Читать книгу „… Gesetz und Freiheit ohne Gewalt“: „Die höchste Form der Ordnung“ - Richard A. Huthmacher - Страница 19
ANARCHISMUS IN DEUTSCHLAND. VON DEN ANFÄNGEN BIS ZUM 1. WELTKRIEG
ОглавлениеLiebste M.!
Auf Deine Anregung hin habe ich mich in letzter Zeit ein wenig mit der Geschichte der Anarchie in Deutschland beschäftigt. Weil deren – der Anarchie – Historie in den gegenständlichen Kontext passt (dem wir uns in unseren nächsten Briefwechseln widmen wollen: Wende, Wendejahr, anarchistische Phänomene und deren Tradition sowohl im ehemaligen sozialistischen Bruderland wie in „Gesamt-Deutschland“), im Folgenden einige Gedanken, Überlegungen und Fakten zu Geschichte und Tradition der Anarchie in Deutschland:
Es waren, zweifelsohne, Napoleon und seine Usurpationspolitik, die (zunächst) den nationalstaatlichen Gedanken in Deutschland beförderten; selbst Fichte, zuvor alles andere als ein Nationalist, hielt seine „Reden an die deutsche Nation“ 8 9; „Der geschlossene Handelsstaat“ war – folgerichtig – eine seiner Forderungen 10.
Wenige Jahre später wurden Schriftsteller wie Heinrich Heine und Ludwig Börne dann durch republikanische, sozialistische und anarchistische Ideen (letztere sozusagen als Gegenentwurf zum Nationalstaatsgedanken) beeinflusst (namentlich durch die Saint-Simonisten) 11 12.
Es war wohl Börne, der sich in Deutschland als erster für die Anarchie (in politischem Sinne aussprach) 13: „Nicht darauf kommt es an, dass die Macht in dieser oder jener Hand sich befinde: die Macht selbst muss vermindert werden, in welcher Hand sie sich auch befinde. Aber noch kein Herrscher hat die Macht, die er besaß, und wenn er sie auch noch so edel gebrauchte, freiwillig schwächen lassen. Die Herrschaft kann nur beschränkt werden, wenn sie herrenlos – Freiheit geht nur aus Anarchie hervor. Von dieser Notwendigkeit der Revolution dürfen wir das Gesicht nicht abwenden, weil sie so traurig ist. Wir müssen als Männer der Gefahr fest ins Auge blicken und dürfen nicht zittern vor dem Messer des Wundarztes. Freiheit geht nur aus Anarchie hervor – das ist unsere Meinung, so haben wir die Lehren der Geschichte verstanden.“
Zudem, so Börne 14 [der werte Leser s. auch 15]: „Um sich zu schützen, will jede Nation die stärkste sein … Die Lösung liegt [mithin] nicht im unabhängigen Staat; sie kann nur in der Föderation liegen, die den grossen Rahmen für alle darstellt, jedem seine eigene unabhängige Entwicklung gestattend. Von hier aus schreitet man ... zu den vielseitigen Beziehungen untereinander, die alle Tätigkeiten umfassen, die ... Menschen in einer Atmosphäre gesicherten Friedens auf vielen Gebieten des sozialen Lebens verrichten. Die Summe aller Tätigkeiten dieser freien Vereinigung ... ist die Anarchie …“
Anfangs der 1840-er Jahre begründete Max Stirner mit „Der Einzige und sein Eigentum“ 16 17 und seinem viel zitierten Diktum: „Mir geht nichts über Mich“ 18 den „individuellen Anarchismus“ 19, üblicherweise als Amoralismus 20 oder Ethischer Egoismus 21 22 bezeichnet.
