Читать книгу „… Gesetz und Freiheit ohne Gewalt“: „Die höchste Form der Ordnung“ - Richard A. Huthmacher - Страница 17
ES HERRSCHTE ANARCHIE. FÜR EINEN SOMMER, FÜR EIN KURZES JAHR
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„Das kurze Jahr der Anarchie“, titelte DER SPIEGEL. „Jetzt oder nie – Anarchie!“, so der TAGESSPIEGEL. Die TAZ brachte es auf den Nenner: „Anarchie ist machbar, Herr Nachbar.“ In der WELT ist zu lesen: „So groß war die Freiheit im letzten Sommer der DDR.“
„Es war zwar verboten, aber wir haben es trotzdem gemacht! Unter diesem Motto ist in Ostdeutschland zwischen Herbst 1989 und Herbst 1990 Geschichte geschrieben worden. Den erstarrten Verhältnissen in der DDR war nur beizukommen, wenn man sich über alte Regeln hinwegsetzte und das Neue mutig wagte. So wurden kurzerhand Bürgermeister und Betriebsleiter entmachtet, Kasernen und Gefängnisse belagert, Geheimdienstzentralen besetzt und Redakteursräte organisiert, Bürgerbewegungen und neue Parteien gegründet. Plötzlich spürten viele ihre Kraft und starteten in die spannendste Zeit ihres Lebens.“
In einer Rezension der Frankfurter Rundschau ist zu lesen: „Die Flucht tausender DDR-Bürger über die unbewachte Grenze in Ungarn in den Westen läutete im Sommer 1989 das Ende der DDR ein. Der Verlauf der großen Geschichte ist wohlbekannt, weniger bekannt sind dagegen die kleinen Geschichten in dieser Geschichte, die sich in diesem Sommer, in dem vielerorts faktisch Rechtlosigkeit herrschte, abspielten ... Während dieser Zeit wurde all das möglich, ´wovon alle Freunde zivilen Ungehorsams träumen´ …: Bezirksregierungen absetzen, Landsitze besetzen, Militärbefehle ignorieren oder Straßen blockieren und dabei von staatlichen Behörden auch noch unterstützt ... werden.“
Etliche Bücher, Essays und Artikel befassen sich mittlerweile mit dem „kurzen“ Jahr 1989/1990, in dem, manchen jedenfalls, alles möglich schien; nur beispielhaft sei der Roman „Das fabelhafte Jahr der Anarchie“ genannt (Kubiczek, André: Das fabelhafte Jahr der Anarchie. Roman. Rowohlt, Berlin, 2014):
„Nachdem die Berliner Mauer so überstürzt geöffnet wurde, wollten viele Bürger aus der DDR vor allem eins: weg, in den Westen. Nicht aber Andreas und Ulrike, zwei junge Studenten, die daran glauben, dass sich das System des Sozialismus auch ohne Grenzen – natürlich vorsichtig reformiert – aufrecht erhalten lässt. Doch nachdem die Volkskammerwahlen im März 1990 gezeigt hatten, dass die Mehrheit der Wähler für eine Wiedervereinigung der beiden Länder votiert[en] ..., gibt sich das Pärchen geschlagen. Gemeinsam ziehen sie in die Lausitz, wo Ulrike den Hof von ihrem Großvater geerbt hat. Mitten in dem kleinen Straßendorf, wo jeder jeden kennt und man seine Schrippen bei Frau Domaschke im Konsum kaufen muss, die gleichzeitig als Poststelle fungiert und das einzige Telefon besitzt – hier scheint die Welt noch in Ordnung und Ulrike und ´Ändie´ basteln sich ihre eigene, zeitlose Idylle mit gackernden Hühnern, Gemüsebeeten und Gummistiefeln zu Blümchenkleidern …
Das könnte alles so bleiben, wenn da nicht Arndt wäre, der große Bruder von Ulrike und energischer Hausbesetzer in ihrer Heimatstadt Potsdam. Regelmäßig kommt er auf den Hof und bringt schlechte Nachrichten aus der realen Welt mit …: ´„Mensch, Andreas, wir können doch nicht einfach aufgeben und alles laufenlassen. Dann fährt das ganze Ding nämlich gegen die Wand. Das ist doch keine Revolution, wenn es nachher genauso beschissen ist wie vorher, nur mit ´nem anderen Begründungstext.´“
Oder es sei auf den „Frühling der Frauen-Anarchie“ verwiesen:
„Dabei hatte genau ein Jahr zuvor alles so begeisternd begonnen. ´Vor wenigen Tagen´, schrieb Christa Wolf 2 3 am 11. Dezember 1989, ´hat die erste Versammlung eines autonomen Frauenverbandes stattgefunden. Es soll die schönste Versammlung der letzten Wochen gewesen sein, sehr heiter, gelassen, konstruktiv, ergebnisreich.´ Was die Schriftstellerin nur vom Hörensagen kolportierte, wirkte auf die Beteiligten wie ein Fanal.
