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Kapitel 7

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Bensenville, New Mexiko

16:17 Uhr

Nachdem die Behörden der benachbarten Ortschaften von den beiden Brüdern über die Geschehnisse in Bensenville unterrichtet worden waren, machte sich sofort ein immenses Militäraufgebot auf den Weg. Alle Zufahrtsstraßen zu der Stadt wurden abgeriegelt. Militärfahrzeuge mit Abdeckplanen säumten in einem Umkreis von beinahe zwei Meilen die Straßenränder und bewaffnete Soldaten in Schutzanzügen bewachten die Eingänge.

Auf einem flachen Geländeabschnitt westlich von ihnen starteten gerade drei Helikopter. Die Rotoren drehten sich bereits so schnell, dass sie vor den Augen verschwammen, und der Aufwind wirbelte Staub in der Farbe des Wüstensandes auf, als sie sich in die Lüfte erhoben und auf die Stadt zuhielten.

In dem führenden Hubschrauber befanden sich Jason Melbourne von der NSA, Stephen Kendrick und Pauline Child vom CDC und Jerald Seymour vom Department of Counter Terrorism. Jeder von ihnen trug einen Schutzanzug. An Bord der anderen beiden Hubschrauber waren insgesamt sechzehn bewaffnete Männer einer Eliteeinheit.

Seymour brütete momentan über einigen Dokumenten. Ohne aufzublicken, murmelte er gedämpft hinter dem Plexiglas seines Gesichtsschutzes: »Wie groß ist die Einwohnerzahl dieser Stadt?«

Melbourne blätterte hastig durch seine eigenen Unterlagen. »Vierundachtzig«, antwortete er dann.

»Opfer?«

»Bisher noch unbekannt«, erwiderte Melbourne.

»Was ist mit den beiden Brüdern?«

»Die befanden sich zwei Meilen entfernt auf einem Jagdausflug, diese Gegend liegt aber nichtsdestotrotz in der Quarantänezone. Doch es scheint ihnen gutzugehen.«

»Keine Hinweise darauf, dass sie das Virus in sich tragen?«

»Bislang nicht.«

Seymour legte seine Dokumente jetzt beiseite. »In Ordnung«, begann er. »Im Prinzip arbeiten wir alle für die Regierung. Ich denke, es dürfte klar sein, dass alles, was wir hier entdecken, im Interesse der nationalen Sicherheit der absoluten Geheimhaltung unterliegt. Was wir heute in dieser Stadt vorfinden werden, wird ausschließlich an das National Security Council und die National Security Defense übermittelt werden. Habe ich mich da klar ausgedrückt?«

Reihum stimmten ihm alle mit einem Kopfnicken hinter ihren Plexiglasmasken zu.

Melbourne brannte aber noch eine Frage auf der Zunge. »Was geschieht denn jetzt mit den Brüdern?«

»Wir behalten sie in Quarantäne, bis das Ganze vorüber ist, dann klären wir sie über die drastischen Konsequenzen auf, die es hätte, wenn sie irgendetwas davon an die Öffentlichkeit tragen würden.«

»Verstanden.«

Jetzt wandte sich Seymour an Stephen Kendrick und Pauline Child vom CDC. »Was können Sie mir über dieses Virus sagen?«, erkundigte er sich.

Kendrick und Child sahen einander an, dann nickte Kendrick und gab seiner Kollegin damit das Okay, die Frage zu beantworten.

Pauline Child beugte sich nach vorn und versuchte mit ihrer Stimme den Lärm der Rotoren zu übertönen. »Vor etwa achtzehn Monaten hat die Universität von Texas eine Erkundungsreise in die Antarktis finanziert, wo man auf eine bislang einzigartige Bakterienform gestoßen ist, die über zweihunderttausend Jahre alt ist und mit keinem uns bekannten Bakterium oder Virus verwandt ist. Als man die Proben sichergestellt und sie aufgetaut hat, wurde der Virus wieder aktiv, nachdem er all die Jahrhunderte vor sich hin geschlummert hat.«

»Und?«, bohrte Seymour weiter nach.

