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Kapitel 1

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Ein Jahr nach dem Tod von Papst Gregor XVII

Das erste Jahr der Regentschaft von Papst Pius XIV

Die Jesus Saves-Mission

Las Vegas, NV

Der hochgewachsene Mann saß an seinem Tisch und starrte auf das Gesicht von Jesus Christus hinab, das in seinen Toast gebrannt war. Um ihn herum saßen lauter Menschen wie er – Menschen, die verloren, einsam und ohne Hoffnung waren. Menschen, deren Gesichter so erschöpft wirkten, dass sie wie Gummimasken aussahen.

Einen Moment lang betrachtete er das Profil des Heilands, der scheinbar eine angedeutete Dornenkrone trug. Kein Zweifel, das Bild war überdeutlich zu erkennen. Das Bild von Jesus Christus schien überall aufzutauchen, seit er in den letzten vier Monaten mit nichts weiter als einem schmutzigen Rucksack und ein paar Habseligkeiten durch das Land trampte. Überall sah er Kreuze und Kirchtürme, und überall begegneten ihm Bilder von Jesus … als Fotos, Ausdrucke oder Aquarelle, an den Wänden von Restaurants oder in Motel-Zimmern. Er hatte sogar durch die Seiten der Gideon-Bibel geblättert und die Worte darin aufgesaugt. Doch wo immer er auch hinsah, oder wohin er auch ging, der Messias schien ihn, mit seinen traurigen, flehenden Augen, unentwegt zu beobachten.

Er seufzte und legte den Toast auf den Pappteller zurück.

»Isst du den noch?«, fragte die Person neben ihm und deutete auf die Brotscheibe. Der Mann war spindeldürr und beinahe zerbrechlich. Seine Augen wirkten wie eine gallertartige Masse. Der Anblick eines Säufers.

Der große Mann schob dem Obdachlosen seinen Teller hin. »Er gehört dir«, ließ er ihn wissen. Lass ihn dir schmecken.

Der spindeldürre Mann zögerte keine Sekunde, bedankte sich jedoch auch nicht. Er schnappte sich einfach nur den Teller und stopfte das Brot in sich hinein, ohne dem Konterfei darauf Beachtung zu schenken. Als er damit fertig war, putzte er sich die Krümel von den Händen, stand, ohne sich zu verabschieden, auf und schlurfte durch die Gänge des Essbereichs der Mission davon. Zusammen mit ihm entschwand auch der aromatische Hauch von Alkohol, den er die ganze Zeit verströmte.

In seinem früheren Leben hatte der große Mann Kimball Hayden geheißen, aber in diesem Leben nannte ihn jeder nur Seth; der Mann ohne Vergangenheit, der nur für den Moment lebte und keine definierbare Zukunft hatte.

Vor ein paar Monaten hatte er seine letzte Mission als Vatikanritter durchgeführt, war dabei aber nur seinen persönlichen Rachegefühlen gefolgt, anstatt in Übereinkunft mit den Gesetzen oder den Weisungen des Papstes zu handeln. Entgegen der Lehre der Kirche und dem Verhaltenskodex der Ritter des Vatikan hatte er einen Mann getötet. Mit dieser Tat hatte sich Kimball für die ewige Verdammnis anstelle der Erlösung entschieden und dafür, dass Papst Pius sich von ihm abwendete.

Er schloss die Augen und versuchte den säuerlichen Kloß hinunterzuschlucken, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Er hatte der einzigen Familie, die er je gekannt und geliebt hatte, den Rücken gekehrt und jeden in dem Glauben gelassen, er wäre bei dem finalen Duell mit Jadran Božanović, dem Anführer eines Menschenhändler-Kartells, ums Leben gekommen.

Als er eine sanfte Berührung an seiner Schulter spürte, zuckte Kimball unwillkürlich zusammen.

»Entschuldige bitte, Seth«, sagte die Frau. »Aber du hattest die Augen geschlossen. Ich wollte nur nachsehen, ob mit dir alles in Ordnung ist.«

Schwester Abigail war seiner Ansicht nach eine wirklich atemberaubend schöne Frau. Ihr elfenhaftes Gesicht wurde von der Haube ihrer Kutte umrahmt. Außerdem erinnerten ihn ihre sanften blauen Augen an die Farbe des Meeres in Jamaika. Ihre Nase war leicht nach oben gebogen, was ihr ein kühnes Aussehen verlieh, das von einem gütigen Lächeln und unglaublich ebenmäßigen Zähnen untermalt wurde. Sie war noch jung, vielleicht Ende zwanzig oder Anfang dreißig, und ohne jeden Zweifel unantastbar.

