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Kapitel 6

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Saint Viators-Church, Las Vegas, NV

15:47 Uhr

Am selben Tag, als eine kleine Stadt auf grauenvolle Art vom Tod heimgesucht wurde, stellte Kimball Hayden einen neuen Opferstock fertig. Dieser hatte die Maße einer Brotbox, mit abgerundeten Ecken, polierten Messingscharnieren, einem Schließband und mehreren Schichten einer Kirschholzpolitur, die ihr ein glänzendes Aussehen verlieh. Mit dem Geld, das er als Tagelöhner verdiente, hatte er diese Kiste mit außergewöhnlichem handwerklichem Geschick gefertigt und genauso viel Liebe und Anstrengung hineingesteckt wie er es als Teamleiter der Vatikanritter getan hätte, die er so schmerzlich vermisste.

Es war nun schon einige Monate her, seit er sein Team das letzte Mal angeführt hatte – in Frankreich, wo sie einen skrupellosen Menschenhändler namens Jadran Božanović hatten aufspüren sollen. Doch am Ende, als das Ziel ihrer Mission eigentlich erreicht, Božanović aber noch am Leben gewesen war, um sein Treiben ungehindert fortführen zu können, hatte sich Kimball dazu entschlossen, die ewige Verdammnis zu wählen und den Kroaten zu töten … Gerechtigkeit über das Recht zu stellen.

Indem er diesen Mann getötet hatte, jemanden, der hilflose Menschen gequält hatte und nicht aufgehört hätte, die Seelen und den freien Willen anderer zu brechen, hatte Kimball das Gefühl, selbst zu einer Abscheulichkeit in den Augen Gottes geworden zu sein.

Kimball schloss die Augen, seufzte und sehnte sich so unfassbar nach dem Leben, das er einst, als Anführer der Ritter des Vatikan, geführt hatte. Manchmal empfand er Bedauern wegen seiner Tat, manchmal aber auch nicht, denn er glaubte noch immer fest daran, dass ein Mann wie Jadran Božanović vom Angesicht der Erde getilgt werden musste. Aber in diesem Moment empfand er wieder Reue, weil er wusste, dass er noch immer mit seinen Männern im Vatikan zusammen sein könnte, wenn er an jenem Tag nicht zugelassen hätte, sich ausschließlich von seinen Gefühlen leiten zu lassen.

Für einen Moment war er im Selbstmitleid gefangen.

»Sie ist wundervoll«, sagte plötzlich eine Stimme und riss ihn aus seinen Gedanken.

Kimball riss die Augen auf. Schwester Abigail stand in ihrer Nonnentracht direkt neben ihm.

»Danke, Schwester«, sagte er. »Das weiß ich wirklich zu schätzen.«

Schwester Abigail strich mit den Fingern über die Kiste. »Wie es scheint, hast du ein Händchen für das Schreinerhandwerk«, sagte sie.

»Vielleicht. Unglücklicherweise werden in Vegas kaum Schreiner gesucht. Es gibt hier keine Jobs in dieser Branche.«

Schwester Abigail sah ihn an. Ihr engelsgleiches Gesicht mit der porzellanartigen Haut faszinierte ihn stets aufs Neue, sodass er sie immer wieder anstarren musste. Als ihm klar wurde, dass er sie zu lange gemustert hatte, senkte er rasch seinen Blick und wurde rot.

Mit einem Lächeln entfernte sich Schwester Abigail ein paar Schritte von ihm und bemerkte nun auch die anderen Reparaturen, die Kimball ausgeführt hatte, wie die Tür, die nun nicht mehr windschief in ihren Angeln hing. »Seth«, fragte sie mit einer Spur Neugier in der Stimme, »wieso hast du dich entschlossen, auf diese Weise zu leben?«, fragte sie ihn.

Die Frage traf ihn vollkommen unvorbereitet. »Auf welche Weise?«

Sie drehte sich zu ihm. »Wieso lebt ein Mann wie du, der keine Drogen nimmt oder dem Alkohol verfallen ist und obendrein großes Talent besitzt, auf der Straße?«

Kimball zögerte einen kurzen Moment, bevor er ihr antwortete: »Manchmal, Schwester Abigail, trägt ein Mann sein Kreuz besser allein.«

Sie neigte den Kopf. »Manchmal, Seth, ist ein Mann mit einem solchen Los ein Mann ohne Hoffnung und ohne Glauben und fürchtet sich davor, Gott um Vergebung zu bitten, obwohl Gott ihm diese Last zweifelsohne abnehmen würde. Oft gilt es nur, sich von dem Leid hinter dieser Last zu befreien.«

»Sie haben keine Ahnung, wie sehr ich das versucht habe, Schwester, oder wie oft ich einen Schritt in die richtige Richtung gegangen bin, nur um dann wieder zwei Schritte zurückzufallen. Wie soll ich auf diese Weise je vorankommen?«

»Alles beginnt und endet damit, sich selbst zu vergeben, Seth. Egal, was du in der Vergangenheit getan hast, die Zukunft ist noch nicht geschrieben. Allein deine Taten in dieser Woche in der Kirche sind ein wundervoller Schritt in Richtung Erlösung.«

Kimball seufzte.