»Wie bei jedem unbekannten Pathogen wurde es als Sicherheitsmaßnahme sofort als B-4 klassifiziert und für weitere Studien nach Atlanta geschickt, bis wir genau wussten, wozu es in der Lage ist.«

»Dieser Virus, hat soeben eine ganze Kleinstadt ausgerottet«, warf Seymour ein. »Er hat alles mit einer ascheähnlichen Schicht bedeckt. Womit genau haben wir es hier zu tun?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist keine Asche«, erklärte sie ihm. »Was Sie da gesehen haben, nennen wir die Überreste.«

Verwundert neigte er den Kopf. »Überreste?«

»Dieser Virus, Mr. Seymour, ist die perfekte Tötungsmaschine. Er tötet nicht nur jegliches organisches Leben, sondern auch alle anderen Viren und Bakterien. Es vernichtet einfach alles, was sich in unserer Luft befindet, aber zu klein ist, um mit bloßem Auge wahrgenommen zu werden. Es tötet die Milben, die sich von dem toten Gewebe ihrer Haut ernähren. Es tötet sämtliche Pflanzen und pflanzliches Material wie Bäume oder Unkraut, und das, was Sie da auf dem Boden gesehen haben, sind die Überreste dessen, was das menschliche Auge normalerweise nicht sehen kann, lebendige Partikel, die nur ein Milliardstel unserer Größe haben.«

Diese Erläuterungen beunruhigten Seymour sichtlich und er fragte sich, ob die Schutzanzüge wirklich imstande sein würden, dieses Virus zurückzuhalten.

Als Pauline seinen besorgten Gesichtsausdruck bemerkte, hob sie ihre Hand und winkte ab. »Keine Sorge«, sagte sie. »Diese Anzüge sind eine reine Vorsichtsmaßnahme.«

»Woher wollen Sie das so genau wissen?«

»Wegen der beiden Brüder«, erklärte sie. »Ihnen geht es schließlich gut. Sie sind direkt in die Höhle des Löwen gelaufen und haben offenbar keinerlei Schäden davongetragen.«

»Vielleicht dauert es einige Zeit, bis sich der Virus bemerkbar macht.«

»Negativ. Der Omega-Virus wirkt extrem schnell. Er tötet binnen weniger Augenblicke und besitzt eine Todesrate von einhundert Prozent.«

»Sofern es sich wirklich um den Omega-Virus handelt.«

»Da bin ich mir sicher«, erklärte Kendrick. Es war das erste Mal, dass Seymour den Mann reden hörte. »Anhand der Schilderungen der beiden Brüder und dem, was sie gesehen haben, insbesondere der Leichen, besteht kein Zweifel daran. Wer immer den Omega-Virus in dieser Stadt freigesetzt hat, hat das Ganze offenbar als Testlauf angesehen. Sie haben mit Absicht eine kleine Gemeinschaft ausgewählt, die isoliert genug liegt, um die Resultate ohne äußere Einwirkungen betrachten zu können. Dieser Ort war ein Versuchsgebiet und jeder darin war nichts weiter als ein Testobjekt.«

Damit hatten Seymour und das Department of Counter Terrorism insgeheim schon die ganze Zeit über gerechnet. Als dieses Virus gezielt aus dem Labor in Texas entwendet worden war, war man sich im Team einig gewesen, dass die Täter es zuerst irgendwo testen würden, bevor sie es als Druckmittel verwenden würden. Mit einiger Sicherheit würden die Terroristen später auf Bensenville als Beispiel minimalen Umfangs verweisen, um androhen zu können, welcher Gefahr Primärziele wie New York oder Washington D.C. im Falle des Falles ausgesetzt wären.

»In den Händen von Terroristen und in dicht bevölkerten Gebieten … wozu wäre der Omega-Virus in der Lage?«

Wieder antwortete ihm Kendrick. »Darüber wird noch diskutiert«, meinte er. »In noch laufenden Tests des CDC und in Galveston schien es sich nicht von einer Person auf die nächste übertragen zu können, wie es für Viren normalerweise üblich ist. Es scheint nur seinen Wirt zu befallen und diesen zu töten, bevor das Individuum überhaupt eine Chance hat, es weitertragen zu können. So schnell kann es töten. Aber wenn sie von dicht bevölkerten Gebieten sprechen … nun, jede dieser Ampullen enthält etwa einhundert Millionen Mikroben. Also können Sie es sich ausrechnen.«

