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Die Chance der Postmoderne

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In der heutigen Welt scheinen viele Menschen den Mut zu verlieren, weil sie sich verwirrt und ohnmächtig fühlen. Ein wichtiger Grund dafür ist die Erfahrung, erdrückenden Mächten ausgeliefert zu sein: Unser Leben wird maßgeblich bestimmt von Konsumrausch, Rassismus, Militarismus, Individualismus, patriarchalischen Strukturen und Konzern-Molochen. Diese „Mächte und Gewalten“ (Epheser 6,12) scheinen alles fest im Griff zu haben. Das weckt in uns das Gefühl, unser eigenes Leben gar nicht mehr selbst wählen, gar nicht mehr normal leben und gar keinen übergreifenden Sinn mehr in alldem sehen zu können.

Dies wurde nach den schrecklichen Terroranschlägen vom 11. September 2001 umso deutlicher. Alles, was bis dahin so wichtig schien – Aktien, Konsum, ein zunehmend wohlhabenderer Lebensstil – verblasste plötzlich. Die Zahl der Kirchenbesucher stieg plötzlich an. Religiöse Websites verzeichneten einen sprunghaften Anstieg der Zugriffe. Wir erlebten eine Welle des Patriotismus, wie wir sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatten. Einige Menschen hatten sogar den Mut, in unser kollektives Gewissen zu schauen und zu hinterfragen, ob die Industrieländer genug getan haben, um die weltweite Armut zu beseitigen. In den zwei Jahrzehnten seit dem 11. September 2001 haben wir gesehen, wie es zu weiteren Brüchen in der amerikanischen Gesellschaft und in der Welt kam, zusammen mit globalen Bedrohungen wie der COVID-19-Pandemie. Der Patriotismus ist eher spaltend als einschließend geworden. Der sprunghafte Anstieg der Kirchenbesucherzahlen ist eine ferne Erinnerung und kleinere Gemeinden sind weiter herausgefordert, da sich der Gottesdienst durch das monatelange „social distancing“ ins Internet verlagert hatte. Es gibt viel weniger Glauben an die Möglichkeit eines gemeinsamen Lebens als in den Monaten nach dem 11. September 2001, auch wenn der „Wir bleiben zu Hause“-Zustand einige hoffnungsvolle Zeichen hervorbrachte, wie z.B. das Singen auf Balkonen und spontane Online-Versammlungen. Es ist klar, dass Amerika nicht das einzige Land ist, das mit diesen Problemen kämpft. All dies deutet auf ein langjähriges, tiefes Bedürfnis nach sozialem Wiederaufbau hin, das wir dringend angehen müssen.

So befinden wir uns derzeit meiner Ansicht nach in einer tiefen Sinnkrise. Die Welt kommt uns ungeheuer komplex vor und wir fühlen uns darin furchtbar klein. Können wir denn mehr tun, als uns von den Wogen der Geschichte treiben zu lassen und dabei zu versuchen, einigermaßen den Kopf über Wasser zu halten?

Aber vielleicht können wir diese Geschichte doch etwas genauer anschauen und darin einige Denk- und Handlungsmuster erkennen oder Menschen, die diese Muster durchschaut haben. Darum soll es in diesem Buch gehen. Von daher ist es einerseits ein sehr auf die Tradition bezogenes Buch; allerdings führen andererseits viele heutige Muster zu revolutionären Schlüssen. Dabei möchte ich auch auf jenen Mann zu sprechen kommen, über den – im Vergleich zu anderen Persönlichkeiten der Geschichte – die meisten Bücher geschrieben worden sind: ein Italiener des 13. Jahrhunderts namens Franz von Assisi oder kurz Franziskus. Er muss über einen ganz besonderen Genius verfügt haben, wenn er eine solche Anziehungskraft auf so viele Kulturen und Religionen ausübte und auch heute noch, nach achthundert Jahren, mit vielen seiner Antworten hochaktuell ist.

Der Weg der Weisheit

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