»Mir geht es gut«, sagte er und ließ dabei seine eigene Zahnreihe aufblitzen, die im Gegensatz zu den meisten anderen Männern, denen sie in der Mission begegnet war, gesund und weiß war. »Ich war nur in Gedanken, das ist alles.«

Ihr Lächeln wurde breiter. »Ich habe dich vermisst«, erklärte sie ihm. »Ich habe dich nämlich schon ein paar Tage lang nicht mehr hier gesehen.«

»Ich hatte zu tun«, log Kimball. Wobei es eigentlich nicht wirklich gelogen war, denn er war damit beschäftigt gewesen, einen ehrlichen Job zu suchen, hatte sich am Ende aber doch immer in einer Bar wiedergefunden, in der das Bier nur einen Dollar kostete. Er wollte aber nicht, dass sie davon erfuhr, und genauso wenig wollte er sich unter jene einreihen, mit denen er sich hier umgab und mit denen sie sich tagtäglich abgab. Er wollte unbedingt einen anderen Eindruck bei ihr hinterlassen »Braucht der Pfarrer meine Hilfe in der Kirche?«

»Auf dem Gelände«, antwortete sie ihm. »Glaubst du, der Aufgabe gewachsen zu sein?«

Vor zwei Monaten war Kimball zu jener Kirche zurückgekehrt, der er einmal eine Spende von sechstausend Dollar übergeben hatte, die er als Kämpfer im Ring verdient hatte, und hatte dabei mit dem Pfarrer gesprochen. Dieser hatte sich später sofort an Kimball erinnert, denn noch nie zuvor hatte ihm jemand eine so große Geldsumme überlassen. Als er ihn nach seinem Namen gefragt hatte, hatte er sich kurzerhand Seth genannt, nach dem dritten Sohn von Adam und Eva, der als Beschützer der Unschuldigen bekannt geworden war. Von diesem Zeitpunkt an war eine Freundschaft, mit Pater Donavan, aber auch mit Schwester Abigail erwachsen.

Es war eine kleine Kirche mit einem kleinen Kirchenhof, in dem eine Statue der Jungfrau Maria das Zentrum bildete und der von unzähligen Rosenbüschen und Azaleen umgeben war, die in allen erdenklichen Farben blühten. Unglücklicherweise befand sich die Kirche in einer Gegend mit einer hohen Kriminalitätsrate, weshalb die umgebenden Mauern sehr hoch und die Türen stets verschlossen waren, außer Sonntags, wenn Gottesdienste abgehalten wurden.

Hier hatte Kimball endlich seinen Frieden gefunden.

»Ich werde morgen um dreizehn Uhr hier sein«, versprach er. »Ich suche nämlich noch immer einen Job.« Er wollte sie in dem Glauben lassen, dass er ein Mann mit einem Ziel war, ein Mann der nach etwas strebte. Doch in Wahrheit war er das nie gewesen.

Sie tätschelte ihm sanft die Schulter. »Dann sehen wir uns morgen.«

Ihr Lächeln war so strahlend, dass Kimball dieses Bild am liebsten festgehalten hätte, um es in Gedanken immer mit sich herumtragen zu können. »Um dreizehn Uhr«, bestätigte er mit leiser Stimme.

Sie lief weiter, und Kimball sah ihr dabei zu, wie sie andere Männer begrüßte und ihrer Aufgabe folgte, deren Leben ein wenig besser zu machen. Sie versuchte ihnen Hoffnung zu geben, jeden Einzelnen von ihnen mit Hingabe dazu zu bringen, sich zum Besseren zu verändern. Was auch Kimball mit einschloss, der in dieser Sache momentan deutlich hinterherhinkte.

Kimball – oder Seth – ließ sie nicht aus den Augen, denn sie war das Licht in seiner Dunkelheit.

Nachdem er die Mission verlassen hatte, sah Kimball auf und bemerkte das Schild. Eine weitere Erinnerung an die Reise, auf der er sich befand. Die Worte auf dem Schild lauteten:

JESUS

A

V

E

S

ALTE WUNDEN (Die Ritter des Vatikan 6)

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