann] am 5. Mai. ´Ich finde, daß es sich unter der Militärdiktatur bedeutend freier atmet, als unter der Herrschaft der Crapule [Schurken/Lumpen]´“: So der Lübecker Nobelpreisträger. Der München leuchten ließ. Sicherlich nicht durch die Räterepublik. Der er solcher Art huldigte.

Und John Henry Mackay, seines Zeichens selbst Anarchist, konstatierte zutreffend: „Die Aussprache des Wortes [Anarchismus] ... ist wie das Schwenken eines rothen Tuches – in blinder Wuth stürzen die Meisten auf dasselbe los, ohne sich Zeit zu ruhiger Prüfung und Ueberlegung zu lassen.“

Pierre-Joseph Proudhon fragte: „Qu’est-ce que la propriété? ne puis-je répondre de même, c’est le vol ...“ Und prägte damit das Schlagwort vom Eigentum als Diebstahl.

Ludwig Börne glaubte zu wissen: „Nicht darauf kommt es an, dass die Macht in dieser oder jener Hand sich befinde … Freiheit geht nur aus Anarchie hervor.“

Deshalb forderte Ludwig Feuerbach: „Homo tibi deus est“ – der Mensch sei sich selbst ein, sein Gott.

Und es war wiederum Mackay, der Anarchie als „Forderung nach der Souveränität des Individuums gegenüber allen Versuchen zu seiner Beschränkung und Unterdrückung und gegenüber seinem größten und gefährlichsten Feinde: dem Staat“ bezeichnete und weiterhin feststellte: „Das neunzehnte Jahrhundert hat die Idee der Anarchie geboren. In seinen vierziger Jahren wurde der Grenzstein zwischen der alten Welt der Knechtschaft und der neuen der Freiheit gesetzt. Denn es war in diesem Jahrzehnt, daß P. J. Proudhon die titanische Arbeit seines Lebens mit: ´Qu'est-ce que la propriété?´ (1840) begann und Max Stirner sein unsterbliches Werk: ´Der Einzige und sein Eigenthum´ (1845) schrieb.“

Sollte der werte Leser mich selbst nach meiner Definition von Anarchie fragen, würde ich ihm, kurz und knapp, antworten: Ich will nicht Herr sein. Auch nicht Knecht. Ich bin und bleibe Anarchist.

In diesem Sinne schrieb meine Frau: Ich frage mich, Liebster, sind unsere Gehirne – durch neoliberale Indoktrination, durch all die „Hate-Speech“-Zensur-Kampagnen, durch gefakte Bewegungen wie Friday for Future („666“!), extinction rebellion und ähnlich unsägliche Bewegungen mehr, die wie Pilze aus dem Boden schießen, ohne dass der (heutzutage linke) Deutsche Michel (was indes nur Etikettenschwindel: frei nach Orwell wird nicht nur Hass zu Liebe und Sklaverei zu Freiheit, sondern auch links zu rechts und, bisweilen, umgekehrt), ohne dass der Deutsche Michel sich fragt, woher all die Mittel kommen, um solche Aktionen auf die Beine zu stellen, sich weiterhin fragt, wieso ein psychisch gestörtes Mädchen namens Greta scheinbar die Weisheit mit Löffeln gefressen hat und warum all die dringend notwendigen Maßnahmen im Umweltschutz an einer einzigen gigantischen Lüge, der des angeblich anthropogenen, CO2-gemachten Klimawandels aufgehängt werden –, sind unsere Gehirne, in der Tat, dermaßen gewaschen, dass wir nur noch wie Schafe hinter den Rattenfängern des Globalismus´, der NWO, der Völker- und Rassenvermischung, der Auslöschung jeglicher individueller wie nationaler Identität herlaufen?

Statt die individuelle Freiheit einzufordern, die Anarchisten selbst-verständlich, unverzichtbar ist, die (erst) unser Mensch-Sein im Feuerbach´schen Sinne („Homo tibi deus est“) begründet!

„Frieden oder Harmonie zwischen …. den Menschen hängt nicht allein von der formalen Gleichstellung der Menschen ab und setzt auch nicht das Auslöschen individueller Merkmale und Eigenarten voraus. Das Problem, das sich uns heute stellt und dessen Lösung dringend ansteht, liegt darin, seine eigenen Bedürfnisse zu leben und gleichzeitig die Bedürfnisse der anderen nicht außer acht zu lassen, auf andere Menschen eingehen zu können und doch die eigene Persönlichkeit zu bewahren. Für mich ist das die Basis, auf der sich die Massen und der Einzelne, der wahre Demokrat und der wahre Mensch, Mann und Frau ohne Feindschaft und Opposition begegnen können. Der Wahlspruch sollte nicht sein: Vergebt einander, sondern eher: Versucht, einander zu verstehen.“ So die Anarchistin und Frauenrechtlerin Emma Goldman.

Kant formulierte Inhalt und Wesen der Anarchie (noch) knapper: „Anarchismus ist Gesetz und Freiheit ohne Gewalt.“

Indes: Auch die Anarchie stellt keinen Endzustand dar – jede gesellschaftliche Veränderung schaffe gleichermaßen eine Topie (als Festschreibung der neuen Verhältnisse) wie eine Utopie (d.h. den Wunsch, auch diesen Zustand [bereits erreichter Anarchie] im erwünschten Sinne zu „transzendieren“): „Die neue Topie tritt ins Leben zur Rettung der Utopie, bedeutet aber ihren Untergang.“

Mithin – so Gustav Landauer – gebe es keinen Endpunkt in der gesellschaftlichen Entwicklung, vielmehr einen ständig fortschreitenden Prozess permanenter sozialer Umgestaltung und Erneuerung.

„Die Menschen verstehen sich und können sich verständigen, weil sie ungleich sind; wenn sie gleich wären, wäre einer dem anderen und jeder sich selbst verhasst und ekelhaft; und eine solche Gleichheitsphantasie ist überhaupt unmöglich und widerwärtig.“

Jeder, der heutzutage solcherart argumentierte, würde von denen, die ein weltweites Einheits-Volk und eine Welt-Regierung anstreben, resp. von den bezahlten Lügenmäulern und Maulhuren solcher „Globalisten“ als Rechter bezeichnet; gälte Landauer, der Anarchist, mit seiner zuvor zitierten Meinung heute als Rechts-Radikaler, als Rechts-Extremist?