In der Auseinandersetzung mit Werken von Ludwig Feuerbach 23 („Die zweite Quelle der freiheitlichen Ideen in Deutschland war die Philosophie Ludwig Feuerbachs, welche dem Hegelschen Alpdrücken den Gnadenstoß gab. Diese Philosophie ... war zweifellos nicht anarchistisch. Aber sie stellte die Rolle des Menschen wieder her, welche im Hegelismus ... vernichtet worden war … Es ist der Mensch, welcher Gott geschaffen hat, sagte Feuerbach, und dieser Gedanke gab Bakunin den endgültigen Anstoss zu seiner geistigen Befreiung; und Pi y Margall schreibt in seinem Buch ´Die Reaktion und die Revolution´ [1854]: ... ´Homo tibi deus hat ein deutscher Philosoph gesagt. Der Mensch ist für sich selbst seine Wirklichkeit, sein Recht, seine Welt, sein Gott, sein alles. Es ist die ewige Idee, welche sich vergegenständlicht und aus sich selbst heraus das Bewusstsein erwirbt; sie ist das Wesen aller Wesen, Gesetz und Gesetzgeber, Herrscher und Untertan ...´“ Max Nettlau: Der Anarchismus in Deutschland …., wie zit. zuvor), in der Auseinandersetzung auch mit Friedrich Hegel und Pierre-Joseph Proudhon 24 wurden um die Mitte des 19. Jahrhunderts anarchistische Gedanken entwickelt und systematisiert; es war Proudhon, der mit seinem solidarischen Anarchismus Max Stirner gleichsam kontrapunktierte.
Beeinflusst durch die Schriften von Karl (Theodor Ferdinand) Grün 25 – eines deutschen Journalisten, Philosophen und Politikers (Mitglied der Preußischen Nationalversammlung nach der 1848-“Revolution“), der (während seines Exils in Paris) eng mit Proudhon zusammenarbeitete und den Nachlass von Ludwig Feuerbach herausgab – publizierte Wilhelm Marr 1844/45 die „Blätter der Gegenwart für soziales Leben“; diese (in der Schweiz herausgegebene) Zeitung gilt als das erste Propaganda-Organ für anarchistische Ideen in der deutschen Arbeiterschaft 26.
Weitere Verbreiter freiheitlich-anarchistischer Ideen waren beispielsweise der Schriftsteller Arnold Ruge 27 und Richard Wagner 28 29.
Während die „bürgerlich anarchistischen“ Strömungen in der zweiten Hälfte des (19.) Jahrhunderts nach und nach an Bedeutung verloren, entwickelten sich zunehmend proudhonistische 30 und kollektivistisch-anarchistische 31 Bewegungen; sie waren (auch) eine Folge der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation (1864) 32.
In Deutschland indes waren anarchistische Ideen zu dieser Zeit nicht sonderlich präsent; erst durch die Schriften Dührings 33 34 35 36 (namentlich durch seinen Kursus der National- und Sozialökonomie [1873] 37 und durch die Verbreitung sozietärer bzw. anti-kratischer Vorstellungen 38, die weitgend mit denen der kollektivistischen Anarchisten ident waren, erst durch die Schriften Dührimgs) fanden anarchistische Vorstellungen, insbesondere unter den Sozialdemokraten, größeren Anklang.
Ein erstes Zentrum anarchistischer Bewegungen im deutschsprachigen Raum entstand 1876 in Bern (Stichworte: Arbeiterverein, Arbeiterzeitung, Kropotkin 39).
Ein wichtiger deutscher Anarchist zu dieser Zeit war Otto Rinke, der (in der Schweiz) zusammen mit Kropotkin die Anarchistisch-Kommunistische Partei Deutscher Sprache gründete und als Vertreter des Anarchokommunismus gilt:
„In wirtschaftlicher Hinsicht wird er [der kommunistische Anarchismus] keinen exklusiven Besitz an den Lebensgrundlagen zulassen, um sich selbst deren freie Nutzung zu erhalten. Das Monopol an Land, der Privatbesitz von Produktionsanlagen, von Vertriebs- und Kommunikationsmitteln kann daher in der Anarchie nicht toleriert werden. Die zum Leben nötigen Dinge müssen jedem frei zugänglich bleiben.
