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Wissen und doch nichts wissen
ОглавлениеPostmoderne Geisteshaltung geht davon aus, dass man nichts wirklich wissen kann und alles ein soziales oder sogar intellektuelles Konstrukt ist, das schon bald wieder durch neue Informationen überholt sein wird. Paradoxerweise glaubt der Postmodernist gleichzeitig, er wisse mehr als jeder andere, und zwar genau aus dem Grund, weil es nichts Absolutes gebe, keine zeitlos wahre Wirklichkeit. Damit ist man schließlich so weit, dass man sich fast gottähnlich („ich weiß“) und zugleich extrem ratlos gibt („ich muss mir meine eigene Wahrheit ganz allein erschaffen, denn es gibt keine allgemeingültigen Anhaltspunkte“). Die Folge ist, dass der postmoderne Mensch in einem schizophrenen Zwiespalt lebt. Eine derartige Überforderung hätten sich die Menschen früherer Zeiten nie zugemutet. Kein Wunder also, in welchem Ausmaß heute sogar Kinder von Depression und Selbstmord gefährdet sind.
Postmodernes Denken ermächtigt dazu, alles in Misskredit zu bringen und abzuwerten, was uns schließlich in einen Zustand der Einsamkeit und Absurdität versetzt. Philosophisch bezeichnet man dies als Nihilismus (von lat. nihil, das heißt „nichts“). Am Nihilismus kranken wir heute alle mehr oder weniger, aber am meisten die ganz oben und die ganz unten in jeder Gesellschaft. Die Elite verfügt über die Freiheit, alles, worüber sie sich erhebt, gering zu schätzen und abzuwerten. Die Unterdrückten finden schließlich eine Erklärung für ihren traurigen Zustand. Diese Tragödie lässt sich deutlich bei den Minderheiten und Unterdrückten in der Welt ablesen sowie auch an der suchtartigen Spaßkultur der Reichen. Die Reichen schweben auf einem trügerischen Hoch, die Armen sacken in ein ungerechtes Tief, und letztlich sind beide Verlierer.
Der Jurist und Schriftsteller Stephen Carter, ein erstrangiger Kulturkritiker, beschuldigt viele seiner eigenen schwarzen Brüder und Schwestern sowie Amerika insgesamt, in eine nihilistische und unvermeidlich materialistische Weltsicht verfallen zu sein; die einzige Ausnahme seien diejenigen, die ihren religiösen Wurzeln treu geblieben sind (in: The Culture of Disbelief, „Die Kultur des Unglaubens“, 1994). Wir könnten dies von den meisten Bevölkerungsgruppen im Westen sagen, aber nur ein Schwarzer selbst kann das seinen eigenen Leuten vorhalten. Er konstatiert, in Amerika glaube man an nichts anderes mehr als an Macht, Besitz und Prestige, und all dem hänge man nur noch ein fadenscheiniges religiöses Mäntelchen um. Der jüdische Philosoph und Psychologe Michael Lerner sagt seiner jüdischen Leserschaft ziemlich das Gleiche (in: The Politics of Meaning, „Sinn-Politik“, 1996).
Ein weiterer Aspekt der postmodernen Geisteshaltung ist, dass sie nachhaltig vom „Markt“ geprägt ist. In einer vom Markt beherrschten Gesellschaft wie der heutigen hat nichts mehr in sich einen Wert, sondern nur noch einen Marktwert. Die allererste und oft einzige Sorge der Markt-Mentalität kreist um die Fragen: „Verkauft sich das? Bringt das etwas ein? Sind wir stärker als die Konkurrenz? Nach wenigen Jahren schon lässt diese Mentalität uns sehr hohl und konturlos werden und stachelt uns trotzdem noch einmal für einen weiteren Tag lang an. Der „Tempel“ der Schöpfung ist damit zum bloßen Kauf- und Verkaufsplatz verkommen. Kein Wunder, dass Jesus angesichts einer entsprechenden Szene in Wut geriet, „eine Geißel aus Stricken“ machte und die Händler damit aus dem Tempel jagte (vgl. Johannes 2,15).