In der Diktion jener, die in dem ihnen eigenen orwellschen Neusprech von rechts sprechen, wenn sie links meinen, von Freiheit, wenn sie von Unterdrückung reden, von Wahrheit, wenn sie der Lüge den Weg bereiten.

Minimalstaat, Ultra-Minimalstaat, der Staat im Hegelschen Sinne, Kontrakte, Staatsverträge, Gesellschaftsverträge, theoretische Konstrukte en masse: Allein damit, meine Liebe – so schrieb ich an meine Frau –, ließe sich nicht nur ein Buch füllen, vielmehr würde eine Bibliothek kaum ausreichen, um all die – teils durchaus vernünftigen, teils geradezu abstrusen – Begründungen und Konzepte für oder gegen staatliche Strukturen oder auch für eine Gesellschaft (weitestgehend) ohne Staat zu erfassen.

Ich jedenfalls habe „den Staat“ nur als gigantischen Unterdrückungs-Apparat kennengelernt. Der den Interessen einiger weniger dient, die seine (Macht-)Strukturen bestimmen und von ihnen profitieren. Der sich als Moloch geriert, welcher jegliche Individualität frisst. Mit Haut und Haar. Der nur ein Ziel hat: die vollständige Unterwerfung des Einzelnen unter die Staats-Doktrin, d.h. unter jene Ideologie, die, aus Herrschaftsinteresse, justament angesagt ist. Und der nur eine Wahl lässt: sich bedingungslos unterzuordnen. Oder aber zugrunde zu gehen.

Ich kenne nur den Staat, der dem Individuum keinerlei Raum lässt, sich und seine Fähigkeiten, seine kognitiven und emotionalen Möglichkeiten, seine spirituellen und trans-zendenten Potentialitäten zu entfalten.

Denn er, der Staat, will nicht, dass man ihn trans-zendiert – von einer Metaebene aus wäre er zu erkennen als das, was er tatsächlich ist: sowohl ein System ebenso offensichtlicher wie brutaler Gewalt als auch ein Konstrukt (mehr oder weniger) subtiler Indoktrination; eine unheilige Allianz von Interessen, die nicht dem Wohl der Menschen, sondern dem ihrer (Be-)Herrscher dienen; ein Ungeheuer, das – im dialektischen Spiel der Systeme, welches gleichwohl von denselben resp. den immer gleichen Playern dominiert wird – wahlweise im Namen der (sogenannten) Demokratie oder eines (angeblichen) anderen Gemeinwohls, im Sinne irgendeiner Religion oder im Interesse sonstiger Werte-Chimären die Menschen klein, dumm und unmündig hält.

Aperçu, heruntergebrochen in einfache Worte: „Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm: Halt du sie dumm, ich halt’ sie arm“, so Reinhard Mey. In der Tat: Sei wachsam.

Weil er, der Staat, denen, die hinter ihm stehen (heutzutage, neudeutsch, auch Deep-State genannt), ermöglicht, ihre Geschäfte zu betreiben, ihren Vergnügungen nachzugehen, sich die Masse der Menschen als Arbeits-Vieh und, nicht selten, auch als Lust-Objekte zu halten; der Mord an Jeffrey Epstein (resp. sein Abtauchen mit neuer Identität) ist – pars pro toto – nicht einmal die Spitze des Eisbergs.

Deshalb: Keine Macht für niemand. Nach alter Autonomen- und Anarchisten-Art.

Mithin: Für viele Anarchisten stand am Anfang der Zorn. Das Aufbegehren. Die Rebellion. Das Streben nach Freiheit.

Indes: Freiheit wovon? Und: Freiheit wozu?

Dies dürfte sich schon Spartakus gefragt haben. Ebenso Michael Kohlhaas. Auch Che Guevara. Und Rudi Dutschke.

Mehr noch: Ist Abwesenheit von Herrschaft schon („die“) Freiheit?

Zudem: Lehrt uns die Geschichte nicht, dass eine Herrschaft im allgemeinen durch die nächste ersetzt wird – der König ist tot, es lebe der König.

Und weiterhin: Hass als Reaktion auf Unfreiheit, als Mittel und Zweck zu deren Überwindung ist (nicht selten) destruktiv – wird Freiheit somit (oft, meist gar) aus Hass und Zerstörung geboren?

In diesem Spannungsfeld von Herrschaft und Unterdrückung einerseits sowie dem Streben nach Befreiung und Freiheit andererseits entstanden Vorstellung und Praxis der An-archie (ἀν-αρχία: ἀρχία, Herrschaft; Alpha privativum als verneinendes Präfix).

Mit anderen Worten: Theorie und Praxis der Anarchie suchen eine Antwort auf die Frage, wie sich der destruktive Zorn des Aufbegehrens in eine konstruktive, schöpferische Form von Freiheit umsetzten lässt.

Die, letztere, bunt und widersprüchlich, bizarr und verführerisch die Menschen lockt – seit ihrer, der Menschen, Vertreibung aus dem Paradies. Wie auch immer diese von statten ging. Wie dieses wohl auch ausgesehen hat.

Ist Anarchie mithin nur ein Traum? Oder doch eine durchaus realisierbare Hoffnung?

Jedenfalls reichen die Wurzeln der Anarchie in der Geschichte der Menschheit weit zurück; der „moderne Anarchismus“ indes reflektiert die letzten 150/200 Jahre der Neuzeit; er ist ebenso gut dokumentiert wie in breiten Kreisen der Bevölkerung unbekannt.