Zusammengefaßt bedeutet kommunistischer Anarchismus also:
Die Abschaffung von Regierung und von zwangausübender Autorität in all ihren Spielarten. Gemeinsames Eigentum – das heißt, freie und gleiche Beteiligung an der allgemeinen Arbeit und am allgemeinen Wohlstand.
´Sie sagen, daß die Anarchie Gleichheit in wirtschaftlicher Hinsicht garantiert´ ... ´Heißt das gleiche Entlohnung für alle?´
Ja, das heißt es. Oder, was auf dasselbe hinausläuft, gleiche Beteiligung am öffentlichen Wohlstand. Denn, wie wir schon wissen, ist Arbeit eine Sache der ganzen Gesellschaft. Niemand kann alles durch eigenes Bemühen allein schaffen.
Wenn also die Arbeit sozial ist, muß ihr Resultat, der erwirtschaftete Reichtum, selbstverständlich auch sozial sein und der Gemeinschaft gehören. Aus diesem Grund kann niemand einen Alleinbesitz von gesellschaftlichem Reichtum beanspruchen, in dessen Genuß ja alle gleichermaßen kommen sollen“ 40.
Nach Erlass des Bismarckschen Sozialistengesetzes (Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie 41 42) wurden Sozialdemokraten und Anarchisten zunehmend in den Untergrund ge- und verdrängt, viele von ihnen wurden verhaftet, etliche entkamen ihrer Verhaftung durch Flucht ins Ausland. (Ich erlaube mir, meine Liebe, auf die heutigen Zensurbestrebungen, namentlich das Internet betreffend, hinzuweisen; sie sind, wenn wir nicht den – weit fortgeschrittenen – Anfängen wehren, Grundlage ähnlicher Gesetze wie derer, die Bismarck zwecks Unterdrückung anders Denkender implementierte.)
Zum Anarchokommunismus / kommunistischen Anarchismus resp. zu dessen gesellschaftlichen Auswirkungen bis heute s. auch 43.
Entgegen landläufiger Meinung waren anarchistische Gewalttaten (eher) selten (jedenfalls in Deutschland) 44 45; im kollektiven Gedächtnis blieb der misslungene Anschlag auf Kaiser Wilhelm I. bei der Enthüllungsfeier des Niederwald-Denkmals haften 46:
„Am westlichen Ende des Taunus im Regierungsbezirk Wiesbaden zwischen der Wisper und dem Rhein erhebt sich ein mit prächtigen Buchen und Eichen gekrönter Bergrücken, genannt der Niederwald. An seinem Abhang liegen längs des Rheins die Weinberge von Rüdesheim und Aßmannshausen. Aus Anlaß des Deutsch-Französischen Krieges (1870 bis 71) wurde hier vom Dresdener Bildhauer Schilling ein ungemein imposantes Nationaldenkmal von gewaltigem Umfange errichtet. Auf einem durch Reliefs und allegorische Figuren geschmückten, 25 Meter hohen Sockel erhebt sich die hohe Gestalt der Germania ...
Am 28. September 1883 wurde das Denkmal in Gegenwart des Kaisers Wilhelm I., des Kronprinzen, späteren Kaisers Friedrich, des Prinzen Wilhelm, jetzigen Deutschen Kaisers, sämtlicher deutschen Bundesfürsten und vieler anderer Fürstlichkeiten, sowie fast aller königlichen Prinzen, des damaligen Reichskanzlers Fürsten Bismarck, des Generalfeldmarschalls Grafen v. Moltke und fast aller preußischen Minister, Bundesratsmitglieder, sowie aller Botschafter und Gesandten fremder Staaten am Berliner Hofe und vieler Generäle in feierlichster Weise enthüllt.