Seymour war vollkommen durcheinander. Die erste Frage, die ihm durch den Kopf ging, war: Wieso um alles in der Welt sollte jemand so etwas entwickeln? Doch es war ja gar nicht künstlich erschaffen worden. Es war ein Verteidigungsmechanismus der Natur selbst, der jahrhundertelang im ewigen Eis verborgen gelegen hatte, und wenn es eine Sache gab, die der Mensch nicht bezwingen konnte, dann die Natur selbst – sie war eine Macht, die einem alles zur Verfügung stellte, was man benötigte, es einem aber genauso schnell wieder entreißen konnte.

Noch schlimmer wog allerdings der Umstand, dass sich der Virus nun in den Händen von Terroristen befand, deren Wissen allenfalls sehr dürftig sein würde und die sich mehr für die direkten Konsequenzen als für die wirklichen Folgen interessierten, welche tatsächlich die Ausrottung der gesamten Menschheit sein könnte, wenn der Virus sich weit genug ausbreitete. Diese Menschen dachten nur an Städte, aber nicht an den gesamten Planeten.

Wenn sie aus dem Fenster sahen, konnten sie die kleine Stadt jetzt rasch näherkommen sehen. Selbst aus ihrer Höhe war deutlich zu erkennen, dass der Boden mit einer fürchterlich aussehenden grauen Schicht bedeckt war und dämmrig und trostlos wirkte, obwohl die Sonne sich gerade erst in Richtung Westen wandte.

Als der Hubschrauber wenige Meter von dem Springbrunnen entfernt auf einer quadratischen Fläche landete, wirbelte er grauen Sand in die Luft. Als der Staub sich schließlich wieder legte, ging Seymour nur eines durch den Kopf: Oh mein Gott!

In der Mitte des Quadrates lagen vier staubbedeckte Leichen. Ohne ihre Kleidung wirkten sie beinahe eingefallen. Unter ihnen breiteten sich Lachen aus einer dunklen, klebrigen Flüssigkeit aus.

Als die Truppen aus den Hubschraubern stiegen, teilte Seymour sie unverzüglich in zwei Teams auf. Eines sollte Seymour und Child, das andere Melbourne und Kendrick folgen. Sie sollten ausschwärmen und nach Überlebenden suchen, und – sofern sie welche fanden – diese unter Quarantäne stellen. Falls sich jemand wehren sollte, waren die Befehle klar: sie zu töten, um eine weitere Ansteckung zu verhindern.

Während Melbourne und Kendrick mit ihrer Einheit den östlichen und nördlichen Teil der Stadt übernahmen, blieb Seymour bei den Leichen in der Mitte der Stadt zurück und deutete fragend auf die Toten, während er sich an Pauline Child wandte: »Würden Sie mir verraten, wieso die so aussehen?«, fragte er.

Die Leichen waren mit einer feinen Schicht aus grauem Staub überzogen, den Überresten. »Der Omega-Virus ist darauf ausgelegt, jegliche Materie in ihre reinste flüssige Form zu zersetzen, aus der der menschliche Körper bekanntermaßen zu sechzig Prozent besteht.«

Er sah sie an. »Dann sprechen wir hier also von einer Art Ebola … etwas, das Organe verflüssigen kann?«

»Nein«, antwortete sie ihm. »Die Vorstellung, dass Ebola die Organe eines Menschen verflüssigt, ist ein Irrtum. Ebola löst im Körper starke innere Blutungen aus, was den Eindruck vermittelt, die Organe würden zerfließen, was in Wirklichkeit aber nicht stimmt. Es gibt kein bekanntes Virus, welches mit dem Omega-Virus vergleichbar wäre. Dieser Virus befällt seinen Wirt und zersetzt die Knochenstruktur, bis die Knochen schließlich so brüchig werden, dass sie in kleine Splitter nicht größer als ihr Daumennagel zerfallen. Danach zersetzen sich die Organe und der Körper blutet schließlich aus allen Öffnungen. Der Körper sinkt letzten Endes wie ein Ballon in sich zusammen, weil ihn nichts mehr zusammenhält – keine Knochen, keine Organe, nichts.«

