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In unserem kulturellen Zwiespalt bewusst leben

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Jede Sichtweise geschieht von einem bestimmten Standpunkt aus. Solange man nicht seine eigenen, kulturell und zeitbedingten Sichtweisen wirklich kennt, wird man sie kaum relativieren oder bedenken wollen, dass sie nicht die einzig möglichen sind. So lebt man mit einem hohen Maß an Illusion und Einseitigkeit, die schon so manches Leid und so manchen Unfrieden ausgelöst haben. Ich denke, genau darum ging es auch Simone Weil, als sie sagte: „Die Liebe zu Gott ist die Quelle aller Wahrheit.“ Nur ein nicht nur in uns selbst gründender universaler Bezug verschafft unserem Geist und Herzen einen ganz verlässlichen Ausgangspunkt.

Einer der Schlüssel zur Weisheit besteht darin, seine eigenen Zwiespältigkeiten zu erkennen, seine eigenen süchtigen Abhängigkeiten und Fixierungen sowie den Umstand, dass man aus irgendeinem Grund viele Dinge einfach nicht wahrnehmen will. Solange man die eigenen Denk- und Verhaltensmuster nicht durchschaut (das meint Kontemplation in ihrer Frühphase), ist man nicht in der Lage, das zu sehen, was man nicht sieht. Kein Wunder also, dass Teresa von Ávila sagte, Selbsterkenntnis sei das erste und unerlässliche Eingangstor zur „Seelenburg“. Ohne ein selbstkritisches Bewusstsein dafür, wie eng die eigenen Perspektiven sind, besteht kaum Aussicht, dass jemand wirklich Erkenntnis oder bleibende Weisheit erlangt.

Die Postmoderne zerschlägt aus Enttäuschung in einem wütenden Rundumschlag alles, was ihr im Weg steht, um sich den drei beherrschenden Maximen der Moderne (siehe unten), die unser Zeitalter geprägt hat, zu widersetzen. (Wie wir noch sehen werden, hat dieses Zerschlagen, deconstruction, nicht nur negative, sondern auch positive Auswirkungen. Ohne ein gewisses Maß an Dekonstruktion wird alles zum Götzen. Die Propheten waren daher „religiöse Dekonstruktivisten“.)

Erstens glaubte die Moderne, die Wirklichkeit beinhalte eine feste Ordnung. Das postmoderne Denken behauptet, es gebe überhaupt keine Ordnung. Paradoxerweise nähert sich die Postmoderne sowohl dem Nihilismus als auch der Mystik; denn sie vertritt die Auffassung, entweder sei niemand oder es sei jemand verantwortlich. Das Einzige, was wir inzwischen sicher wissen, ist, dass unser Denken und unser Verstand es jedenfalls nicht sind! Von daher erklärt sich das Neuerstehen von Spiritualitäten in allen nur erdenklichen Formen. Die alten Kirchen bekommen unversehens eine Menge Konkurrenz, während sie eine lange Zeit hindurch über ein Monopol verfügen konnten.

Ich finde es bemerkenswert, dass im Englischen die Priesterweihe als Holy Orders bezeichnet wird, also wörtlich als „heilige Ordnungen“. Diese Bezeichnung dürfte verraten, was vom Priestertum im Grunde erwartet wird: Ordnung, ordnende Leitlinien, Grenzvorgaben, Kontrolle, Klarheit. Das sind an sich keine schlechten, vielmehr dringend notwendige Eigenschaften, und das Verlangen nach ihnen könnte sogar erklären, warum sich die Kirche mit den Grundvorstellungen der Moderne wohler fühlte als mit der „heiligen Unordnung“, die sich jetzt zeigt.

Das Kreuz ist eindeutig eine Ausrufung der Unordnung im Herzen der Wirklichkeit. Echtes Christentum glaubte noch nie an eine perfekte Ordnung oder an ein totales Chaos, sondern an eine mit Widersprüchen behaftete Wirklichkeit. Zudem erklärte es diese eine und einzige Welt zur Welt Gottes. Jesus wurde am „Zusammenprall der Gegensätze“ gekreuzigt.