Die Festversammlung ahnte nicht, daß zwei Leute alle Vorbereitungen unternommen hatten, um, sobald die Hülle des Denkmals fiel, sämtliche Festteilnehmer mittels Dynamit in die Luft zu sprengen. Nur der furchtbare Regen, der tags vorher und die ganze Nacht hindurch sich über das Erdreich ergoß, hatte den teuflischen Plan vereitelt.“
Indes: Es gibt durchaus Historiker und kundige Zeitzeugen, die – mit gutem Grund – von einer False-Flag-Operation ausgehen 47:
„Die Geschichte von August Reinsdorf und der Niederwald-Verschwörung ist … geeignet, auf die Tätigkeit der politischen Polizei ein ... Licht zu werfen. Diese Institution, welche von allen freiheitlich gesinnten Menschen als eines der unwürdigsten und schmählichsten Hilfsmittel der Reaktion betrachtet werden muss, bediente sich gewisser Subjekte, deren Beruf es ist, unter der heuchlerischen Maske des Genossen ihre Opfer dem Zuchthause und dem Henker zuzuführen [Kommt mir, Liebste, irgendwie bekannt vor und erinnert mich, beispielsweise, an das „Celler Loch“ 48] …
Am 7. Februar 1885 legte August Reinsdorf in Halle mutig sein Haupt auf den Block, nachdem ihm ein Anschlag missglückt war, der im Falle seines Gelingens die unabsehbarsten Folgen gehabt haben würde. Noch ist an der Niederwald-Verschwörung vieles nicht aufgeklärt, doch wirft auch das, was wir wissen, ein helles Licht auf die Zustände.
Als 1878 das Sozialistengesetz beschlossen wurde, ahnten Fürst Bismarck und seine Leute nicht, dass einerseits die Sozialdemokratie, welche sie zu vernichten trachteten, es siegreich überwinden und aus ihm mit gewaltig verstärkter Kraft hervorgehen würde, und dass andererseits unter dem Gesetze und zum Teil infolge seiner der Anarchimus, der bis dahin in Deutschland kaum eine nennenswerte Rolle gespielt hatte, eine Macht werden würde …
Friedrich August Reinsdorf wurde am 31. Januar 1849 … geboren … [Bald] wuchs in ihm ein glühender Hass gegen die sozialen und politischen Zustände, u. a. gegen die Gewaltpolitik Preussens … Eine heisse Liebe zum Volke beseelte ihn, doch ebenso gross war sein leidenschaftlicher Hass gegen die Reichen und Mächtigen. Ein wahrer, überzeugter Fanatiker, erwartete er nur vom gewaltsamen Umsturz Besserung der Lage und war in der Wahl der Mittel dazu ... wenig ängstlich …
Am 28. September sollte auf dem Niederwalde das von Schilling geschaffene Nationaldenkmal, die Kolossalstatue der Germania, in Gegenwart des deutschen Kaisers, … enthüllt werden. Da nun trachtete Reinsdorf danach, gegen das Denkmal oder die Fürstenversammlung oder gegen beide zugleich einen Dynamitanschlag ins Werk zu setzen, ein Plan, der bei seinem Gelingen von der unberechenbarsten Tragweite sein konnte …
Mit anderen aus … [seinem] Kreise besprach… [er] das weitere. Holzhauer besorgte das Dynamit, Küchler die Zündschnur, doch entgegen Reinsdorfs Auftrag keine wasserdichte Bickfordsche Kautschukschnur, sondern, um 50 Pfennig zu sparen, nur eine geteerte Hanfschnur. Und an letzterem Umstande soll das ganze Attentat gescheitert sein. Freilich wird dies unwahrscheinlich, wenn wir erwägen, dass Palm zur Reise der beiden 40 Mark beisteuerte, die tatsächlich aus dem Polizeifonds stammten. Auch ist wohl sicher, dass das Quantum Dynamit, dass sie mitnahmen, schwerlich zum Gelingen eines derartigen Werkes ausgereicht hätte …
[Ihr] ursprünglicher Plan, das Dynamit unter dem Denkmal anzubringen, konnte nicht ausgeführt werden, weil noch am Sockel des letzteren gearbeitet wurde. So beschlossen sie, den Anschlag gegen den kaiserlichen Extrazug zu richten und erkoren eine Stelle, wo der Schienenstrang nahe an den Wald reichte. Ein Wasserdurchlass schien geeignet, das Dynamit aufzunehmen. Nach Rüdesheim zurückgekehrt, nahmen sie das Päckchen an sich, gingen gegen Abend wieder an Ort und Stelle und bargen es in jenem Durchlasse. Dass dieser genügend Raum dazu bot, beweist, wie klein das Quantum war. Selbst wenn die Explosion eingetreten wäre, so hätte sie wohl nur eine starke Erschütterung des Zuges, schlimmstenfalls eine Entgleisung herbeigeführt, schwerlich aber den Zug in die Luft gesprengt. Und dass Reinsdorf die Beiden nicht über die nötige Sprengmasse unterwiesen haben sollte, ist unwahrscheinlich ...
