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Kapitel 5

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Bensenville, New Mexiko

Drei Tage nach dem Einbruch in das Galveston National Laboratory

10:44 Uhr

Fünfundzwanzig Meilen nördlich der mexikanischen Grenze gab es eine kleine Stadt, die man nur mit Allradantrieb erreichen konnte, und in der ein ausgetrockneter Springbrunnen auf die gleiche Weise den Mittelpunkt einer Ansiedlung bildete wie ein Musikpavillon in einem Dorf.

Eine Staubwolke hinter sich herziehend, bahnte sich ein Jeep seinen Weg durch die Wüstenlandschaft. Als er die Mitte der Stadt erreicht hatte, parkte der Fahrer den Wagen neben einem alten Pick-up-Truck, der noch die alten, ausladenden Kotflügel besaß. Auf der hinteren Stoßstange war ein Aufkleber, auf dem Mutter, Kanonen und Bier zu lesen war.

Der Fremde stieg aus seinem Jeep, blieb einen Moment lang stehen und betrachtete abwertend die Stadt, die eher einem staubigen Feldlager glich. Hinter ihm wehten die Schöße seines langen Ledermantels in der sanften Brise. Er war etwa einen Meter neunzig groß und schlank und hatte breite Schultern und ein kantiges Gesicht, welches sich besonders in seinem Kinn und der gebogenen Nase ausdrückte. Seine Augen hinter den stark getönten Brillengläsern ähnelten obsidianfarbenem Glas und waren dunkel und durchdringend.

Der Mann sah zu der grellen heißen Sonne hinauf und drehte sich dann zu dem Springbrunnen um, der einstmals bestimmt als Schmuckstück errichtet worden war, um der Stadt einen gewissen Reiz zu verleihen, sich aber über die Jahre hinweg immer mehr mit Sand gefüllt hatte. Oben auf dem Springbrunnen hockte ein Rabe, der den Fremden aus seinen schwarzen und scheinbar seelenlosen Augen gleichgültig musterte.

Der Mann entfernte sich von seinem Jeep und betrat eine kleine Bar, auf deren ausgeblichenem Schild neben der Aufschrift Jimmy Ray’s das Logo irgendeiner Flasche, wahrscheinlich ein sündhaft teurer Schnaps, zu sehen war, der in ein Martini-Glas gegossen wurde. Das Etablissement war von einem Blechdach bedeckt, das über die Jahre verrostet war, aber farblich zu den ebenfalls angerosteten Blechwänden passte.

Als er eintrat, drehte ein einzelner Deckenventilator langsam seine Runden, ohne jedoch viel mehr zu tun, als die heiße stickige Luft in dem Raum zu verteilen. In der Mitte der Bar saßen drei Männer – Brüder, ihrem Äußeren nach zu urteilen. Mechaniker, die alles reparierten, was mit Diesel angetrieben wurde, was in Bensenville so ziemlich alles war, was vier Räder besaß.

Der Fremde, der einige prüfende Blicke der Brüder und des Barkeepers auf sich zog, setzte sich am anderen Ende der Bar an einen Tisch, auf dem eine kleine Jukebox stand, wie man sie normalerweise nur in einem Diner aus den Fünfzigerjahren zu sehen bekam. Eine von der Sorte, die drei Songs für einen Vierteldollar abspielen konnte. Der Preis hatte sich offenbar nicht geändert, genauso wenig wie die Lieder – Country-Oldies von Musikern, von denen der Mann vielleicht ein oder zwei Mal in seinem Leben gehört hatte, für gewöhnlich als Frage in einer Quizshow.

Der Barkeeper kam nun zu seinem Tisch, wischte sich seine Hände an seiner Schürze ab und fragte: »Kann ich etwas für Sie tun, Mister?«

»Ja, ich nehme ein Corona.«

»Tut mir leid, aber wir führen keines dieser neumodischen französischen Biere in diesem Etablissement.«

Wohl eher mexikanisch. »In Ordnung«, sagte der Fremde. »Was haben Sie denn dann im Angebot?«

»Nun, wir haben Miller Lite, Mister.«

Als der Barkeeper die Aufzählung nicht fortführte, hakte der Fremde nach. »Und weiter?«

»Nichts weiter. Miller Lite ist alles, was wir haben.«

Der Fremde verzog keine Miene, auch wenn er die dürftige Auswahl kaum fassen konnte. »Haben Sie Coke?«

»So etwas ähnliches«, antwortete der Barkeeper.

»Pepsi?«

»So etwas Ähnliches.«

Was für ein Laden ist das denn hier?, fragte sich der Fremde. »Dann nehme ich eben, was Sie dahaben«, sagte er.