»Dann ist dieser Virus also einzigartig?«

»Absolut.«

»Es existiert kein Gegenmittel?«

»Wir beim CDC und auch die Leute in Galveston sind schon seit einiger Zeit damit beschäftigt, eine Lösung zu finden, um das Virus bekämpfen zu können. Doch in den letzten achtzehn Monaten hat sich noch kein Ansatz bewährt. Wir sind noch nicht einmal nahe dran.«

Das hörte Seymour gar nicht gern, denn wenn diese Terrorzelle beschloss, eine der Ampullen in einer dicht bevölkerten Gegend zu öffnen und der Natur einfach ihren Lauf zu lassen, hatte das CDC keine nötigen Antworten auf die zu erwartende Pandemie.

Er wandte den Kopf, wofür er seinen gesamten Oberkörper drehen musste, weil der Schutzhelm direkt mit seinem Anzug verbunden war und sich nicht separat bewegen ließ. Das Erste, was er sah, war das ausgeblichene Schild über dem Jimmy Ray’s. Er deutete darauf. »Wieso fangen wir nicht einfach dort nach?«

»Suchen Sie nach etwas Bestimmten?«, fragte sie ihn.

Er drehte ihr wieder den Oberkörper zu. »Nach Überlebenden. Ground Zero. Alles, was mir Antworten auf die Fragen geben kann, die mir der Präsident der Vereinigten Staaten mit einiger Sicherheit stellen wird.«

Mit diesen Worten gab Seymour den Soldaten ein Zeichen, voranzugehen. Mit ihren Waffen im Anschlag und auf alles vorbereitet, betraten sie das Jimmy Ray’s.

Melbourne und Kendrick folgten unterdessen ihrer zugewiesenen Einheit durch die staubigen Gassen von Bensenville. Die Häuser auf beiden Seiten der Straße waren grau überzogen, die Farben darunter kaum noch auszumachen.

Als sich das Team einem der Häuser näherte, erspähten sie ein Paar, das auf der Veranda saß und ebenso gallertartig wirkte wie die Leichen auf der quadratischen Fläche. Bei näherer Untersuchung stellten sie fest, dass in dem Vorgarten einmal eine große Pappel gestanden hatte, die nun aber so tot und deren Rinde so sehr verfallen war, dass der Stamm jeden Moment umzufallen drohte. Totes graues Laub zierte die ursprünglich dichte Baumkrone.

Kendrick lief daran vorbei, dicht gefolgt von Melbourne und dem Rest des Teams, und begann die Stufen der Veranda hinaufzusteigen. Die Körper waren so verfallen, dass man ihr Geschlecht nicht mehr erkennen konnte. Das Einzige, was einen Hinweis darauf gab, war das Kleid, welches die Leiche in dem Stuhl links von Kendrick trug, und die Stiefel und der Overall an der Leiche in dem Stuhl auf der rechten Seite. Beide trugen Eheringe, auch wenn diese ins Fleisch eingesunken waren, als würde die Haut lediglich aus weichem Gummi bestehen.

Unter den Stühlen hatten sich Lachen einer dunkelroten Flüssigkeit gebildet.

»Sehen Sie das?«, fragte Kendrick.

Melbourne nickte. Natürlich sehe ich das. »Ja.«

Kendrick deutete auf den Mann, der noch immer in einer vermeintlich entspannten Pose dasaß und die Beine verschränkt hatte. »Er ist genau in dieser Position gestorben«, sagte er. »Der Virus hat ihn so hart und so schnell getroffen, dass ihm noch nicht einmal die Zeit für einen Todeskampf geblieben ist. Er war in dem Moment tot gewesen, als das Virus ihn befiel. Sie wahrscheinlich ebenfalls.«