Der Zug nahte. Wie es heisst, gab Küchler das Zeichen, Rupsch legte die Zigarre an die Schnur, und – alles blieb vergeblich. Kein Knall ertönte, und bald verkündete lautes Hurrahgeschrei und das Spielen der Nationalhymne, dass der Kaiser wohlbehalten am Ziele angelangt war. Mit Bestürzung gewahrten sie, dass die durchnässte Schnur kein Feuer gefangen hatte, gaben aber noch nicht alle Hoffnung auf, sondern entzündeten bei der Rückfahrt des Kaisers die Schnur an einer trockenen Stelle. Diesmal erglimmte sie, jedoch nur auf wenige Zentimeter und begann dann zu verkohlen …
Allmählich drang immer mehr über das Attentat in die Öffentlichkeit … Es muss hervorgehoben werden, dass längere Zeit viele Blätter Zweifel an der Richtigkeit laut werden liessen, und dass bald Vermutungen auftauchten, die Verschwörung sei nichts weiter als Polizeimache gewesen …
[Im folgenden Prozess beantragte] der Staatsanwalt gegen Reinsdorf [die] Todesstrafe … Reinsdorf wollte nichts von Gnade wissen … ´Hätte ich zehn Köpfe, ich würde sie mit Freuden für die anarchistische Sache aufs Schaffot legen!´ Als er dem Scharfrichter Krauts übergeben wurde, rief er mit lauter Stimme: ´Nieder mit der Barbarei, es lebe die Anarchie!´ Dann blitzte das Beil und trennte ihm das Haupt vom Rumpfe ...
Ja, lehrreich ist sie nach vielen Seiten hin, die Geschichte von August Reinsdorf und der Niederwald-Verschwörung.“
Und sie erinnert mich, Liebste, an so viele (angebliche) Anschläge in der Gegenwart, vom Bombenattentat in Bologna 49 50 bis zum Fake auf dem Breitscheidplatz in Berlin 51.
Offensichtlich sind die Methoden der Herrschenden, ihre Untertanen in Angst und Schrecken zu versetzen und sich durch gefakte Anschläge ggf. derer zu entledigen, in denen sie eine Bedrohung ihrer Herrschaft (zu) erkennen (glauben), seit Jahrhunderten, Jahrtausenden ähnlich.
Nach Aufhebung der Sozialistengesetze (1890) kam es in der SPD bald (sicherlich auch infolge Wegfall des Staates als äußerem Feind – bekanntlich gibt letzterer einer Bewegung durch den erzeugten Druck eine typische Form, Struktur und Gestalt) zu multiplen Richtungs- und Flügelkämpfen.
Es war Gustav Landauer (einem breiten Publikum durch die Münchener Räterepublik bekannt 52 53, der starken Einfluss auf den anarchistischen Flügel innerhalb der SPD ausübte; 1893 wurden die Anarchisten (mit Landauer als deren Berliner Delegierten) auf Druck der Mehrheits-Sozialdemokraten (beim Kongress in Zürich) aus der (II.) Internationalen ausgeschlossen.