Ludwig Börne dürfte der erste (Deutsche) gewesen sein, der sich – auch im politischen Sinn – offen für die Anarchie aussprach (Ludwig Börne: IV. Betrachtungen über den Sinn der Zeitkämpfe, veranlaßt durch die Nouvelles Lettres Provinciales, ou lettres écrites par un provincial à un de ses amis, sur les affairs du temps. Paris, 1825, S. 271. In: Neue allgemeine politische Annalen. Band 20. Cotta´sche Buchhandlung, Stuttgart und Tübingen, 1826):

„Nicht darauf kommt es an, daß die Macht in dieser oder jener Hand sich befinde: die Macht selbst muß vermindert werden, in welcher Hand sie sich auch befinde. Aber noch kein Herrscher hat die Macht die er besaß, und wenn er sie auch noch so edel gebrauchte, freiwillig schwächen lassen. Die Herrschaft kann nur beschränkt werden, wenn sie Herrenlos, – Freyheit geht nur aus Anarchie hervor. Von dieser Nothwendigkeit der Revolutionen dürfen wir das Gesicht nicht abwenden, weil sie so traurig ist. Wir müssen als Männer der Gefahr fest in das Auge blicken und dürfen nicht zittern vor dem Messer des Wundarztes. Freyheit geht nur aus Anarchie hervor – das ist unsere Meinung, so haben wir die Lehren der Geschichte verstanden.“

(Nicht nur) in diesem Kontext und Konnex ist es von Nöten, ein wenig Aufklärung zu betreiben. Zur deutschen Geschichte. Zu weiten Teilen derselben. Die, obwohl jüngere und jüngste Vergangenheit betreffend, weithin im Dunkel des Mainstreams verborgen werden. Resp. wird.

Jedenfalls in den Geschichtsbüchern unserer Kinder nicht vorkommt. Denn dort steht zwar alles Mögliche. Nicht aber die Wahrheit: Das, was uns als – vermeintliche, angebliche – Wahrheit vorgegaukelt wird, ist – immer, ausnahmslos – nichts anderes als die Sichtweise der je Herrschenden. Nicht (einmal) ihre eigene. Sondern die, die sie der Masse suggerieren. Zu eigenem Nutzen und Frommen.

Warum jedoch sind nicht alle Menschen – außer der Handvoll, die sie, die Masse, beherrscht – Anarchisten? Warum streben so wenige nach Freiheit?

Sicherlich (auch) deshalb, weil ihnen Visionen fehlen. Eine Vorstellung von dem, was könnte sein, was möglich wär. Nicht weniger. Nicht mehr.

Zu solch „utopischen“ Vorstellungen (im Sinne des Entwurfs von Potentialitäten) leistet „die Anarchie“, auch und namentlich die im Denken, leistet der „freie Geist“ (wie Nietzsche ihn definiert) einen entscheidenden Beitrag.

Selbst wenn – nach einem Diktum, das Jack London zugeschrieben wird – gelten mag: „Das Wort Utopie allein genügt zur Verurteilung einer Idee.“

Wie also muss man sich „den Anarchismus“ vorstellen? Und auch „den Anarchisten“?

Die Konzeptionen anarchistischer Modelle und diesbezüglich konkrete Umsetzungsversuche sind höchst unterschiedlich: Gewerkschafter wie Unternehmer (mit alternativen, Kapitalismus kritischen Geschäftsmodellen), Materialisten und „Esoteriker“, Gläubige (woran auch immer) und Atheisten, Anhänger bedingungsloser Gewaltfreiheit wie Befürworter von Gewalt (für eine revolutionäre Umwälzung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse), sie alle bezeichnen sich ggf. als Anarchisten; für manche ist der Aufbau alternativer sozialer Strukturen und Kommunikationsformen, zuvörderst die Selbstverwaltung das Credo, andere wiederum glauben mehr an Propaganda und – manche mehr, andere weniger – an die Propaganda der Tat.

Was also haben alle Anarchisten miteinander gemein?

Sie wollen eine freie Gesellschaft ohne Herrschaft des Menschen über den Menschen.

Sie wollen, dass die Menschen selbstbestimmt die Art und Weise ihres Zusammenlebens regeln; freie Vereinbarungen und gegenseitige Solidarität sollen Gesetze und die Konkurrenz aller mit allen ersetzen.

Sie wollen, dass der autoritäre Zentralismus gegenwärtiger Gesellschaften durch den Föderalismus zukünftiger anarchistischer Formen des Zusammenlebens ersetzt wird.

Sie, die Anarchisten, wollen eine dezentrale Vernetzung kleiner Einheiten. Anstelle immer gigantischerer, Länder und Kontinente übergreifender Formen gesellschaftlicher und ökonomischer Organisation.

Sie wollen eine Vielzahl wie Vielfalt parallel existierender gesellschaftlicher Zusammenschlüsse anstelle eines einzigen verbindlichen Staatskonstruktes.

Sie wollen nichts anderes als gleiche Rechte und Pflichten für alle Menschen.

Zur Verwirklichung benannter anarchistischer Vorstellungen müsste der Staat als Institution und autoritäres Herrschafts-Prinzip weichen.

Dafür müssten die „tragenden Säulen“ des (autoritären) Staates wie Polizei und Militär, wie Justiz und repressive Verwaltungsstrukturen, wie Kirche und Staats-Ideologie, wie pädagogische Indoktrination im Sinne des je herrschenden Systems weichen. Dafür müsste auch die kapitalistische Wirtschaftsform, die den Reichtum weniger durch die Ausbeutung der Masse ermöglicht, weichen.

(Anmerkung: Der Einfluss der Kirche auf Gesellschaft und Staat – welcher, der Einfluss, nicht zuletzt auf ihrem, der Kirche, schier unermesslichen Reichtum gründet – wird heutigentags oft unterschätzt; deshalb führte ich auch diesbezüglich einen Briefwechsel mit meiner ermordeten Frau: Der werte Leser sei in diesem Kontext auf den Anhang zu vorliegendem Buch sowie auf Band 3 der Werkausgabe verwiesen, welcher, letzterer, sich mit dem Verbrecher Martin Luther und seinem verhängnisvollen Einfluss auf die abendländische Gesellschaft und Geschichte befasst.)