Nachdem der Barkeeper wieder hinter seinem Tresen verschwunden war, deutete der Größte der drei Brüder mit einem eher anklagend als freundlich wirkenden Finger auf ihn und fragte: »Sind Sie auf der Durchreise?«

Der Fremde nickte. »Könnte man so sagen, ja.«

»Okay, dann werd ich Ihnen jetzt mal was erklär’n …«

Erklär’n? Der Fremde hasste den Redneck-Slang dieser Typen schon jetzt.

»Da Sie hier ja fremd sind … in dieser Bar gilt die Faustregel, dass jeder Neuankömmling eine Runde Bier ausgeben muss.«

»Nun ja, aber ich bin kein Neuankömmling. Ich bin nur auf der Durchreise, das ist alles.«

Das Gesicht des großen Mannes nahm daraufhin einen etwas bedrohlicheren Ausdruck an. »Das is aber nich gerade sehr freundlich. Wir bewirten in dieser Stadt niemanden, der unfreundlich ist.« Der Mann richtete sich zu seiner vollen Größe auf, mindestens zwei Meter. Er war augenscheinlich sehr stark, was wahrscheinlich von den Motoren kam, die er sein Leben lang gestemmt hatte. Aber der Fremde wusste, dass dieser Mann für ihn keine Bedrohung darstellte, egal, wie groß er auch war.

»Hey, ich will keinen Ärger hier, Billy-Joe«, rief der Barkeeper nun.

Der große Mann drehte sich zu dem Barkeeper um und starrte ihn finster an. »Du hältst dich da raus, Jimmy Ray. Das geht dich nichts an.«

»Doch, das tut es, wenn es sich dabei um meinen Laden handelt«, erklärte der Barmann und stellte ein Glas Cola vor dem Fremden ab. »Das macht dann fünf Dollar. Trinkgeld nicht mit eingerechnet.«

Der Fremde zog einen Zehn-Dollar-Schein aus einem großen Bündel Geldscheine und drückte ihn dem Barkeeper in die Hand. »Behalten Sie den Rest«, sagte er.

Der Barkeeper entfernte sich. Den Brüdern war nicht entgangen, dass der Fremde über sehr viel Bargeld verfügte.

»Mir scheint es so, dass sie genug haben, um freundlich zu sein und uns ne Runde Bier zu spendieren.« Der große Mann trat jetzt einen Schritt vor, und seine beiden Brüder, die genauso riesig waren wie er, sprangen ebenfalls auf.

Der Fremde konnte sich eine Konfrontation nicht leisten, vor allem nicht jetzt, wo er so etwas Wichtiges in seiner Tasche mit sich herumtrug, also setzte er ein falsches Lächeln auf und der große Mann blieb sofort stehen. »Wissen Sie was«, sagte der Fremde an den Barkeeper gewandt, »wie wäre es mit einer Runde Bier für diese netten jungen Herren hier?«

Der Barkeeper nickte. »Kommt sofort«, erwiderte er. »Und du setzt dich gefälligst wieder hin, Billy-Joe. Dieser Mann hier ist sehr freundlich gewesen und hat ein anständiges Trinkgeld gegeben.«

Doch der große Mann starrte den Fremden weiterhin finster an und zog die Augenbrauen zusammen. Erst nach einer ganzen Weile entspannte sich sein Gesichtsausdruck wieder, doch der Fremde hegte keinen Zweifel daran, dass dies nur vorgetäuscht vor.

Nachdem der Mann wieder zu seinem Tisch zurückgekehrt war und sich zu seinen Brüdern gesellt hatte, konnte der Fremde sie leise miteinander tuscheln und lachen hören. Doch das kümmerte ihn nicht. In dreißig Minuten würden sie ohnehin tot sein.

Er nahm ein paar Schlucke von seiner Billig-Coke oder -Pepsi, die nach keinem von beiden schmeckte, griff dann in seine Manteltasche und zog ein Glasfläschchen hervor, welches schwarz gefärbt worden war, damit man den Inhalt nicht sehen konnte. Er legte es auf die Tischplatte. Als Nächstes förderte er eine kleine und auf beiden Seiten leere Visitenkarte zutage, schrieb etwas darauf, faltete die Karte in der Mitte zusammen, sodass sie ein kleines Zelt bildete, und stellte die gefaltete Karte sorgfältig über das Fläschchen.

Anschließend stand er auf, nickte den Brüdern zur Verabschiedung kurz zu – was ihm eine spöttische Bemerkung von Billy-Joe und das Gelächter seiner Brüder einbrachte – und verließ das Lokal.