Insgesamt jedoch war die anarchistische Bewegung in der Zeit um die Jahrhundertwende (vom 19. zum 20. Jahrhundert) im Aufschwung:
„Die Zeitschrift: ´Der Sozialist´ (Berlin, 1891-1899) zeigt uns die Verschiedenheit der Strömungen im Anarchismus. Sie wurde redigiert seit den ersten Monaten 1893 durch den jungen G. Landauer (1870-1919), welcher sich persönlich als anarchistischer Kollektivist und für freie Konsum-Organisation erklärte. 1893-1894 musste Landauer ins Gefängnis; die Zeitung wurde stark durch die Behörden bedrängt, und als Landauer endlich aus dem Gefängnis entlassen wurde, waren die Diskussionen über das Thema Anarchismus abgeschlossen; der freiheitliche Kommunismus war allgemein angenommen worden. Die anarchistischen Arbeiter riefen neue und eigene Organe ins Leben [wie] ´Neues Leben´, ´Der freie Arbeiter´, die mehr einen doktrinären Anarchismus vertraten.
Landauer interessierte sich später für eine intellektuelle Gemeinschaft und für eine Ethik freier Menschen [s. ´Durch Absonderung zur Gemeinschaft´, 1901 54]. Er war stark beeindruckt worden durch die Ideen des kollektiven, passiven Widerstands, wie sie Etienne de la Boétie 55 befürwortete [s. Landauers Buch: ´Die Revolution´ 56].
Viel Proudhon studierend, kam er zu der Überzeugung, dass es notwendig sei, um die kapitalistische Gesellschaft in eine sozialistische zu überführen zahlreiche freie Siedlungen und Kommunen zu bilden, die bestmöglich die Produktion und den wirtschaftlichen Kreislauf zu organisieren hätten, ohne sich kulturell von dem allgemeinen Fortschritt der Welt zu trennen. Er veröffentlichte anfangs 1907 die ´Dreissig sozialistischen Thesen´, die ´Flugblätter des sozialistischen Bundes´ (1908, 1909), die Zeitschrift: ´Der Sozialist´ (1909-1915), den ´Aufruf zum Sozialismus´ (Berlin, 1911) 57 etc. Der Weltkrieg unterbrach seine Aktivität“ Max Nettlau: Der Anarchismus in Deutschland …., wie zit. zuvor.
1897 wurde die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften gegründet (und zehn Jahre später von August Bebel aus der SPD ausgeschlossen); 1907, zur Zeit diese Ausschlusses, hatte die FVdG sich bereits zu einer syndikalistischen Organisation mit starkem anarchistischem Einfluss entwickelt: Der Anarchosyndikalismus wurde zur durchaus bedeutenden politischen Kraft.
Zur gleichen Zeit gewann auch die individualistisch-anarchistische Bewegung (s. zuvor) – maßgeblich beeinflusst und vorangetrieben durch John Henry Mackay 58 – mehr und mehr an Bedeutung: „Während der 25 Jahre vor 1914 existierte in Deutschland ebenfalls eine individual-anarchistische Vereinigung, die durch J. H. Mackay (1864-1933) inspiriert wurde. Mackay war durch B. R. Tucker 59 und die Lehre des Mutualismus von Proudhon 60 61 62 angeregt worden und dadurch zum Anarchismus gesto[ß]en. Er verfasste die Gedichtsammlung ´Sturm´ (1888) 63, und den Roman: ´Die Anarchisten´ (1891) 64 65.
Die Diskussion zwischen Kommunismus und Individualismus entwickelte er vollständig in seinen Romanen: ´Die Freiheitsucher´ (1920) 66 und ... ´Abrechnung´ (1932) 67 68.
Er entwickelte eine fortgesetzte Propaganda dieser Ideen seit 1898 bis zum Hitler-Putsch 1933 in Zeitungen und Zeitschriften“ Max Nettlau: Der Anarchismus in Deutschland …., wie zit. zuvor.