Derart (wie zuvor und im Folgenden beschrieben) sind – grosso modo – die gesellschaftliche Utopie der Anarchisten. In deren Vorstellung Anarchie die moralisch höchste Form der Ordnung verkörpert – deshalb, weil Vorschriften, Regeln und Begrenzungen in freiwilliger Übereinkunft gesetzt und nicht durch pure Macht oktroyiert werden.

Folgerichtig versuch(t)en – namentlich in den letzten zweihundert Jahren – ganze Generationen von Systemlingen (wie Politiker und Pfaffen, Literaten und sonstige Affen, nicht zuletzt sogenannte Wissenschaftler) alles nur Erdenkliche, um den Anarchismus als gesellschaftstheoretisch philosophisches Konstrukt und auch als konkrete politische Bewegung zu diskreditieren.

Noch heute definiert der Duden Anarchie als „Zustand der Gesetzlosigkeit …, [als] Chaos in rechtlicher, politischer, wirtschaftlicher [und] gesellschaftlicher Hinsicht“ – durch solche Indoktrination soll suggeriert werden, dass die Verwirklichung anarchistischer Ideen jede Gesellschaft ins Chaos stürze.

Jedoch (wie angeführt zuvor): Gemäß Kant ist Anarchie „Gesetz und Freiheit ohne Gewalt“, „Gesetz und Gewalt ohne Freiheit“ indes sind nichts anderes als Despotie.

In eben diesem Sinne konstatierte (der Anarchist) Elisée Reclus zu Recht: „Anarchie ist die höchste Form der Ordnung.“

Gleichwohl – vornehmlich wegen der negativen Konnotation der Begrifflichkeit „Anarchie“ – geben sich diejenigen, die eine herrschaftsfreie Gesellschaft anstreben, die unterschiedlichsten Namen; sie nennen sich „Föderalisten“ („Abschaffung des Staates, seiner Grenzen und seines Apparates, Ersetzung durch neue Strukturen auf der Basis gleichberechtigter Kommunen und Räte, die sich dezentral [föderal] organisieren“), sie nennen sich „Kollektivisten“ (Befürworter einer Gesellschaftsordnung auf der Grundlage von Gemeinschaftlichkeit), „Mutualisten“ (Mutualismus: „genossenschaftliche Ordnung auf dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe und Solidarität“) oder „Syndikalisten“ (Anarcho-Syndikalisten: Anarchisten auf gewerkschaftlicher Basis); bisweilen sprechen sie auch von „Akratie“ statt von Anarchie oder bezeichnen sich als „Libertäre“ bzw. als libertär:

Zudem drängt sich der Verdacht auf, dass die Idee der Anarchie verwässert werden soll, auf dass niemand mehr – und „Otto Normalverbraucher“ schon gar nicht – ihre Inhalte kennt und einen Bezug zu seinem eigenen Leben herstellen kann: Deceptio dolusque suprema lex – Tarnen und Täuschen gehört zum Geschäft.

Nichtsdestotrotz sind viele Menschen „Anarchisten“ – auch wenn ihnen dieser Umstand nicht bewusst wird.

Denn sie hinterfragen, was ihnen nicht einsichtig erscheint, weigern sich zu glauben, was sie nicht verstehen, sind nicht bereit, etwas zu tun, nur weil „man“ es befiehlt.

„Der Widerstand gegen Herrschaft zieht sich ... als stetiger Strang durch die Geschichte von Individuen und Gruppen: mal als listige Spaßvögel, mal als rebellierende Aufrührer, mal als aufmüpfige Querdenker …

Taten und Figuren sind in Märchen, Liedern und Legenden überliefert, und in aller Welt erfreuen sich die... Aktionen der Kleinen gegen die Mächtigen der ungeteilten Sympathie des Publikums. Aktionen, deren Zielscheibe die Autorität und deren Wesen Freiheit und Gerechtigkeit sind.“

Jedenfalls: Von entscheidender Bedeutung ist für Anarchisten das Verständnis von Freiheit – ihnen genügen keine Teilfreiheiten wie den (Wirtschafts-)Liberalen die Freiheit des Handels, den Patrioten die Freiheit des Vaterlandes oder den Aufklärern die Freiheit des Geistes, vielmehr ist Freiheit für sie unteilbar und all-umfassend, betrifft ebenso das alltägliche Leben der Menschen wie deren globale Organisation.

Freiheit ist für Anarchisten mit sozialer Gerechtigkeit verbunden; es gibt keine Anarchie ohne Gerechtigkeit: „Freiheit ohne Sozialismus ist Privilegientum und Ungerechtigkeit – und Sozialismus ohne Freiheit ist Sklaverei und Brutalität.“ So, zutreffend, Bakunin.

Folgerichtig wurde die Begrifflichkeit vom „sozialen Anarchismus“ geprägt („Arten des Anarchismus: … sozialer Anarchismus, für den kleine menschliche Gemeinschaften [Familie, Dorf, Kleinbetrieb, Arbeiterzellen] ohne starre Regeln und Zwang harmonisch kooperieren [Tolstoi, Bakunin, Anarchosyndikalisten]“).

Anarchisten kämpfen nicht nur gegen, sondern sie kämpfen auch und insbesondere für (konstruktives libertäres Element): beispielsweise kämpfen sie gegen Rüstung und für den Frieden, gegen Atomkraftwerke sowie Umweltzerstörung und für Ökologie, gegen Behördensumpf, Polizeiwillkür und Justizarroganz sowie für ein Verwaltungssystem, das den Menschen dient, nicht umgekehrt.

Dadurch gebiert (staatliche) Unterdrückung nicht Gewalt, sondern Lösungsansätze und neue Denk- und Lebensmodelle.

Auch wenn im historischen Kontext einige anarchistische Strömungen, namentlich zu Ende des 19. Jhd., ihre Zuflucht in Gewalt gegen die Repression, die sie selbst erfuhren, suchten: Die Zahl der Pazifisten im Kampf der Anarchisten gegen ihre Unterdrückung ist ungleich größer als die Zahl derer, die Gleiches mit Gleichem und Gewalt mit Gewalt vergelten (wollten oder wollen).