An seinem Jeep angekommen, steckte er sich seinen Bluetooth-Kopfhörer ins Ohr und schaltete das Gerät ein. »Ich bin es«, meldete er sich, startete den Motor und legte den Rückwärtsgang ein.

»Wo bist du?«, erkundigte sich der Navigator.

»Ich verlasse soeben Bensenville«, antwortete er.

»Sehr gut. Und das Paket?«

Der Fremde verzog seine Mundwinkel zu einem sardonischen Lächeln. »Habe ich als Trinkgeld dagelassen«, erklärte er. Der Fremde trat jetzt hart auf das Gas, schoss an dem Springbrunnen vorbei, wo er den Raben aufscheuchte, und hielt dann auf die Zufahrtsstraße zu, die ihn von Bensenville fortführen würde. Der perfekte Ort für Ground Zero, ein Ort, an dem es keine Kameras und so gut wie keine Technologie gab. Außerdem vollkommen isoliert, sodass die Kollateralschäden auf ein Minimum begrenzt sein würden.

»Sehr gut«, wiederholte der Navigator. »Die menschliche Natur wird nun für alles Weitere sorgen. Du hast alles erledigt, Ezekiel. Zeit, nach Hause zu kommen.«

Der Mann hinter dem Steuer des Jeeps jagte jetzt über die Anhöhen und Senken der Wüstenlandschaft hinweg und versuchte so viel Abstand wie nur möglich zwischen sich und der kleinen Stadt zu bringen. Er fragte sich, ob die Brüder den Geist bereits aus der Flasche befreit haben würden.

Er lächelte.

Als der Fremde verschwunden war, begab sich der Barkeeper mit einem feuchten Lappen zu dem Tisch, um ihn sauber zu wischen, und bemerkte die gefaltete Karte. Er las die Notiz, die darauf geschrieben stand. Das ist Ihr Trinkgeld. Unter der Karte entdeckte er ein Fläschchen, nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger und schüttelte es leicht.

»Was hast du da, Jimmy Ray?«, fragte einer der Brüder neugierig.

Jimmy Ray musterte die kleine Flasche und runzelte ratlos die Stirn. »Wieso sollte jemand so etwas hier zurücklassen?«

»Was isses denn?«, wollte nun auch Billy Ray wissen.

Der Barkeeper schüttelte das Fläschchen. »Das ist seltsam«, meinte er. »Die scheint leer zu sein.«

Billy-Joe schlurfte daraufhin mit seinem Bierglas in der Hand zu dem Barkeeper und griff nach dem Fläschchen. Jimmy Ray aber zog seine Hand weg.

»Mal langsam mit den jungen Pferden, Billy-Joe.« Doch Billy-Joe dachte gar nicht daran. Mit seiner freien Hand schnappte er sich das Reagenzglas und hielt es sich aufgrund seiner schwächer werdenden Sehkraft ganz nah vor das Gesicht, dann schüttelte er das Fläschchen heftig und kam schließlich ebenfalls zu dem Schluss, dass Jimmy Ray recht hatte. Das Fläschchen war leer, also gab er es ihm enttäuscht zurück.

Jimmy Ray kehrte mit dem Fläschchen zum Tresen zurück, warf den Wischlappen beiseite, fummelte an der Plastikkappe herum und kratzte schließlich die Versiegelung ab, bis sich die Kappe löste. Danach schüttete er das Fläschchen über seiner linken Handfläche aus. Aber es kam nichts heraus. Das Röhrchen war tatsächlich leer. »Dachte ich mir schon«, sagte er. »Das Ding ist so leer wie dein Schädel, Billy-Joe.«

»Das ist ja wirklich mal ein Wahnsinns-Trinkgeld, Jimmy Ray.« Die Bemerkung von Billy-Joe löste schallendes Gelächter bei seinen Brüdern aus. »Ein Wahnsinns-Trinkgeld. Hab dir ja gesagt, dass es leer ist.«

Aber Billy Ray lag falsch. So falsch wie noch nie zuvor in seinem Leben.

Denn das Fläschchen, welches Jimmy Ray gerade achtlos in den Müll geworfen hatte, enthielt mehr Dämonen als die Büchse der Pandora.