Wenn wir den eigentlichen Sinn für den Wert verlieren, den etwas hat, geht uns jegliche Hoffnung darauf verloren, noch echte Werte zu finden, geschweige das Heilige. Selbst bei religiösen Menschen, die nicht wirklich beten, verfällt die Religion praktisch zu einer „Marktwert“-Religion. Es geht ihnen nicht mehr um das große Geheimnis, das mystische Einswerden und die Verwandlung, sondern nur noch um sozialen Rang und Macht. Moralvorschriften und priesterliche Hierarchien dienen dann nur noch dazu, die Menschen einigermaßen zu zivilisieren. Die Religion vieler, wenn nicht sogar der meisten Christen des Abendlandes spielt sich in den Kategorien von „Vergehen und Strafe“ ab, statt in denen von „Gnade und Barmherzigkeit“, wie sie Jesus verkündet hat.
Das wird dann zur einzigen Weise, auf die der postmoderne Christ glaubt, dem grundsätzlich konturlosen, schlechten Roman namens „Leben des Menschen“ etwas Gestalt geben zu können. Sie mag wie eine Antwort oder sogar eine Frohbotschaft aussehen, ist in Wirklichkeit aber wieder genau das gleiche alte Rezept wie in der ganzen bisherigen Menschheitsgeschichte: Wer groß und stark ist, gewinnt; Prometheus ersetzt Jesus. Ich muss zugeben, dass das auch das einzige Evangelium war, das ich in meinen frühen Seminarjahren mitbekommen habe. Welch frohe Überraschung war es dann für mich, als ich mich schließlich in die Evangelien versenkte und darin die Anleitung zu einer wirklichen Verwandlung der Menschen entdeckte!
Als Grundwerte einer nihilistischen Weltsicht bleiben schlussendlich nur mehr Vulgarität und Schock übrig. Wenn es keine Kriterien mehr für echte Qualität gibt, kann man es nur noch mit Quantität wettmachen, das heißt durch ständige Steigerung von Emotion, Gewalt, Sex und Lautstärke, was gewöhnlich zu einer vollständigen Entwertung von fast allem führt. Bald lautet die Sorge nur noch: „Wie kann ich mich hemmungsloser als alle anderen aufführen?“, und: „Wie kann ich alles verspotten, bevor es mich enttäuscht?“ Da es keine Heldinnen und Helden mehr gibt, verfällt der Einzelne in eine Art von negativem Heldentum, indem er möglichst hemmungslos alle menschlichen Schwächen, Süchte und Gemeinheiten öffentlich auslebt. Ich muss dann selbst nicht mehr erwachsen werden, sondern kann mir darin gefallen aufzuzeigen, dass alle anderen im Grunde genommen auch nicht besser und sowieso alle verlogen sind. Geht es so nicht auch weithin im politischen Leben zu? Bei diesem ganzen Spiel geht es darum, sich gegenseitig möglichst tief in den Dreck zu ziehen, was rein gar nichts mit der Abwärtsbewegung zu echter Demut zu tun hat. Es handelt sich lediglich um die Abwärtsspirale eines allumfassenden Skeptizismus. Wir bringen nicht mehr die Disziplin auf, menschliche Lebensformen zu entwickeln, weil wir nicht mehr glauben, dass es solche überhaupt gibt.
Seltsamerweise artet dies zu einer säkularen Form des Puritanismus aus; denn immer noch versuchen wir, die Sünden der Welt aufzudecken und zu verabscheuen; nur definieren wir sie jetzt anders. Die Art, wie Sexskandale in Washington behandelt werden, unterscheidet sich recht wenig davon, wie die alten irischen Priester darauf versessen waren, in ihrer Pfarrei alle Unzüchtigen aufzuspüren. Wir meinen, wir könnten unser Schatten-Ich in den Griff bekommen, statt es in eine größere Ganzheit einzubeziehen, indem wir es annehmen, ihm vergeben und es verwandeln. Kein Wunder also, dass sich Jesus überhaupt nicht auf das Schatten-Ich konzentrierte, sondern fast nur auf das wahre Selbst.
Wo es für die Welt keinen zusammenhängenden Sinn oder göttlichen Zweck gibt, fällt es viel leichter, nach jemandem zu suchen, den man entlarven, anklagen, vertreiben oder bloßstellen kann. Schließlich muss ich ja einen Schuldigen dafür finden, dass ich so unglücklich bin! Solange ich versuche, mich mit dem Geheimnis des Bösen auf andere Weise zu befassen als mit einer Haltung des Vergebens und Heilens, erschaffe ich weiterhin negative Ideologien wie Fundamentalismus hier, Nihilismus dort, in ihren zahllosen Spielarten. Der eine fordert vollkommene Ordnung; der andere behauptet, eine solche sei grundsätzlich gar nicht möglich. Jesus tat keines von beidem; er lebte vielmehr mitten im Zwiespalt des Menschen.