Zudem sollte man nicht alle für Anarchisten halten, die mit der schwarzen Fahne wedeln oder oder in schwarzer Montur auf alles einprügeln, was nicht ihrer Gesinnung oder der des Verfassungsschutzes ist: Viele von denen segeln unter falscher Flagge. Wie einst die Piraten.

Vielmehr ist der Anarchismus ein fort- und immerwährendes Experiment, ein „Basar der Vielfalt“, aus dem sich ein jeder, indes nicht nach Belieben bedienen kann. Denn Anarchismus ist ebenso vielfältig wie in keiner Weise willkürlich.

Mithin ist der Anarchismus kein (definiertes und definitives) Ziel, sondern ein Zustand sozialen Zusammenlebens, den die, welche sich gesellschaftlich organisieren, immer wieder wie immer wieder neu bestimmen müssen; er ist nicht die marxsche Utopie einer klassenlosen Gesellschaft, sondern ein ständiges Suchen, Versuchen, Wagen und Ausprobieren.

Aus dem (obersten) Ziel des Anarchismus, die Herrschaft des Menschen über den Menschen zu beenden, aus dem sozial geprägten anarchistischen Freiheitsgedanken leitet sich die un-bedingte Forderung der Anarchisten ab, den Staat in seiner jeweils herrschenden Form, seine Macht- und Herrschaftsverhältnisse abzuschaffen.

Und Alternativen zur alten Staatlichkeit zu entwickeln:

 So viel Kollektivität wie nötig, so viel Individualität wie möglich.

 Gleiche Chancen und Rechte, aber keine Gleichmacherei.

 Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise. Abschaffung des kapitalistischen Geld- und Zins-, namentlich des Zinses-Zins-Systems.

 Ersatz dieses kapitalistischen Wirtschaftssystems, nicht durch eine sozialistische Plan-, sondern durch eine solidarische Bedarfswirtschaft.

 Überwindung von Klassen- und sonstigen Macht-Hierarchien: Zwar werden Menschen unterschiedlich geboren. Und sollen unterschiedlich bleiben. Aber sie sollen nicht aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Rasse, ihrer Nationalität oder Religion, namentlich nicht aus wirtschaftlichen Gründen irgendwelche Privilegien besitzen. In diesem Zusammenhang sind beispielsweise eine Vielzahl rechtlicher Bestimmungen, insbesondere Eigentum, Besitz und Erbrecht betreffend, neu zu regeln.

 Durch Überwindung des Staates sind auch dessen Institutionen (grundsätzlich) in Frage zu stellen und weit(est)gehend abzuschaffen; dies gilt namentlich für die Regierung des jeweiligen Staates, für seine bürokratischen Strukturen, für Armee, Polizei und Justiz, ebenso für das staatliche Erziehungsmonopol; zu beseitigen ist auch die Hoheit einiger weniger über die Medien (Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen).

 Weil viele religiöse und anarchistische Vorstellungen, Moral und Ethik betreffend, durchaus übereinstimmen, ist der Anarchismus eher antiklerikal (also gegen religiös verbrämte Herrschaftsstrukturen gerichtet) als anti-religiös.

 „In freien Gesellschaften darf es kein Eigentum an Menschen mehr geben. Anarchisten wenden sich deshalb gegen die alltäglichen Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnisse – speziell die von Frauen und Kindern. Die meisten Libertären lehnen daher auch die Institution der Ehe und der ´bürgerlichen Kleinfamilie´ ab. In ihr sehen sie eine wichtige Stütze des Staates.Sie ziehen freiwillige Zusammenschlüsse nach dem Prinzip der Wahlverwandtschaft vor, etwa in Großfamilien, Wohngemeinschaften oder Kommunen, deren Zusammensetzung wechseln kann.Das bedeutet übrigens nicht, daß alle Menschen so leben müßten oder daß sich zwei Menschen nicht etwa lebenslang lieben und [einander] ´treu´ sein dürften – vorausgesetzt, sie tun dies freiwillig und ohne den erpresserischen Zwang des Eherechts.Vielmehr geht es darum, auch andere Formen zuzulassen und die in normalen Familien übliche Hierarchie zu überwinden: Frauen und Kinder sollen als gleichberechtigte Menschen akzeptiert sein, und die religiös gefärbte Sexualmoral soll einer lustvollen Gleichberechtigung weichen. Das Patriarchat als die bei uns gängige Form der Herrschaft steht damit automatisch im Zielkreuz anarchistischer Kritik.“

 Wichtiges Anliegen ist den Anarchisten auch die Ökologie. Denn eine frei Welt ist nicht in einer zugrunde gehenden Umwelt möglich.

 Libertäre Gesellschaften sind nicht das Paradies; auch in ihnen wird es Ungerechtigkeit, Aggressionen, wohl auch Kriminalität geben. Gleichwohl sollen gesellschaftliche Strukturen entwickelt werden, in denen soziales Fehlverhalten minimiert wird.

Denn immer stellt sich die Frage: Wer ist Täter? Und wer ist Opfer?

Auch wenn staatlich-autoritäre Strukturen zum Ziel haben, aus jedem Strafgefangenen einen Dymas zu machen, werden sie doch, immer wieder, einen neuen Gestas hervorbringen. Denn Gewalt erzeugt Gegengewalt. Die wir dann im Knast zu büßen haben und zudem – wie Dimas – durch unsere Unterwerfung bereuen sollen.

Derart schaffen seit biblischer Zeit die Täter ihre Opfer. Und verzeihen ihnen, den Opfern, wenn sie, die Opfer, bereuen, dass sie durch der Täter Taten zu Opfern wurden. Das nennt man strukturelle Gewalt. Oder auch die Logik der Herrschaft. Dem wollen Anarchisten wehren.

Und sie, die Anarchisten, wollen, beispielsweise, auch den (-selben Herrschafts-) Strukturen wehren, die Ursache und Anlass für psychiatrische Anstalten bzw. für die Zwangseinweisung von (allein in Deutschland jährlich fast 200.000!) Menschen sind:

„Psychisch Kranke sind in rechtsstaatlichen Demokratien die einzigen Menschen, denen die Freiheit entzogen werden darf, ohne dass sie eine Straftat begangen haben.“

Die Psychiatrie hat eine janusköpfige Doppelfunktion: Sie soll nicht nur psychisch leidenden Menschen helfen, sondern und insbesondere auch sozial abweichendes Verhalten kontrollieren sowie auffällige, nicht berechenbare, unerwünschte, kurzum abweichende Handlungsweisen sanktionieren.