Bensenville, New Mexico

13:34 Uhr

Als der Pick-up-Truck auf die Zufahrtsstraße nach Bensenville einbog, bemerkten die beiden Brüder Dana und Andrew – von denen Andrew zwölf Jahre älter war – sofort den aschfarbenen Staub, der sich wie feines Talkumpuder über die gesamte Landschaft, den Boden, den Springbrunnen und die Dächer herabgesenkt hatte. Winzige graue, an Ascheflocken erinnernde Partikel fielen wie Schneeflocken träge von einem wolkenlosen Himmel herab und sammelten sich auf der Windschutzscheibe, was Andrew dazu veranlasste, den Scheibenwischer einzuschalten, der die Asche aber nur in zwei Halbkreisen auf der Scheibe verschmierte und ihnen schließlich die Sicht versperrte.

Auf der kleinen Anhöhe angekommen, lenkte der Fahrer den Wagen zu dem Springbrunnen, stieg aus dem Pick-up und stellte fest, dass der Schafbock, den sie am frühen Morgen geschossen hatten und der nun auf der Ladefläche lag, ebenfalls ergraut war und seine bräunliche Färbung komplett verloren hatte. So stark war der seltsame Niederschlag.

Andrew schaute in den Himmel hinauf, sah aber keine einzige Wolke, von der dieser seltsame Ascheregen hätte stammen können. Der Himmel war blau und wolkenlos, soweit das Auge reichte und doch trieben seltsame Flocken durch die Luft.

Dana, ein junger Mann im Teenageralter mit einem Gesicht voller Pickel, die jeden Moment aufzuplatzen drohten, wischte sich seine Finger an seiner Kleidung ab, die bereits ebenfalls grau zu werden begann. »Was geht denn hier vor, Andy?«, fragte er verunsichert.

Andrew, der immer noch in den Himmel starrte, schüttelte verwundert den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. Während er gedankenverloren dastand, fielen Flocken auf seinen Kopf und verwandelten sein tiefschwarzes Haar in ein aschfarbenes Grau.

Er ließ seinen Blick über die Stadt schweifen und stellte fest, dass wirklich alles mit Asche bedeckt war, einschließlich der gesamten Landschaft. Die beiden ließen ihren Truck am Springbrunnen zurück und begaben sich ins Jimmy Ray’s. Auf ihren Weg dorthin hinterließen sie deutlich sichtbare Fußspuren in der angesammelten Schicht, die so fein wie Mondstaub beschaffen war.

Im Inneren der Bar bot sich ihnen das gleiche Bild – Tische, Stühle und der Tresen waren mit grauer, toter Asche bedeckt.

Auch die Luft war mit dem feinen Staub durchsetzt, der träge umherwirbelte und einen an Nebel erinnernden Schleier bildete.

An einem Tisch zu ihrer Rechten befanden sich drei leblose Körper, die über einem Glas Bier zusammengesunken waren. Ihre Kleidung schien irgendwie zu groß für sie zu sein und hing über ihren Leibern wie riesige Decken. Als sich Andrew dem Tisch näherte, wurde ihm bewusst, dass mit der Haut an ihren Händen irgendetwas nicht stimmte. Sie wirkte irgendwie alt und faltig, so als würden die Knochen darunter fehlen. Unter den Leibern hatten sich Lachen einer dunkelroten Flüssigkeit gebildet, die ihnen offenbar aus allen Körperöffnungen rann. Sie waren regelrecht ausgeblutet und der Gestank war einfach überwältigend, er erinnerte an eine Jauchegrube an einem heißen Sommertag.

»Andy …« Doch Dana sprach nicht weiter, denn er spürte instinktiv, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging.

Andrew hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.

Dann trat er vorsichtig ein paar Schritte näher an die Männer heran und sah, dass sich die Körper unter ihrer Kleidung aufgelöst hatten. Ihre Arme und Beine waren kaum noch dicker als Besenstiele, und als er in ihre Gesichter blickte, drehte sich ihm komplett der Magen um. Denn unter ihren Haaren schienen die Schädel die Konsistenz von Ton angenommen zu haben. Die ursprünglich scharfen Gesichtszüge waren unter ihrer Haut dahingeschmolzen wie flüssiges Wachs. Ihre Gesichter waren auf eine furchtbare Art und Weise entstellt und vollkommen unsymmetrisch. Die Augen befanden sich nicht mehr auf gleicher Höhe und ihre Münder waren verzerrt, was ihnen den Anschein verlieh, als würden sie ihn hämisch angrinsen.

Andrew wich panisch zurück, ohne den Blick von den Leichen abzuwenden, dann wirbelte er auf den Fersen herum und stürmte aus der Bar hinaus, während Dana ihm noch etwas hinterherrief.

Die Toten in der Bar grinsten weiter vor sich hin.

ALTE WUNDEN (Die Ritter des Vatikan 6)

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