Und weiterhin 69: „In diesen beiden Werken, die er seine ´Bücher der Freiheit´ nannte und seinem amerikanischen Freund Benjamin R. Tucker widmete, sind Mackays anarchistische Ansichten detailliert dargelegt. [Dazu, Liebste, wie „der Mainstream“ indes beim Reizwort „Anarchie“ jegliche Differenziertheit vermissen lässt, und ein wenig zu Deiner Erheiterung und der des werten Lesers s. beispielsweise 70.] Seine Antwort auf die ´sociale Frage´ war eine Philosophie des individualistischen Anarchismus, die er in den Schriften von Max Stirner bestätigt fand und die den Anschauungen von Tucker und dessen amerikanischen Kollegen nahestand.
Diese Theorie setzte er dem kommunistischen Anarchismus entgegen, der, so meinte er, das Wohl der Gesellschaft über das Wohl des Einzelnen stellte. Für Mackay hatte das Individuum höchste Priorität. Da er glaubte, daß gewaltloser Widerstand die stärkste Waffe gegen die Tyrannei des Staates sei, lehnte er den Terrorismus entschieden ab.
Und denen, die behaupteten, daß auf den Sturz der Regierung das Chaos folgen würde, erwiderte Mackay, daß sich die Menschen dann in freiwilligen Gemeinschaften zusammenschließen würden, die effizienter wären als die mit roher Gewalt erzwungenen Formen des Zusammenlebens.
Sein Schlagwort war ´Gleiche Freiheit Aller´, d.h. das Kriterium dafür, etwas nicht zuzulassen, war die Frage, ob es die Freiheit eines anderen auf eine geringeres Maß als das eigene beschränkt.“
Die bereits benannte (1897 gegründete und 1907 aus der SPD ausgeschlossene) Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften, eine anarcho-syndikalistische Organisation und Bewegung, war dann, zu Beginn des 1. Weltkriegs, die einzige Arbeiterorganisation, die Kriegspolitik und Kriegskredite nicht unterstützte.
Zwar wehrten sich auch prominente Anarchisten wie Gustav Landauer und Erich Mühsam 71 gegen die deutsche Kriegspolitik (ob diese dem deutschen Reich von außen aufgezwungen wurde oder auch nicht ist in gegenständlichem Kontext ohne Bedeutung), waren zudem maßgeblich an der tendenziell anarchistischen (wiewohl nur kurz dauernden) Münchner Räterepublik 72 (im Frühjahr) 1919 beteiligt, blieben langfristig jedoch ohne Bedeutung.
Weil sie im Gefängnis landeten (wie Erich Mühsam).
Oder massakriert wurden. Wie Gustav Landauer 73: „Am 1. Mai wurde Landauer im Haus der Witwe Else Eisner verhaftet. Nach dem Tode Eisners waren die beiden sich nahegekommen und planten ihre Heirat. Am Morgen des 2. Mai brachte man Landauer in das Gefängnis Stadelheim, das die Regierungstruppen als Gefangenensammelstelle nutzten. Dort angekommen wurde er erkannt: ´Halt! [D]er Landauer wird sofort erschossen.´
Erst demütigte man ihn, dann schlug man ihn zusammen. Als mehrere Kugeln ihn nicht umbrachten, trat ein Vizewachtmeister ihn schließlich mit Füßen zu Tode. Die Leiche wurde geplündert. Man riss Landauer die Sachen herunter und warf ihn für zwei Tage ins Waschhaus. Dann wurde er mit anderen Opfern der Gegenrevolution in einem Massengrab verscharrt.“
DIE WELT schrieb unlängst zu Landauers Ermordung 74:
„Rund 1,2 Kilometer laufende Akten umfasst die Hinterlassenschaft des Badischen XIV. Armeekorps aus dem Ersten Weltkrieg. Für Militär- und Sozialhistoriker hoch spannendes Material, das jetzt im Generallandesarchiv Karlsruhe erschlossen worden ist. Womit niemand gerechnet hatte: In den letzten zwei Metern, bis dahin ungeordneten Militärgerichtsakten verbarg sich eine Sensation.