Psychiater sind befugt, Zwang und Gewalt auszuüben, und dies im staatlichen Auftrag; dadurch ist ihre Funktion der ordnungspolitischen Rolle der Polizei vergleichbar und ergänzt die Tätigkeit der Hüter dessen, was nach gesellschaftlichem Konsens (?) für Recht und Ordnung gehalten wird.

Die Macht der Psychiatrie und der sie ausübenden Psychiater ist mithin gewaltig; sie entziehen Menschen die Freiheit, nötigen ihnen eine „Behandlung“ auf – meist mit Psychopharmaka, nicht selten, auch heute noch, mit (noch schlimmeren) Foltermethoden wie beispielsweise der Elektrokrampftherapie …

Soweit irgend möglich, wird das, was hinter Psychiatriemauern geschieht, vor der Öffentlichkeit verborgen. Gewalt ist in der Psychiatrie gleichwohl allgegenwärtig, jeder Insasse kann deren Opfer werden, jeder dort Tätige, ob Pfleger oder Arzt, muss bereit sein, sie anzuwenden.

Eine Zwangseinweisung kann jeden treffen – wenn er den falschen Leuten in die Quere kommt, ist es sehr schnell um seine Bürgerrechte, um seine Freiheit und seine körperliche Unversehrtheit geschehen.

Jedenfalls: Wer sich nicht biegt wird gebeugt. Wer sich nicht beugt wird gebrochen. In patriarchalischen strukturell gewaltbasierten Gesellschaften. Dem stellen Anarchisten die Vorstellung einer von der Herrschaft des Menschen über den Menschen freien Gesellschaft gegenüber. Der werte Leser möge selbst entscheiden, in welcher dieser Gesellschaften er leben will.

Mithin, somit: „Die Anarchisten“ sind (nicht nur eine überaus heterogene Bewegung, sondern auch und namentlich) nicht die gemeingefährlichen Attentäter, Bombenleger, Dynamitarden, Kleine-Kinder-Fresser, als die „man“, will meinen: als welche die Herrschenden, diejenigen, die ihre Machtstrukturen durch jede egalitäre Bewegung bedroht sehen, sie mit Vorliebe darstellen. Anarchisten sind vor allem eins: Freiheitsliebende, die jegliche Herrschaft des Menschen (oder eines Systems) über den Menschen ablehnen.

Anarchisten sind und waren – ob bewusst oder unbewusst sei dahin gestellt, jedenfalls faktisch – ein Kontrapart zu all den Bewegungen, die Menschen unterdrücken oder – oft gefährlicher noch, weil sehr viel schwerer zu erkennen – in eine bestimmte Richtung zu „erziehen“, zu manipulieren versuchen.

Sie waren und sind ein Gegenentwurf für viele derer, die sich in „geschlossenen“ gesellschaftlichen Systemen (wie z.B. in dem als kommunistisch/sozialistisch bezeichneten der DDR) nicht (mehr) zu Hause fühl(t)en.

Insofern ist Anarchie – eo ipso – an kein (gesellschaftliches, politisches, religiöses, philosophisches) System gebunden; sie, die Anarchie ist schlichtweg die Suche des Menschen nach sich selbst: in seiner Un-bedingtheit, frei von allem und jedem, nur begrenzt durch die Unverletzlichkeit anderer freier Menschen und der Grenzen, die diese zum Schutz ihrer je eigenen Person setzen.

Insofern ist Anarchie der Todfeind jeder Ordnung, die auf Herrschaft, Macht und Unterdrückung, auf oben und unten beruht; sie ist letztlich eine Gesellschaft von Freien unter Freien, sie ist die soziale und politische Manifestation von Humanismus und Aufklärung.

Dies ahnten, fühlten all die „Anarchisten“ im kurzen langen Jahr „der Wende“. In diesem Jahr zwischen 1989 und ´90, wo alles möglich schien. Und tendenziell auch war. Als die Menschen sich selbst ein Stück näher kamen. Als sie erkannten, wer sie sein könnten. Als die große Chance einer wirklichen gesellschaftlichen Erneuerung bestand (ob die „friedliche Revolution“ nun als false flag inszeniert war oder auch nicht); das Volk hatte sich bewegt, und aus dieser Bewegung entstand ein Sog, der nicht nur das Alte hinweg spülte, sondern auch „das Neue“ (dem es Form, Inhalt und Gestalt zu verleihen galt) erst möglich machte.

Indes: Allzu sehr war die große Mehrheit der DDR-Bürger dem alten (Denken und Fühlen in obrigkeitsstaatlichen Strukturen) verhaftet, als dass, in großer Zahl, neue Formen des Zusammenlebens, mehr noch des (individuellen wie gesellschaftlichen) Seins entstanden wären, entstehen konnten.

Insofern war 1989/90 nicht das Jahr der Wende, sondern – in vielerlei Hinsicht, was darzustellen (namentlich) in den folgenden Bänden unseres Briefwechsels dezidiertes Ziel ist – das Jahr der vertanen Möglichkeiten. Die sich derart, in unserer Lebenszeit, erneut nicht bieten werden.

Insofern ist – ex post betrachtet – 1989/90 kein Jahr der Freude (über den Aufbruch), sondern ein Jahr der Trauer (über all die Möglichkeiten, die vertan wurden).