Zweitens dachte die Moderne, die Wirklichkeit lasse sich mittels der menschlichen Vernunft erkennen; das Naturgeschehen sei voraussagbar und daher zu einem gewissen Grad beherrschbar. Doch die Quantenphysik sagt, dass sich mit den Begriffen der „Indetermination“, der „Probabilität“, mit „Chaostheorien“ und Heisenbergs „Unschärfeprinzip“ vermutlich zutreffender das letzte Geheimnis der Wirklichkeit bezeichnen lasse als mit den Begriffen der klassischen Physik.

Das bedeutet für den modernen Geist eine gewaltige Demütigung. Die Physik hat entdeckt, dass man sowohl im Kleinsten (bei den Atompartikeln) als auch im Größten (den Galaxien und Schwarzen Löchern) unvermeidlich auf das Geheimnis stößt! Alles wirkt erkennbar, wird aber dann doch wieder unerkennbar, wenn man an die Ränder gelangt. Die Beherrschung muss schließlich dem Geheimnis Platz machen; statt Festhalten ist Loslassen angesagt. Plötzlich haben wir nichts mehr zu sagen. Manche vermerken, die Physiker mutierten zu Mystikern und die Priester zu Psychologen – und interessanterweise wollen beide die nicht-rationalen Aktionen der Menschen und den tragischen Charakter vieler Ereignisse zu erhellen versuchen.

Der kleine Wissenschaftler bleibt in der Mitte und geht weiterhin davon aus, dass er in einem völlig kohärenten System lebt. Die großen Wissenschaftler wie Albert Einstein, der „Mann des 20. Jahrhunderts“, entdecken hingegen wieder das Geheimnis. Einstein sagte: „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle.“ Er hatte nie die Überheblichkeit zu denken, er habe seine „einheitliche Feldtheorie“ vollständig gefunden, also das endgültige Paradigma, mit dem sich alle Kräfte im Universum erklären ließen. Seine bescheidene Aussage mutet an wie der Glaubensakt eines großen Geistes und großen Naturwissenschaftlers. Er erinnert mich an Dantes Bild für den Gipfel des Paradieses: eine „weiße Rose“ – in äußerster Einfachheit und Schönheit. Alles passt zusammen, alles hält zusammen. Dieses Wissen, dass alles eine Einheit in Vielfalt ist, ist uns verloren gegangen.

Reife Religion weiß, dass der Mensch sich bestenfalls über die letzte Wirklichkeit Metaphern, Symbole, Bilder erhoffen kann. Hier auf Erden sind nicht eigentlich wir die Erkennenden, vielmehr werden wir erkannt; nicht wir verknüpfen alles, vielmehr werden wir verknüpft: Nicht wir schaffen die großen Zusammenhänge, sondern wir werden in die Zusammenhänge einbezogen. Dann bleibt nur noch niederzuknien und den heiligen Boden zu küssen, und der vermeintlich autonome Geist ließe so von seiner Tyrannei ab.

So erschreckend es zunächst klingen mag, der Zerfall überkommener Denkstrukturen könnte uns durchaus wieder zu jener Demut und Einfachheit zurückführen, derer es zur Begegnung mit Gott bedarf. Doch müssen wir auch sagen, dass die Kirchen, sicherlich die römische Kirche, den Gott der Bibel vernachlässigt und sich mehr mit einem Gott der Philosophen verbunden haben, mit dem wir jedoch angesichts seiner „Besonderheit“, seiner Vorlieben und willkürlichen Entscheidungen sowie seiner absoluten Freiheit größte Schwierigkeiten haben. – Die Moderne bescherte uns die Vorhersehbarkeit und Voraussagbarkeit, mit denen wir uns durchaus wohlfühlten; jetzt, in der Postmoderne, hat wieder ein ganz Anderer das Steuer in der Hand, und wir müssen uns (von der Moderne her gesehen) in die Tragik und (neuerdings) zugleich höchste Geschenkhaftigkeit ergeben. Das kommt der Bibel viel näher, auch wenn es mehr Angst macht.