»Verrate mir, Seth, was hat in deinem Leben gefehlt, das einen Mann von reinem Herzen den Glauben verlieren ließ?«

»Vergebung«, antwortete er schlicht.

»Von Gott?«

Er schüttelte den Kopf. »Von mir selbst.« Kimball trat zu dem Opferstock und strich mit seinen Händen über die Oberfläche. »Nichts fällt einem Mann schwerer, als sich selbst zu vergeben.« Er schwieg für einen Moment, dann gestand er: »Ich habe in meinem Leben furchtbare Dinge getan. Dinge, die ich mir niemals vergeben kann.«

Schwester Abigail trat zu ihm. »Wenn du sie wirklich bereust …«

»… dann hat Gott mir bereits vergeben«, beendete er den Satz. »Ich weiß. Das hat man mir schon oft gesagt. Aber immer wieder habe ich danach Dinge getan, die einen weiteren dunklen Fleck auf meine Seele gemalt haben.«

Als Schwester Abigail ihm sanft eine Hand auf seine Schulter legte, schloss Kimball die Augen und spürte, wie sich etwas Fremdartiges in ihm regte. Ein Gefühl des Friedens. »Bist du auf der Flucht vor dem Gesetz?«, fragte sie ihn.

Er schüttelte den Kopf. »Nein.« Doch er verschwieg ihr, dass seine Antwort anders ausfallen würde, wenn die Regierung der Vereinigten Staaten wüsste, dass er noch am Leben war und seine Geheimnisse als Auftragsmörder noch immer mit sich herumtrug. Doch was die Regierung anbelangte, war Kimball Hayden schon vor langer Zeit im Irak gestorben. Seither rannte er vor sich selbst davon. Aber egal, wie weit oder wie schnell er rannte, seine Vergangenheit holte ihn immer wieder ein, wie ein Krebsgeschwür, das immer wieder von Neuem nachwuchs.

Schwester Abigail trat ein paar Schritte zurück, um Kimball genauer zu betrachten.

»Was?«, fragte er.

Sie lächelte. »Du bist ein Mysterium, Seth. Ich weiß ja noch nicht einmal deinen Nachnamen.«

»Ich heiße einfach nur Seth.«

»Nun, Seth, ich würde dich gern ein wenig näher kennenlernen und deine Geheimnisse lüften.«

»Was würden Sie denn gern über mich wissen?«

»Wieso erzählst du mir nicht einfach etwas von deiner Familie? Das wäre doch schon mal ein Anfang.«

Er verzog das Gesicht. Mit diesem Thema hatte sie offenbar sofort einen wunden Punkt erwischt. »Da gibt es nicht viel zu erzählen«, erklärte er knapp.

»Jeder von uns hat doch eine Mutter und einen Vater«, half sie ihm auf die Sprünge. »Wieso beginnen wir nicht an diesem Punkt?«

Kimball zögerte. »Sie sind beide tot. Meine Mutter starb, als ich noch sehr jung war, und mein Vater, mein biologischer Vater, hat sich nicht gerade sonderlich mit Ruhm bekleckert. Also schlug ich meinen eigenen Weg ein, doch als ich an meinem Tiefpunkt angelangt war, fing mich jemand anderes auf.«

»Ein guter Freund?«

»Eher ein Ersatzvater.« Bilder von Bonasero Vessucci zogen jetzt vor seinem geistigen Auge vorbei, kurze Momentaufnahmen, als sie sich in einer kleinen Bar in Venedig getroffen hatten, bis hin zu ihrem letzten Treffen, bevor er sich dazu entschloss, gegen die Statuten des Vatikan zu verstoßen.

»Lebt er noch?«

Verzweifelt sah er sie an. »Das tut er.«

Als sie seinen schmerzerfüllten Blick bemerkte, runzelte sie die Stirn. »Stimmt etwas nicht, Seth?«

»Es ist kompliziert«, erwiderte er.

»Versuch es.«

Kimball sah zur Decke hinauf, während er nach den richtigen Worten suchte. »Wie ich schon sagte, habe ich in meinem Leben furchtbare Dinge getan.« Während er diese Worte sprach, hoffte er inständig, dass er sie mit seinem Geständnis nicht vertreiben würde. »Und damit meine ich wirklich furchtbare Dinge. Dinge, die er mir niemals vergeben könnte, weil ich sie gegen seinen ausdrücklichen Wunsch getan habe.«

Zu seiner Überraschung streckte Schwester Abigail ihre Hand aus, ergriff seinen Arm und zog ihn zu sich. »Du schämst dich«, konstatierte sie.