Vertan – so meine dezidierte Meinung; Akten indes, die meine Sicht der Dinge ultimativ beweisen könnten, werden sicherlich nicht mehr zu meinen Lebzeiten deklassifiziert –, vertan nicht nur, weil (nicht von ungefähr!) eine Adelheid Streidel Oskar Lafontaine den Hals aufschlitzte, weil Karsten Rohwedder – angeblich von einer nicht existenten 3. Generation der RAF – erschossen wurde und weil ein paar Jahre zuvor ein gewisser Michail Gorbatschow bestochen worden war (und hernach, bis dato, weiterhin fleißig und in größtem Stil bestochen wird – was alles käme ans Tageslicht, wenn dieser Mann reden würde), sondern vertan auch und insbesondere, weil die Masse der DDR-Bürger, obrigkeitsstaatlich erzogen, nicht einmal die Möglichkeiten erkannte, die sich ihr in diesem Jahr ´89/´90 boten. (Anm.: Vorangehende Aussagen werden selbstverständlich in diesem und/oder in den Folgebänden des Briefwechsels belegt.)

Vielleicht auch, weil sie schlichtweg Angst hatten vor der Freiheit. Denn Freiheit ist ein Stück weit auch Anarchie – „altgr. Ἀναρχία anarchía: ´Herrschaftslosigkeit´, von ἀρχία archía ´Herrschaft´ mit verneinendem Alpha privativum“, wie Wikipedia, ausnahmsweise zutreffend, vermerkt (und wie, zur Etymologie, bereits zuvor ausgeführt wurde).

Und das Fehlen von Herrschaft (anderer über sie) macht den meisten Menschen Angst. Weil sie diesen Zustand nicht kennen. Möglicherweise mit Chaos assoziieren. Auf jeden Fall aber mit (einer wie auch immer gearteten) Bedrohung verbinden.

Und so strebten sie, die Bürger der (Noch-)DDR, vom Regen in die Traufe. Vom Pseudo-Sozialismus in den höchst realen Kapitalismus. Der ein immer neo-liberaleres Angesicht annahm.

Suum cuique möchte man sarkastisch anmerken: Wer sich die Freiheit (die ihm im Wendejahr auf silbernem Tablett angeboten wurde) nicht erobert, hat sie auch nicht verdient.

Wie dem auch sei: „Die Geschichte des Anarchismus in Deutschland durchlebte verschiedenste Phasen und organisatorische Ansätze – von anarchistischen Bombenanschlägen und der ´Propaganda der Tat´ über anarchistische Gruppen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung (ab 1918 repräsentiert in der anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsbewegung / der FAUD) bis hin zu alternativen Lebenswegen und Siedlungsprojekten nach den Ideen von Gustav Landauer u.a.

In der bayrischen Räterepublik kurz nach dem Ersten Weltkrieg waren anarchistische Ideen ebenso präsent wie 1968 und in der Alternativbewegung der 70er- und 80er-Jahre“ (Anarchistische Texte [Deutschland], https://www.anarchismus.at/geschichte-des-anarchismus/deutschland, abgerufen am 05.10.2019).

Ich bin überzeugt, dass kaum einer derjenigen, die im kurzen langen Jahr der sog. Wende die Anarchie – jeder auf seine Art – probten, sich der langen und wechselvollen Geschichte des (deutschen) Anarchismus bewusst war. Aber die Menschen in der Noch-DDR probten sie, die Anarchie. Wenn auch nur für einige, für einige wenige Monate.

Wollten frei sein von Unterdrückung, von der Herrschaft des Menschen über den Menschen.

Und liefer(te)n uns Erfahrungen, Geschichten, Anekdoten, die Hoffnung geben.

Hoffnung, dass es gerade in Zeiten des Umbruchs, der immer auch ein Aufbruch ist, möglich wird, sich von den alten Herrschaftsstrukturen zu befreien. Seien es die der DDR, eines Staates, der unter falscher Flagge, unter der eines angeblichen Sozialismus´/Kommunismus´ segelte, seinen es die unseres kapitalistisch-neoliberalen Herrschafts-Systems, seinen es die einer (geplanten wie bereits teilweise implementierten) neuen, will meinen: der Neuen Weltordnung.

Indes: Wir brauchen keine neuen Ordnungen, von denen hatten und haben wir genug, wir brauchen vielmehr eine Emanzipation von all diesen Ordnungen, die nur eines im Sinn haben – die Knechtung der Masse, auf dass es einer kleinen Minderheit, den „Herren dieser Welt“ (gleich, in welcher oder über welche gerade aktuelle Gesellschaftsform sie herrschen) wohl ergehe.

„Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, [nach all] den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit.“ So Stefan Heym in seiner Rede am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz. Und weiterhin:

„Welche Wandlung!

Vor noch nicht vier Wochen: Die schön gezimmerte Tribüne hier um die Ecke, mit dem Vorbeimarsch, dem bestellten, vor den Erhabenen!

Und heute? Heute Ihr! Die Ihr Euch aus eigenem freien Willen versammelt habt, für Freiheit und Demokratie und für einen Sozialismus, der des Namens wert ist …

´Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen.´ Und das, Freunde, in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen danebengegangen, und wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis, und später auch.

Aber sprechen, frei sprechen, gehen, aufrecht gehen, das ist nicht genug. Laßt uns auch lernen zu regieren.

Die Macht gehört nicht in die Hände eines einzelnen oder ein paar weniger oder eines Apparates oder einer Partei. Alle müssen teilhaben an dieser Macht.

Und wer immer sie ausübt und wo immer, muß unterworfen sein der Kontrolle der Bürger, denn Macht korrumpiert. Und absolute Macht, das können wir heute noch sehen, korrumpiert absolut.

Der Sozialismus – nicht der Stalinsche, der richtige –, den wir endlich erbauen wollen, zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes.“

Eine solche Demokratie – nicht eine Karikatur wie unsere sogenannte repräsentative Demokratie, in welcher die so genannten Repräsentanten das machen, was das Volk nicht will, mithin das, wofür es, das Volk, sie, die Repräsentanten, nicht gewählt hat, und in der jene, die fälschlicherweise Volksvertreter genannt werden, eben nicht die Interessen des Volkes vertreten, sondern die Belange derer, die sie gut für ihre Dienste bezahlen, manchmal auch erpressen mit gar mancher Schweinerei, die ihnen, den angeblichen Vertretern, den vermeintlichen Repräsentanten, nur deshalb zugestanden wurde, um sie erpressbar zu machen –, eine solche Demokratie im Sinne Heyms, des Alterspräsidenten des zweiten gesamtdeutschen Bundestages, wünsche ich mir, auch Anarchie im Sinne der freien Entfaltung des je Einzelnen, jedenfalls Demokratie wie Anarchie auf Grundlage eines freien Geistes im Sinne von Nietzsche.