Drittens glaubte der moderne Geist, die Erfüllung des Menschen bestehe vor allem darin, alle Gesetze der Wissenschaft und Natur zu entdecken und genau kennenzulernen. Wir sollten sie – wo immer möglich – nutzen und uns ihnen nur fügen, wo wir sie nicht durchschauen oder ändern können. Um weitere Fortschritte zu machen, mussten wir daher vor allem unser wissenschaftliches Wissen ausbauen. Mochte es sich nun um medizinisches Wissen oder um die Erforschung des Weltraums handeln – mit zunehmendem Wissen würden wir jedenfalls nach und nach alle Schwierigkeiten in den Griff bekommen.

Jeder vor 1960 Geborene wurde von dieser Denkungsart stark geprägt. Aber heute sind wir von ihr nicht mehr so fraglos überzeugt und glauben auch nicht mehr, dass die traditionelle Bildung allein dem menschlichen Wachstumsprozess gerecht wird. Wir sind uns zudem nicht mehr so sicher, ob wirklich alles Naturgeschehen vorhersehbar ist und der Mensch seine Erfüllung darin findet, alle Gesetze der Natur genau zu kennen und das Universum so weit wie möglich in den Griff zu bekommen. Wer noch mit der Moderne denkt, möge sich nur einmal überlegen, wie und warum seit einiger Zeit alle möglichen Formen von Aberglaube, Okkultismus und Magie Zulauf erhalten, wie und warum UFO-Theorien und alle möglichen Arten von New-Age-Vorstellungen und schamanischen Reisen boomen und die Felder des Unbewussten, Irrationalen, Nichtrationalen, Symbolischen und auch des „Spirituellen“ Hochkonjunktur haben. Selbst sehr gebildete Menschen neigen ihnen zu. Die Götter von Körper, Gefühl und Erlebnishunger verlangen nach Gehör und machen dem Gott der Vernunft das Feld streitig.

Darin liegen eine negative und auch eine gute Botschaft. Es macht Angst, in einer Zeit des Übergangs zu leben: Sie fällt auseinander; man weiß nicht, was sie alles mit sich bringt; sie bietet nichts Zusammenhängendes; alles wird eher rätselhaft; wir können keine überschaubare Ordnung erkennen oder hineinbringen. Das ist die postmoderne Panik. Sie verbirgt sich hinter einem Großteil heutiger Skepsis, Angst und weit verbreiteter Gewalttätigkeit.

Genau besehen enthält die biblische Offenbarung recht wenig an Verheißungen eines wohlgeordneten Universums. In der Bibel geht es vielmehr darum, Gott im Gegenwärtigen zu begegnen, im jeweils inkarnierten Augenblick, auch im Skandal des Partikulären und nicht in gescheiten Theorien, und zwar in einem Maß, dass es eigentlich recht verwunderlich sein müsste, weshalb wir überhaupt darauf gekommen sind, das Ganze genau sortieren und in den Griff bekommen zu wollen.

Die Bibel sagt immer wieder, der Weg des Menschen sei tatsächlich ein Weg, und zwar ein Weg, auf den immer wieder Gott rufe und dessen Etappen er bestimme – ein Weg auch, auf dem wir mehr verwandelt als über alles genau unterrichtet würden. Ich glaube, uns wäre es viel lieber, möglichst bald einen gedruckten Reiseführer in der Hand zu halten. Dann könnte unser Lebensweg ein Besichtigungsausflug sein; so verstehen ja nicht wenige die Religion: als einen (vielleicht sogar interessanten) Besichtigungsausflug. Bei der Vorstellung, unser Leben gleiche eher einer Art Bildungsreise, hängt man das Thema, sich auf etwas ganz und gar einzulassen und sich verantwortlich einzubringen, recht tief, selbst wenn Vertreter der Religion erwarten, dass die Leute folgsam alles mitmachen und nicht vom Weg abweichen. Dagegen ist mit der Sichtweise, das Leben sei ein fortwährender Prozess der Verwandlung und des Wachstums, das Risiko verbunden, dass die Menschen „alle mit dem einen Geist getränkt“ (1 Korinther 12,13) werden, sich ihm und seiner Führung anvertrauen. Ist es nicht traurig, dass wir uns lieber auf Konformität und Gruppenloyalität eingeschworen haben, statt uns auf eine wirkliche Veränderung einzulassen?