Denn vor einem badischen Militärgericht, genau genommen vor der Kammer der vormaligen 29. Infanteriedivision in Freiburg, fand die Verhandlung wegen eines der bekanntesten politischen Morde der Revolution 1918/19 statt. Der Schriftsteller, Anarchist und zeitweilige Vordenker der Münchner Räterepublik, Gustav Landauer, war am 2. Mai 1919 im Gefängnis Stadelheim von württembergischen Soldaten misshandelt und erschossen worden. Doch die beiden Ermittlungs- und die Verfahrensakten verschwanden spurlos.
Nun sind alle drei Bündel wiederentdeckt worden. Die Ermittlungen des in München zuständigen Generalkommandos von Oven umfassen ausführliche Zeugenvernehmungen, insgesamt 165 Blatt. Eine weitere Akte enthält 23 Blätter mit Schreiben an den Haupttäter, einen württembergischen Ulanen namens Eugen Digele. Das dritte Bündel mit 66 Blatt enthält das Verhandlungsprotokoll und das Urteil gegen den Angeklagten …
Digele befand sich im Münchner Gefängnis Stadelheim; hierher war auch der verhaftete Landauer gebracht woden … Nun ging alles sehr schnell. Ein anwesender Offizier befahl: ´Halt! Der Landauer wird sofort erschossen.´ Laut einem Zeugen fragte Landauer daraufhin: ´Wollen Sie mich nicht verhören?´ Der Offizier antwortete nicht ihm, sondern seinen Soldaten: ´Nein, der Mann wird sofort erschossen!´
Drei Soldaten feuerten auf den Schriftsteller; laut dem ebenfalls im Karlsruher Bestand aufgetauchten Obduktionsprotokoll der exhumierten Leiche Landauers in die linke Augenhöhle, die Stirn rechts und in die linke Brust. Alle drei Schüsse waren tödlich. Digele drückte nach eigener Aussage als zweiter ab. Anschließend nahm er Landauers Uhr an sich …
Das Militärgericht der örtlich zuständigen 29. Infanteriedivision verhandelte gegen ihn, zeigte aber sehr viel Verständnis.
Der Mord wurde nicht bestraft, denn Digele berief sich auf die Umsetzung des Befehls eines unbekannten Offiziers. So erhielt der Ulane lediglich wegen gefährlicher Körperverletzung und Hehlerei eine Gesamtstrafe von fünf Wochen Haft, die durch die Untersuchungshaft im Wesentlichen abgegolten war.
Das Gericht stellte fest: ´So empörend die Misshandlung eines wehrlosen alten Mannes als Gefangenen ist, war doch zu Gunsten des Angeklagten strafmildernd zu berücksichtigen, dass der Angeklagte den Schriftsteller Landauer für den Urheber der Räterepublik und einen gewissenlosen Hetzer hielt.´“
„Am 7. Mai 1919 notierte der Dichter Erich Mühsam, der sich ebenfalls für die Revolution engagiert hatte, im Zuchthaus Ebrach in sein Tagebuch: ´Mit den Münchner Schandtaten hat Noske sogar seine Berliner Blutorgien übertroffen. Das ist die Revolution, der ich entgegengejauchzt habe. Nach einem halben Jahr ein Bluttümpel: mir graut.´
Sein Lübecker Landsmann Thomas Mann aber machte aus seiner Erleichterung keinen Hehl. ´Das Epp’sche Corps ist unter großem Jubel in bester Haltung eingezogen´, schrieb er am 5. Mai. ´Ich finde, daß es sich unter der Militärdiktatur bedeutend freier atmet, als unter der Herrschaft der Crapule [Schurken/Lumpen]´“ 75.
Ich kann nur anmerken, Liebste: Deutschland, deine „Intellektuellen“! Deutschland, deine Nobelpreisträger! Wie viel Schande haben sie über dich gebracht!