Mithin: Den aufrechten Gang im Heym´schen Sinne müssen wir lernen: Ob wir ihn letztlich als Anarchisten, Sozialisten, Kommunisten oder Demokraten gehen ist oft und vielerorts beliebig (will meinen: dem Belieben des je Einzelnen anheim gestellt). Denn die, welche ihn, den aufrechten Gang üben, wollen nicht über andere herrschen; sie wollen nur Mensch sein unter Menschen.

Die Zeit der Wende zeigt, dass es viele Arten des aufrechten Ganges gibt. Und dass viel versucht haben, diesen Gang zu gehen.

Es war ihnen nur für kurze Zeit vergönnt – die „realpolitischen“ Verhältnisse haben sie schnell, allzu schnell wieder eingeholt.

Aber sie werden diese Zeit nie vergessen. Weil sie plötzlich eine Ahnung hatten, wie sich Freiheit anfühlt.

Wenn sie in diesem Sinne Anarchisten bleiben, wird die Saat, die vor 30 Jahren gesät wurde, bei der so dringend notwendigen nächsten gesellschaftlichen Wende aufgehen.

Auf dass wir das Joch derer abwerfen, die uns von angeblicher Demokratie und den Segnungen des (neoliberalen) Kapitalismus´ künden. Und doch nur eines im Sinn haben: Uns ungleich mehr noch als bisher unter ihre Knute zu zwingen.

Deshalb mein Motto ist: Ich will nicht Herr sein. Auch nicht Knecht. Ich bin und bleibe Anarchist.

Jedoch: Den, der von den Mühen der Niederungen, der Ebenen kündet, hört man nicht gern. Den, der von Solidarität spricht, hört man nicht gern. Den, der vom Ausgleich redet, namentlich von dem zwischen arm und reich, hört man nicht gern.

In der Tat, „wahre“ Kommunisten hört man nicht gern. Ebenso wenig Anarchisten. Jedenfalls solche, die sich nicht nur (oder gar fälschlicherweise wie die „Anarcho“-Kapitalisten) ein entsprechendes Etikett auf die Stirn kleben: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen. In der Tat. Insofern möge der werte Leser immer (auch) an Etikettenschwindel denken. Nicht nur, wenn er von Anarchisten (und ihren angeblichen Taten) hört.

Zugegeben: Die Begrifflichkeiten „Anarchist“, „Anarchie“ und „Anarchismus“ sind aus der Mode gekommen. Heutzutage spricht man von Terroristen und Islamisten, wenn man – vermeintliche oder tatsächliche – Untaten (die ja keine Un-Taten, vielmehr Misse-Taten sind) anprangert. Oder man spricht von Rechts-Extremisten, Rechts-Radikalen oder einfach nur von „Rechten“ (wobei keineswegs die Auf-Rechten gemeint sind: Früher sollte das protestierende linke Studenten-Geschwärl „nach drüben“ gehen; heute soll sich jeder, bevor er den Mund aufmacht, nach Chemnitz trollen – tempora mutantur sed nos non mutamur in illis).

In der Tat: „Der“ Anarchismus spielt heutzutage (oder vielleicht auch nur der-zeit) keine Rolle mehr, er hat ausgedient. Obwohl er doch nie dienen wollte. Jedenfalls nicht den Herrschenden. Bei Ausübung ihrer, der Herrschenden, Macht. Über uns, die Beherrschten.

Er, der Anarchismus, dient allenfalls noch als Kinderschreck. Wenn man von seinen (angeblichen) Untaten spricht. Beispielsweise denen der Dynamitarden. Die – in Deutschland jedenfalls – allenfalls ein paar Bömbchen legten, die nicht einmal (größeren) Sachschaden angerichtet haben (s. den Anschlag auf das Niederwalddenkmal). Oder schlichtweg False-Flag-Aktionen waren (s. ebenfalls benannten Anschlag).

Wohingegen der Erfinder des Dynamits, Alfred Nobel – nach dessen Erfindung die Dynamitarden benannt wurden –, einen Preis gestiftet hat, der nach ihm, nicht nach seiner Erfindung genannt wurde und jedes Jahr, durchaus in dem von Nobel erwünschten Sinne, vergeben wird. Ein Preis, mit dem, fast ausnahmslos, solche Laureaten – als ihrer Herren Knechte – geehrt werden, die alles, wirklich alles tun resp. propagieren, wogegen Anarchisten kämpfen. (Über „Nobelpreisträger – Mythos und Wirklichkeit“ veröffentliche ich seit Jahren eine Monographien-Reihe; dadurch habe ich die Untaten vieler Friedens-, Literatur- und Medizin-Nobelpreisträger bereits aus dem Dunkel wohlwollenden Schweigens ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt; auch die Preisträger der anderen Sparten dieses Preises werden von mir – sofern mich solche Kräften, die Nobelpreisträger „machen“, nicht zuvor aus dem irdischen Leben „abberufen“ [lassen] – eine adäquate Würdigung erfahren.)

Summa summarum könnte man somit konstatieren, als gesellschaftliche Bewegung habe der Anarchismus ausgedient; umso wichtiger ist es für das Überleben der Menschheit, vielleicht auch „nur“ des Mensch-Seins geworden, die grundlegende anarchistische Idee endlich zu realisieren: das Ende der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Insofern sind die Ideen des Anarchismus´ und deren Verwirklichung wichtiger denn je.

Somit, mithin, gar wohl bedacht, zum wiederholten Male frank und frei, wie auch die Folge eines solch´ Geständnis´ sei: Ich will nicht Herr sein, auch nicht Knecht, verabscheu jeden, der über Menschen herrschen möcht; kurzum, damit ihr´s alle, ohne Zweifel, wisst: Ich bin und bleibe Anarchist.

„… Gesetz und Freiheit ohne Gewalt“: „Die höchste Form der Ordnung“

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