Melbourne schwenkte den Kopf hin und her und sah sich um. Es war unwahrscheinlich, dass sie hier Überlebende finden würden. Aber wenn die beiden Brüder offenbar immun gegenüber dem Virus gewesen waren, gab es ja vielleicht auch noch andere. »In Ordnung, suchen wir das Gelände nach Überlebenden ab«, befahl er. »Lebende Menschen zu finden ist unser vorderstes Ziel. Durchsucht deshalb jedes Haus, jedes Geschäft, jeden Schuppen und jedes Plumpsklo. Die Leute werden wahrscheinlich verängstigt sein, und verängstigte Menschen verhalten sich gern mal irrational. Also seid vorsichtig da draußen und haltet die ganze Zeit über Kontakt mit eurem Team-Captain. Ich kann die Wichtigkeit unseres Einsatzes nicht deutlich genug hervorheben.«

Die Einheit teilte sich daraufhin in zwei Gruppen auf, von denen jede jeweils eine der Straßenseiten übernahm, und begann dann diese wie eine langsame Prozession entlang zu patrouillieren.

»Uns bleiben nur noch etwa vier Stunden, bevor die Sonne untergeht«, erklärte Kendrick. »Das wird nicht ausreichen, um die ganze Stadt nach Überlebenden durchkämmen zu können.«

Was Kendrick zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht wusste, war, dass bereits Lastwagen aus einer Militärbasis weitere Ressourcen wie Flutlichtmasten in die Stadt brachten. Der Plan sah vor, kurz vor der Stadt einen Stützpunkt zu errichten, über den die Lichtbänke in der Stadt mit Strom versorgt werden sollten.

Das würde allerdings kein Blitzeinsatz werden, denn Bensenville war in Rekordzeit entvölkert worden. Es galt also, unzählige Proben zu nehmen und von führenden Medizinern und Virologen Autopsien vornehmen zu lassen, deren Ergebnisse die Wissenschaftler wohl für Wochen, wenn nicht sogar für Monate beschäftigen würden.

Bensenville war innerhalb kürzester Zeit zu einer überdimensionalen Petrischale geworden.

Kendrick trat von den Leichen zurück, nachdem er etwas von der wie Traubensaft aussehenden Flüssigkeit in ein Fläschchen gefüllt hatte. Dann legte er dieses in eine Kühlbox, die nicht größer als eine Brotdose war.

Melbourne warf ihm einen abschätzenden Blick zu. »Sie scheinen mehr über dieses Virus zu wissen als ich«, sagte er an Kendrick gewandt. »Verraten Sie mir also, wie hoch stehen die Chancen, hier noch jemanden zu finden, der am Leben ist?«

»Am Leben?« Er sah, wie Kendrick in seinem Helm den Kopf schüttelte. »Normalerweise würde ich diese Frage mit sehr gering beantworten. Aber nicht dieses Mal, nicht bei diesem Virus. Jeder, der sich im Umkreis von einer oder zwei Meilen befand, als die Kappe geöffnet wurde, ist definitiv tot. Daran besteht kein Zweifel.«

Melbourne blickte auf die Leichen hinunter. Zweiundachtzig Menschen, die in wenigen Minuten ihr Leben gelassen hatten, während sich der Virus wie Wellen in einem Teich ausbreitete, dachte er. Die beiden Brüder hatten das Glück gehabt, sich weit genug entfernt zu befinden, als der Virus von dem Land und seinen Bewohnern Besitz ergriffen hatte.

Es gab noch so viel zu tun und so viel zu sehen, während die Sonne langsam tiefer wanderte. Er würde Zeuge widerlicher, furchtbarer Dinge werden. Dinge, die es eigentlich gar nicht geben dürfte, die nun aber Realität geworden waren, und das alles nur durch die dunkelste Seite im Menschen.

Er drehte sich um und betrachtete die Landschaft, sah das Grau, die Farbe trostloser Gedanken und Emotionen, und hätte sich in diesem Moment selbst kaum grauer und trostloser fühlen können. Wenn es sich bei diesem Virus tatsächlich um den Omega-Erreger handelte, dann würde ihn nichts und niemand aufhalten können.

Er seufzte leise.

»Melbourne«, sagte Kendrick und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Wir müssen jetzt gehen.«

Melbourne nickte und gab Kendrick zu verstehen, dass dieser vorausgehen sollte.

Und das tat Kendrick, er übernahm die Führung und verließ zusammen mit Melbourne die Veranda.