In den letzten Jahren haben wir erlebt, was wir vor Kurzem noch für undenkbar gehalten hätten. Diese Schauspiele beschränken sich durchaus nicht auf einzelne kulturelle Tabubrecher, sondern dieser Trend äußert sich im Hauptstrom zeitgenössischer Kunst und Medien, im Schreiben und in jedem Aspekt des Lebensstils: Von wem wird denn noch erwartet, sich an die klassischen Disziplinen von irgendetwas zu halten, zumal es solche angeblich ja überhaupt nicht mehr gibt?
Es ist die eine Sache, die Jahre disziplinierten Übens auf sich zu nehmen, die man braucht, um eine bestimmte Kunst oder ein Handwerk zu beherrschen, und sich dann auf neue und kreative Weise auf dem Papier oder in einem anderen Medium auszudrücken. In manchen Fällen mag daraus große Kunst werden. Bevor man die Regeln brechen kann, muss man sie aber zuerst einmal kennenlernen. Im „Brechen von Regeln“ kann sich eine gewaltige Kreativität oder gar echte Heiligkeit äußern. Aber wenn man, noch ehe jemals einen Pinsel in der Hand gehabt zu haben, gleich damit anfängt, Farbe aufs Papier zu klecksen, und dies als großartigen Selbstausdruck bezeichnet, bleibt es eine kurzlebige Sache. Diese „Kunst“ verfügt über nichts, was sie mit dem kollektiven Gedächtnis oder dem Archetypischen verbinden würde. Sie zeigt nur, was ich fühle. Das Ich steht beherrschend und lässt anderen so gut wie keinen Platz. Alle Anknüpfung für Gemeinschaftliches, das sich mit anderen teilen ließe, fehlt.
Private Gefühle sind unsere heutige Form der Wahrheit; es ist eine Art vollständigen Aufgehens in sich selbst – verständlich, denn es gibt ja keine allgemeinen Muster mehr. Menschen meinen, wenn sie ihre privaten Gefühle zum Ausdruck brächten, leisteten sie etwas Großartiges. Das kann man in Talkshows sehen: Menschen, die sich da aussprechen, haben nie etwas anderes gelesen oder studiert, zu nichts anderem gebetet und auf nichts anderes gehört als auf ihre eigenen tyrannischen Gefühle. Doch sind sie fest davon überzeugt, sie hätten ein Recht darauf, dass ihre uniformierten Ansichten über das Sozialsystem, die Religion oder die Ökosteuer öffentlich bekannt gemacht und ernst genommen werden! Kein Wunder, dass unsere öffentliche Diskussion verfällt, selbst in den Bereichen von Gericht, Parlament, Universität und auch Kirche.
Es stimmt, dass viele Leute wütend und frustriert sind und etwas darüber zu sagen haben; aber wir sollten auch auf größere Geister hören, auf größere Herzen, größere Seelen, die nicht lediglich darauf versessen sind, sich selbst kundzutun: „So bin ich“, sondern auch das größere Spektrum von „So sind wir“ ansprechen und insbesondere die großen Lebensthemen (im 5. Kapitel wird davon ausführlicher die Rede sein). Das sind Menschen, die dazu beitragen, große Lebensperspektiven aufzubauen, Menschen, auf die zu hören und mit denen zu reden sich lohnt. Ich denke, dies bedeutet, Teil des großen Prozessionszugs der Menschheit durch die Geschichte zu sein, statt nur ein isoliert in der Gegend herumstehendes Individuum; Glied am kosmischen Leib Christi zu sein, statt sich nur mit der widersprüchlichen Selbstbezeichnung eines „individuell Glaubenden“ zu versehen.
Ein eingefleischter Individualist ist keineswegs ein Glaubender; denn glauben heißt, sich im Vertrauen an etwas zu binden, sich auf etwas oder jemanden ganz und gar einzulassen, zu etwas dazuzugehören und definitiv Verantwortung zu tragen. Bevor wir unsere heutige im spirituellen Sinne verfallende, minimierte Lebenskultur wieder aufbauen können, müssen wir zunächst einmal selbst intensiv an etwas angeschlossen sein. Dies erst weckt wahre Religion; denn re-ligio heißt „Rück-Bindung“, „Wieder-Anbindung“. Vielleicht ist das auch eine Umschreibung für „sich wieder auf elementare Grundwerte einlassen“.