»Ich habe weder den Mut noch die innere Stärke, ihm in die Augen zu blicken und das Leid darin zu sehen, das ich selbst verursacht habe.«

»Woher weißt du denn, dass du ihm wirklich Leid zugefügt hast?«

»Wie ich schon sagte, es ist kompliziert. Sie müssen mir vertrauen, wenn ich Ihnen sage, dass er die höchsten moralischen Werte überhaupt vertritt, und das, was ich getan habe, Schwester Abigail, kann er mir niemals vergeben, egal wie sehr er mich vielleicht auch liebt.«

»Seth?« Nun klang sie besorgt. »Hast du jemanden getötet?«

Unzählige.

»Verzeihen Sie, Schwester. Alles, worum ich Sie bitte, ist, meine Privatsphäre zu respektieren. Was ich für diese Kirche tue, tue ich aus freiem Willen und weil ich Freude dabei empfinde.«

Sie schenkte ihm ein breites Lächeln. »Wie du willst, Seth. Ich hatte nur gehofft, etwas von der harten Schale entfernen zu können, damit auch du sehen kannst, was ich sehe.«

»Und das wäre?«

»Einen guten Menschen.«

Kimball spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete, während er mit den Tränen rang. Zu gern wollte er, dass sie in ihm das gleiche wie andere sah, das Gute, das ihm selbst verborgen blieb. Wie aber soll jemand das Anständige in einem Menschen sehen können, wenn an dessen Händen das Blut anderer klebt?

»Ich bin mir sicher, dass dieser Mensch, der dich einmal aufgerichtet hat, es wieder tun würde«, fügte sie hinzu. »Du solltest einfach Verbindung mit ihm aufnehmen, Seth. Finde den Mut und wende dich an ihn.«

Hier stand ein Mann, der sich den Unwägbarkeiten zwischen Leben und Tod im Kampf gegenübergesehen hatte, der immer an der Frontlinie gestanden und seinem Feind ins Gesicht geblickt hatte. Aber der Gedanke daran, einem alten, gebrechlichen Mann gegenüberzutreten ängstigte ihn mehr, als er es in Worte fassen konnte. Die Vorstellung, auch nur einen Anflug von Enttäuschung in Bonasero Vessuccis Augen zu sehen, kam der Hölle auf Erden gleich. Ich … ich kann das nicht.

»Weißt du, was ich außer einem guten Menschen noch sehe?«, fragte sie ihn jetzt.

Er antwortete ihr nicht.

»Ich sehe einen kleinen Jungen, gefangen im Körper eines Erwachsenen, und dieser kleine Junge ruft nach Hilfe.« Sie entfernte sich ein paar Schritte von ihm und strich mit ihren Fingern über den Opferstock. »Das ist hier eine gute Arbeit, Seth. Pater Donavan und ich danken dir sehr dafür. Ich bete nur, dass diese Vandalen sie genauso wertschätzen werden wie wir.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Schwester. Der kleine Junge wird dafür sorgen, dass die Kiste in Zukunft so bleibt, wie sie ist.«

Sie drehte sich zu ihm und schenkte ihm ihr wundervolles Lächeln. »Das hoffe ich«, sagte sie. »Denn ich würde es furchtbar finden, wenn etwas so Schönes zerstört werden würde.«

Kimball war sich nicht sicher, ob sie damit die Kiste oder ihn meinte. Er war immer gut darin gewesen, das Leid anderer zu lindern, und war als Problemlöser unübertroffen. Sich selbst zu retten, gelang ihm jedoch nicht. Als er ihr antwortete, tat er so, als hätte sie von der Kiste gesprochen. »Keine Sorge, Schwester. Jeder, der sich noch einmal dieser Kirche nähert, um sie zu bestehlen, wird es bitter bereuen.«

Sie blinzelte, aber nicht auf kokette Weise. »Jetzt spricht der kleine Junge wieder wie ein Mann«, sagte sie scherzhaft. Sie wandte sich zum Gehen. »Du solltest ihn aufsuchen, Seth. Wir sind nur einmal auf dieser Welt, und es wäre eine Schande, den Rest des Lebens mit einem Bedauern leben zu müssen, für das es gar keinen Grund gibt.«

Dann war sie verschwunden, und die Lebendigkeit, die sein Herz erfüllte, wann immer sie in seiner Nähe war, verschwand mit ihr.

Er widmete sich nun wieder seiner Kiste, betrachtete sie, strich mit seinen Fingerspitzen über das eingravierte Kreuz und dachte an Bonasero. Anders als sein leiblicher Vater, der sein Leben lang andere schikaniert hatte, ohne je wirklich etwas zu erreichen, war Bonasero Vessucci ein guter und großherziger Mann, der sein Leben in den Dienst der Menschen gestellt hatte, und er vermisste ihn.

Er vermisste ihn so sehr.

ALTE WUNDEN (Die Ritter des Vatikan 6)

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