Das Innere der Bar muss auch schon vor dem Ausbruch der Infektion trostlos ausgesehen haben, dachte Seymour, als er den Hauptbereich betrat. Die Lichtverhältnisse waren äußerst dürftig, es war düster, aber nicht dunkel genug, um den grauen Schleier verdecken zu können, der sich auf den Boden, die Bar und die Tische herabgesenkt hatte. An einem Tisch hockten drei Körper. Zwei von ihnen hatten ihre scheinbar knochenlosen Hände um ihre Bierkrüge gelegt. Der Dritte verwelkte einfach auf seinem Stuhl, mit herabhängenden Armen, den Kopf leicht zu einer Seite geneigt. Das Fleisch hing in Falten an ihnen herab, als wäre es geschmolzen, ihre Augen waren asymmetrisch und ihre Kleidung war von den Flüssigkeiten durchnässt, die aus ihren Körpern gedrungen waren.

Hinter der Bar fanden sie noch einen vierten Leichnam, der mit dem Gesicht nach unten in einer Lache aus seinen eigenen Körperflüssigkeiten lag, die dunkel und zähflüssig wie Sirup waren. Unter seinen Kleidungsstücken zeichnete sich ein Körper ab, der seltsam entstellt wirkte, als würde etwas mit seinem Knochenbau nicht stimmen und da er außerdem noch seltsam flach aussah, hatte es den Anschein, als würde er langsam in den Bretterboden einsinken.

Nachdem sie das Lokal sorgfältig in Augenschein genommen hatten, zogen sich Seymour und Child zu einer kurzen Unterredung zurück.

»Diese Leute«, sagte Child und deutete auf die Leichen an dem Tisch, »haben ihre Gläser noch in den Händen. Das sagt mir, dass sie starben, bevor sie überhaupt wussten, was mit ihnen geschah.«

»So schnell?«

»So schnell«, bekräftigte sie.

Ein Segen, zu sterben, bevor man auch nur den ersten Schmerz empfand, dachte Seymour.

Während die Militäreinheit mit der Suche nach Überlebenden fortfuhr, widmeten sich Child und Seymour den weniger offensichtlichen Dingen. Als Leiter des Department of Counter Terrorism war es Jerald Seymours Aufgabe, die Ressourcen der US-Regierung zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus einzusetzen und die Gefahr für amerikanische Interessen im In- und Ausland zu reduzieren. Das Szenario eines biologischen Angriffs war dem DCT daher nicht fremd. Es gab verschiedenste Schutzprogramme und Vorkehrungen, die dabei helfen sollten, die breite Masse im Falle eines solchen Angriffs zu schützen, doch alle im Vorfeld erdachten Lösungsansätze waren gegen ein solches Virus vollkommen nutzlos, und Seymour und Child wussten das.

Während Child Gewebe- und Flüssigkeitsproben von den Leichen nahm, begab sich Seymour hinter die Bar. Mit den Fingerspitzen, die in Gummihandschuhen steckten, fuhr er langsam über die Theke, hinterließ dabei Striche in der Asche, und hob dann seine Hand und studierte die Ablagerungen an seinem Finger. Er kam zu dem Schluss, dass die Farbe eher ein Mattweiß war und Molke ähnelte.

Anschließend trat er zu der Leiche – wobei er dankbar dafür war, seinen Helm zu tragen, der den Gestank abhielt – und bemerkte einen Mülleimer, der halb unter der Theke stand. Er packte ihn an den Rändern und zog ihn unter der Theke hervor. Ganz oben lag ein einzelnes Fläschchen, das geöffnet worden war … ein schwarzer Glaszylinder. Er zog ihn behutsam aus dem Abfall. »Dr. Child?«

Sie drehte sich zu ihm um.

Er hob das Fläschchen in die Höhe, damit sie es sehen konnte. »Ich denke, wir haben gefunden, weshalb wir hergekommen sind.«

Child lief zur Vorderseite der Bar. »Lassen Sie mich mal sehen«, sagte sie und streckte ihm ihre Hand entgegen.

