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Das Zeitalter der „Vernunft“

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Wie konnten wir uns so weit von Franziskus’ Welt entfernen? Was wir als die Moderne bezeichnen, reicht in seinen Ursprüngen in die Aufklärung des 18. Jahrhunderts zurück. Das war die Zeit des Rationalismus. Die Aufklärung führte zu einem großartigen wissenschaftlichen Geist. Ihre rein materialistische Weltsicht lehrte, alles zu messen, und nur noch das Messbare und Beweisbare galten als wirklich. Der Glaube konnte auf dieser Ebene nicht mithalten, wurde zurückgedrängt oder zog sich selbst zurück. Die Wissenschaft war überzeugt – und das führte zur grandiosen Überheblichkeit modernen Denkens –, sie wisse mehr, als jemals jemand gewusst habe. Sie übersah jedoch, dass sich das neue Wissen auf einen nur kleinen, äußeren Bereich beschränkte und sie in ihrer Begeisterung über unzählige Neuentdeckungen wesentliche andere Bereiche vernachlässigte. Die Analyse von Teilen wurde wichtiger als die Synthese des Ganzen.

Von diesem neuen weltlichen Wissen sind wir schon drei Jahrhunderte lang wie benommen, paralysiert. Der moderne Geist ist in sich selbst verliebt und fasziniert von seiner Fähigkeit, Dinge in Gang zu setzen, neuerdings sogar Gene und Chromosomen und Atome neu anordnen und Resultate genau voraussagen zu können. Dies fühlt sich für manchen Zeitgenossen wie eine geradezu göttliche Macht an – und ist es auch. Es bescherte uns eine Philosophie immens beschleunigten Fortschritts, im Gegensatz zu dem bisherigem Weltverständnis, das von ewigen Kreisläufen, von Sterben und Auferstehen ausging.

In letzterer, vor allem asiatischer Weltsicht der alleinen Harmonie (aus Asien kamen ja alle großen Religionen) müssen Tod und Leben genau wie alles andere auch ständig im Gleichgewicht gehalten werden. Heutiger Zeitgeist dagegen stellt sich lieber vor, das Mysterium des Todes so gut wie überwinden zu können. Viele Zeitgenossen glauben, alles werde noch immer besser, perfekter, effektiver etc. – ein Glaube allerdings nicht ohne Schwindelgefühle. Diese Sicht der Dinge kennt viele Versatzformen, aber im Allgemeinen kennzeichnet sie das, was wir als die moderne Welt kennen. Das hat uns alle tief geprägt, namentlich im Abendland. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass Bildung, Verstand und Wissenschaft die Welt immer besser machen.

Aber dann ging der Holocaust ausgerechnet von dem Land aus, das vielleicht das gebildetste, der Logik verpflichtetste, am meisten in die Vernunft verliebte Land war. Für die Europäer begann der Absturz ins postmoderne Denken an diesem Punkt: „Wenn Menschen so brutal, so unmenschlich sein können, ist vielleicht überhaupt nichts mehr richtig. Alle wichtigen Institutionen haben elendig versagt.“

Die Amerikaner blieben dank der Isolation von der Absurdität jenes irrsinnigen Krieges auf eigenem Boden verschont, verfügten über ungeheure Macht und unverbesserliche Unschuld, sodass sie bis spät in die 1960er-Jahre in der Moderne verharrten. Ich erinnere mich noch gut, wie mir in den 1950er-Jahren Lehrer in der Grundschule noch beibrachten, bis zum Ende des 20. Jahrhunderts hätten wir alle großen Krankheiten ausgerottet. Doch wie wir alle wissen, kam es dazu ganz und gar nicht. In Wirklichkeit sind wir jetzt mit ganz neuen physischen Krankheiten und vielen schweren Krankheiten von Geist und Seele konfrontiert.

Von den letzten fünfzig Jahren des 20. Jahrhunderts spricht man allgemein nicht mehr als Moderne, sondern bezeichnet sie als Postmoderne – das heißt als eine Kritik an falschem Optimismus und naivem Vertrauen auf den unaufhaltsamen Fortschritt. So leben wir also jetzt in der postmodernen Zeit, zumindest in Europa und Nordamerika und den von dort aus beeinflussten Ländern (was mehr oder weniger fast alle sind). Uns geht allmählich auf, dass es nicht allzu förderlich war, die Wirklichkeit einfach nur vom Paradigma der Wissenschaft, der praktischen Vernunft und des technologischen Fortschritts her zu deuten. Vor allem unserer Seele hat das gar nicht gut getan, ebenso wenig unserem Herzen und unserer Psyche. Auch für die globale Menschheitsfamilie war das nicht förderlich. Es muss mehr geben als nur den physischen, weltlichen, äußeren Blick aus dem Erdenfenster. Das Physische hat uns zwar äußerlich mächtig und effizient werden lassen, aber zugleich die wesentlichen, wirklich wichtigen inneren Bereiche unseres Menschseins völlig vernachlässigt. Unser innerer Mensch, dem es um den Sinn von allem geht, ist unterernährt geblieben.

Im derzeitigen Stadium der säkularen Entwicklung scheinen sich unsere Seele, unsere Psyche und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen in einem sich immer mehr beschleunigenden Maß geradezu aufzulösen. Die moderne Gesellschaft bringt sehr viele unglückliche und ungesunde Menschen hervor. Es ist beängstigend, wie sehr sich überall die Gewalttätigkeit ausbreitet. Uns geht daher allmählich auf, dass die postmoderne Geisteshaltung auf dem Hintergrund einer zerfallenden Weltsicht entstand. Sie weiß nicht mehr, wozu wir da sind, und genauso wenig, wogegen wir sind und wovor wir Angst haben. In intellektuellen Kreisen gilt es geradezu als naiv, wenn man noch eine positive Einstellung zum Leben hat. Man wird nicht mehr ernst genommen, sondern eher als Einfaltspinsel betrachtet.

Wenn wir dem nicht mehr trauen können, was wir für logisch und vernünftig halten, und wenn sich herausstellt, dass die Naturwissenschaft gar nicht in der Lage ist, ein völlig voraussagbares Universum zu erschaffen, dann drängt sich die Ahnung auf: Vielleicht gibt es überhaupt kein sinnvolles Grundmuster. Damit leben wir unversehens in einer Welt, die „entzaubert“ ist und Angst macht: In ihr scheint keine Intelligenz mehr zu walten. Sie scheint über keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende zu verfügen. Was übrig bleibt, sind nur noch private Ichs mit ihren privaten Versuchen, kurzfristig etwas Sinn zu finden und etwas in den Griff zu bekommen. Das ist dann Thema des postmodernen Romans, der dekonstruktivistischen Kunst und der Filme mit zielloser Ausrichtung und voll willkürlicher Gewaltausübung – eine Welt, welche die meisten Menschen prägte, die seit Mitte der 1960er-Jahre aufgewachsen sind. Ihr ist ein eigentlicher Sinn abhanden gekommen, man greift nach allem und jedem.

Der Weg der Weisheit

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