Am 3. Dezember 1989 hatten sich auf Initiative einiger kleiner DDR-Frauengruppen in der Ostberliner Volksbühne über 1.000 Frauen zusammengefunden. Dicht gedrängt saßen sie zwischen voll behängten Wäscheleinen und applaudierten begeistert der Schauspielerin Walfriede Schmitt, die das für DDR-Verhältnisse unerhörte Manifest ´Ohne Frauen ist kein Staat zu machen´ vorstellte. ´Wir müssen darauf bestehen ..., dass Frauenfragen keine gesellschaftlichen Randprobleme sind, sondern existenzielle Grundfragen.´ Sie [die Rednerin] schlachtete aber nicht nur eine heilige sozialistische Kuh (die Frauenfrage als ´Nebenwiderspruch´), sondern warnte auch vor ostdeutschen Anschlussträumen: ´Die Wiedervereinigung hieße in der Frauenfrage drei Schritte zurück …, überspitzt gesagt, Frauen zurück an den Herd.´“
In der sich auflösenden DDR trieb das Streben nach Freiheit (von staatlicher Gewalt und Bevormundung) in der Zeit vom Mauerfall bis zur sog. Wiedervereinigung skurrile Blüten: Beispielsweise wurden Tonnen von Lupinen-Samen (unter Mithilfe ehemaliger Grenzschützer!) im vormaligen Todesstreifen am Brandenburger Tor ausgesät; die (Verkehrs-)Polizei hatte kaum noch etwas zu sagen, selbst Bankräuber entkamen, weil sie (noch nach der „Wiedervereinigung“) bestenfalls halbherzig von den verunsicherten Vopos verfolgt wurden.
„Die Polizei war überfordert, ihre Ausstattung noch auf dem Niveau der DDR-Volkspolizei. Mit altersschwachen Trabbis jagten die ehemaligen Volkspolizisten nun Bankräubern hinterher, die längst über PS-starke Westautos verfügten. Als Handlanger des alten Regimes wurden sie beschimpft, bedroht und ausgelacht“ 4.
Abzocker, Glücksritter, Betrüger, Kriminelle aller Art nutzten den Zustand weitgehender Gesetzlosigkeit auf ihre Art, der Schwarzmarkt boomte (ähnlich der Zeit nach dem 2. Weltkrieg), Zigarettenschmuggler machten das große Geschäft:
„Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen – nach d[ies]er Devise verfährt die DDR-Polizei, um Konfrontationen mit den Bürgern zu vermeiden. Die Knüppelgarde von einst, die unnachsichtig jede Unbotmäßigkeit gegenüber dem SED-Regime ahndete, macht kaum Anstalten, das Recht durchzusetzen ... Als nachts ein Schlägertrupp im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain Haustüren aufbrach, in die Flure urinierte, an parkenden Autos Antennen abbrach und Bewohner bedrohte, riefen Bürger vergebens nach Schutzleuten … Eine ´Identitätskrise der Volkspolizei´ erkannte DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel ... Die Polizei sei in der Vergangenheit oft ´für sachfremde Aufgaben eingesetzt´ worden, nach der Wende in der DDR sei daher eine ´Verunsicherung´ entstanden. Den Polizisten, so Diestel entschuldigend, müsse erst wieder ´das notwendige Selbstbewußtsein zurückgegeben´ werden“ 5.
Bewohner des Dresdener Stadtteils Neustadt erklärten ihren Bezirk zur „Bunten Republik Neustadt (BRN)“, markierten die „Staatsgrenze“ mit einem weißen Strich auf dem Pflaster und führten die „Neustadtmark“ als neue Währung ein.
„Überall kamen Bürger, die 40 Jahre gehorchen sollten, plötzlich auf kreative Ideen. Schankerlaubnis? Gewerbegenehmigung? Lebensmittelaufsicht? Buchhaltung und Steuer? Wen interessiert das noch. Wer jahrelang gegängelt wurde, will jetzt einfach mal machen.
Einen eigenen Fernsehsender ohne Lizenz gründeten einige Bewohner von Leipzig. Sie hatten genug von der jahrzehntelangen Propaganda im Staatsfernsehen und wollten lieber etwas Eigenes starten, als auf die öffentlichen Rundfunkanstalten des Westens zu warten. Anfangs gab es nur eine Videokamera, einen VHS-Rekorder und ein kleines, improvisiertes Studio direkt neben der alten SED-Stadtleitung. Den TV-Pionieren gelang es, mit ihrem ´Kanal X´ auf Sendung zu gehen.“ [S. auch 6.]
Legal, illegal, scheißegal: Der alte Sponti-Spruch des Westens – den wir, Liebster, seiner-, will meinen unsrerzeit so oft auf den Lippen hatten – wurde auch im Osten zur Parole und nicht selten zur Realität.
Wiewohl es anarchistische Strömungen in der DDR – namentlich wegen ihrer antiautoritären und antistalinistischen Positionen – seit Beginn des „realsozialistischen“ der beiden deutschen Bruderstaaten besonders schwer hatten: Im Sinne Lenins galt Anarchismus als eine „kleinbürgerliche pseudorevolutionäre politische und ideologische Strömung, die jede staatliche und politische Organisation prinzipiell ablehnt und objektiv der Spaltung der antiimperialistischen Bewegung und den Interessen des Monopolkapitals dient” 7.