Vorsichtig legte er ihr das Glasröhrchen in die behandschuhte Hand. Dieses Reagenzglas unterschied sich von den meisten anderen Röhrchen, die er kannte. Während sie normalerweise zylindrisch waren, war dieses sechseckig und der Boden gerade, anstatt abgerundet zu sein. Solche Behälter wurden speziell dafür genutzt, ganz besonders wichtige Viren zu kennzeichnen, wusste Child. Ein solcher Behälter durfte niemals eine bestimmte Sicherheitsstufe verlassen, geschweige denn ein Labor. Was sie hier in ihrer Hand hielt, war der Beweis dafür, dass das Fläschchen tatsächlich den Omega-Virus enthalten hatte.

»Das ist es«, sagte sie und ihre Stimme hörte sich hinter ihrer Maske seltsam hohl an. Sie nahm das Glasröhrchen vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger. »Diese Gläser sind nur ganz bestimmten Viren vorbehalten … tödlichen Viren … und dürfen unter gar keinen Umständen aus einer Laborumgebung entfernt werden. Wenn eine solche Ampulle zerstört werden muss, geschieht das nur unter allerhöchsten Sicherheitsvorkehrungen. Für gewöhnlich werden sie verdampft.«

»Und doch ist diese jetzt hier.«

»Das beweist zweifelsfrei, dass wir es mit dem Omega-Virus zu tun haben, Mr. Seymour.« Sie drehte das Fläschchen so, dass der flache Boden in seine Richtung zeigte. Auf dem Boden war nun das griechische Omega zu sehen.

»Ist die Ampulle aus einem bestimmten Grund schwarz?«, erkundigte er sich.

Sie zuckte mit den Schultern. »Da die Ampulle sich selbst dann leer anfühlt, wenn sie es nicht ist, nehme ich an, dass man sie schwarz gefärbt hat, um nicht hineinsehen zu können. Die natürliche Reaktion wäre nämlich sonst, die Kappe zu öffnen und hineinzuschauen, um sicherzugehen, und wenn die Ampulle erst einmal geöffnet ist …« Sie brachte den Satz nicht zu Ende und deutete stattdessen mit einer kreisenden Handbewegung auf den Raum und die puderige Ansammlung des Todes, welche selbst die kleinsten Partikel in der Atemluft mit einschloss.

Seymour hob seinen linken Arm. In den Ärmel des Anzugs war ein Kommunikationsgerät eingelassen. Er öffnete die Abdeckung und begann etwas mithilfe der kleinen Tastatur einzutippen, was es ihm ermöglichte, über seinen Helm einen direkten Kommunikationskanal zu Melbourne zu öffnen.

Melbournes Stimme klang aus seinem Helm seltsam blechern, als dieser sich meldete. »Ich höre.«

Seymour nahm die Ampulle in die Hand und starrte auf das Symbol an deren Unterseite. »Wir haben es«, vermeldete er, und dann, mit einer Stimme, die sich beinahe geschlagen anhörte, fügte er hinzu. »Wir haben den Auslöser gefunden.«

»Sind Sie sich ganz sicher?«

Er starrte auf das Omega-Zeichen. »Das sind wir.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann meldete sich Melbourne wieder zu Wort: »Ich werde sofort die Behörden benachrichtigen. Veranlassen Sie alles Notwendige und erstatten Sie im Basiscamp Meldung. Der Präsident wird bestimmt direkt mit dem Kommunikationszentrum verbunden werden wollen.«

»Verstanden.« Seymour tippte auf eine Taste und beendete die Übertragung.

Für einen langen Augenblick sahen Seymour und Child einander nur stumm an und sie wussten genau, dass ihnen beiden wahrscheinlich gerade die gleichen Fragen durch den Kopf gingen: Es sind noch immer elf Ampullen da draußen. Wo sollen wir anfangen, nach ihnen zu suchen? Ist dies nur ein Vorgeschmack auf etwas noch sehr viel Furchtbareres, das uns erwartet? Können wir sie aufhalten? Werden wir in der Lage sein, binnen weniger Tage ein Gegenmittel zu finden, wenn die besten Virologen der Welt monatelang keines finden konnten? Gibt es einen Ausweg aus dieser hoffnungslosen Lage?

Die Soldaten reihum standen alle regungslos da und warteten schweigend. Schließlich drehte sich Child um und lief hinaus. Auf diese Fragen gab es keine Antworten.

ALTE WUNDEN (Die Ritter des Vatikan 6)

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