Oft geht großer Kreativität und echten Wachstumsschritten eine Art Chaos voraus. Finsternis weckt die Sehnsucht nach Licht. Vertrauen geht großen Schritten in ein neues Wissen voraus. Unsicherheit und Ungewissheit sind die Schwelle zum Geheimnis, zur Hinwendung und zum Weg zu Gott – einem Weg, den Jesus „Glaube“ nennt. (Wie seltsam ist es doch und tatsächlich eine Häresie ersten Ranges, dass wir, statt in diese dunkle Nacht des Glaubens einzutreten, auf das Bemühen um Sicherheit und Kontrolle verfallen sind!)

Ich sehe heute Menschen starken Glaubens, Menschen, die sich der größeren Wahrheit verschrieben haben, Menschen, die Kirche zwar lieben, aber nicht länger die Knie vor einem Götzenbild beugen. Sie haben es nicht mehr nötig, eine Institution zu verehren; sie verwerfen sie nicht, aber scheuen sich auch nicht, gegen sie von der größeren Wahrheit Zeugnis zu geben. Das ist ein großer Fortschritt auf dem Weg zur Reife der Menschen. Noch vor wenigen Jahren herrschte das Entweder-oder-Denken vor: „Entweder sie ist vollkommen oder ich trete aus.“ Langsam entdecken wir, was viele von uns als den „dritten Weg“ bezeichnen: den Weg weder der Flucht noch des Streits, sondern den Weg einfühlsamen Wissens, der Achtsamkeit und Hoffnung.

Sowohl dem Weg des Streits als auch dem Weg der Flucht fehlt es an Weisheit, obwohl sie in der Hitze der jeweiligen Situation wie endgültige Antworten erscheinen. Aber in einer Welt des Entweder-oder gibt es den dritten Weg nicht: den Weg, über den ersten wie den zweiten Weg hinauszuwachsen, alles zusammenzuhalten, kreativ zu sein auf Einssein in Vielfalt hin.

Das dualistische Denken zieht es offensichtlich vor, die Dinge nach Schwarz-Weiß-Manier mit anderen zu vergleichen und zu bewerten. Der Preis, den dieses dualistische, aufspaltende Denken kostet, besteht darin, dass die eine Seite des Vergleichs immer idealisiert und die andere verteufelt oder zumindest herabgesetzt wird. Für Ausgewogenheit oder nüchterne Ehrlichkeit ist da kaum Platz, geschweige denn für Liebe. Die Weisheit dagegen hält „Vernünftiges“ und „Romantisches“ immer zusammen: so Aristoteles und Plato, Thomas von Aquin und Bonaventura, Sigmund Freud und C. G. Jung – Geist und Sinne.

Tatsächlich lässt sich sagen: Je größere Gegensätze jemand auszuhalten und zu durchleben vermag, eine umso größere Seele wohnt in ihm. Wir neigen von unserem Temperament her meist eher der einen oder der anderen Seite zu. Wenn man sich auf eine Seite schlägt, befreit es von Spannung und Angst. Nur wenige bringen den Mut auf, ständig die unauflösbare Spannung in der Mitte auszuhalten. Das genau ist die „Torheit“ des Kreuzes, bei der man nicht „beweisen“ kann, dass man richtig liegt, sondern nur zwischen dem guten und dem bösen Schächer „hängt“ und den Preis für deren Versöhnung zahlt (vgl. Lukas 23,39ff).

Das tertium quid, der „versöhnende Dritte“, ist sehr häufig der Heilige Geist. Aber wie schon oft gesagt wurde, ist der Heilige Geist die „vergessene Person“ des dreifaltigen Gottes. Wir wissen nicht, wie wir Wind, Wasser oder die vom Himmel herabschwebende Taube (vgl. Johannes 3,8) in ein Dogma fassen oder in den Griff bekommen können. Solche schönen, aber immer auch unzureichenden Bilder für Gott sollten uns bei all unserem Wissen und Erklären bescheiden bleiben lassen.

Der Weg der Weisheit

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