Читать книгу Schluss, Aus, Vorbei! - Rita Brockmann-Wiese - Страница 11
ОглавлениеKapitel 4
Höllenspiel
Es war mein erster Arbeitstag nach den Sommerferien, die Post stapelte sich, ein paar frische Blumen standen auf dem Schreibtisch, das Telefon klingelte noch nicht im Stakkato und ich arbeitete einigermaßen gut gelaunt und ausgeschlafen die Aktenberge ab. In dieser befriedigenden Tätigkeit wollte ich nicht gestört werden, sagte ich meiner Sekretärin Frau Gruber, die mir Unangenehmes oft vom Hals hielt, seit vielen Jahren. Sie war für mich unentbehrlich geworden, eine Institution in der Kanzlei. Ich nippte an meinem Eistee und knabberte Raffaellos. Alles gut, alles schön, alles fein.
Nach zwei Stunden fragte Frau Gruber über die interne Leitung vorsichtig an, ob denn das Telefonverbot auch für besondere Mandanten gelte. »Wer ist es denn?« Es war Herr Dr. Schmidt, ein Mann mit einem ungewöhnlichen Problem. »Sie hat es wieder getan«, sagte er stockend und um Fassung ringend. »Die Kinder mussten es wieder mitansehen.«
»Was haben Sie unternommen?«
»Die Polizei war zweimal da. Beim zweiten Mal sagte einer der Polizisten ziemlich genervt, er sei kein Leibwächter für hilflose Ehemänner. Ich müsse schon selber mit meiner Frau fertig werden.«
Herr Dr. Schmidt gehörte zu den skurrilsten Klienten in meinem an skurrilen Typen nicht gerade armen Berufsleben. Als er zum ersten Mal bei mir auftauchte, hatte ich einen zarten, schmächtigen Mann erwartet, schüchtern und verklemmt, einen lebensfernen Nerd. Stattdessen stand ein Mann von einem Meter fünfundachtzig vor mir, gut gebaut, charmant, sympathisch. Von Beruf war Herr Dr. Schmidt Psychiater. Mit dem menschlichen Gemüt kannte er sich aus. Ihm waren die Lehrbücher vertraut, die von der destruktiven Dynamik der Paare handelten, von Symbiose und Abhängigkeit und der Unfähigkeit, das Höllenspiel zu beenden, das ihn quälte. Anderen vermochte er zu helfen. Sich selbst nicht.
Herr Dr. Schmidt zog das Hemd hoch und zeigte mir seinen geschundenen Körper. Die Arme wiesen Bisswunden auf, Bauch und Brust waren übersät mit blutigen Kratzern. »Sie müssen zu einem Arzt, der die Spuren der Misshandlung dokumentiert.«
Zum Arzt ging Herr Dr. Schmidt aber nicht. Denn er schämte sich. Er ertrug das Staunen in den Augen nicht, diese Ungläubigkeit, diese Süffisanz, diese Belustigung. Wenn er selber nicht begriff, warum er sich mit Schlägen eindecken ließ, ohne sich zu wehren, wie sollten dann Fremde begreifen, warum er die hemmungslose Prügel seiner Frau tatenlos ertrug, warum er die Demütigung hinnahm, warum er nicht zurückschlug oder sie verließ?
Es wäre so einfach. Er musste noch nicht einmal zurückschlagen. Nur ihre Arme festhalten, bevor sie wie Dreschflegel herangeflogen kamen. Er konnte sie sich leicht vom Leib halten, wenn er nur wollte. Seine Frau war einen Kopf kleiner als er, aber fünfmal so aggressiv. Hohnlachend ohrfeigte und boxte sie ihn, wie im Rausch. Mit leuchtenden Augen. Sie genoss die Macht, die aus der Gewalt kommt.
Jetzt also hatte sie es wieder getan. Meine Geduld war erschöpft. Nach vielen Jahren im Beruf kamen nur noch selten Fälle herein, die mich derart verblüfften oder abstießen, weil sie von den schrecklichen, unerfindlichen Abgründen hinter der Fassade einer heilen, bürgerlichen Welt kündeten. Die prügelnde Gattin meines Mandanten Dr. Schmidt war ein ungewöhnliches Phänomen. »Wollen Sie nun endlich gegen ihre Frau vorgehen?«, fragte ich ihn, der ergeben mit dem Kopf nickte. »Dann aber bitte das ganz große Programm«.
Ich erklärte ihm die Rechtslage. Dr. Schmidt hatte (nach Paragraf 1 Gewaltschutzgesetz) Anspruch auf Schutz vor Gewalt und Nachstellung, wozu auch ein Annäherungsverbot gehört. Dazu wollte ich (nach Paragraf 2 des Gesetzes) den Antrag stellen, dass dem Ehemann die gemeinsame Wohnung überlassen bleiben sollte und ihm außerdem das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die drei Kinder Sven (drei Jahre alt), Alice (fünf) und Ben (sieben) zu übertragen sei.
Es ging wirklich so schnell, wie mein Mandant und ich gehofft hatten: Sieben Tage später beraumte das Gericht eine Anhörung an. Dabei ließ die Richterin ohne Umschweife erkennen, dass sie den Schilderungen des Ehemannes Glauben schenkte und geneigt war, den Anträgen stattzugeben. Der Fall entwickelte sich wie im Bilderbuch. Ich hatte zu Herrn Dr. Schmidt gesagt, vor Gericht möge er sich bitte bedacht und höflich verhalten. Die Fakten sprächen für sich und damit gegen seine Frau.
Herr Dr. Schmidt hatte genickt. Sein Martyrium lag bald hinter ihm. Die Schläge. Ein neues Leben konnte beginnen, für ihn, für die Kinder. Er wolle das Verfahren durchziehen, versprach er mir.
Die Richterin fragte ihn nach seiner Sicht auf die Ehe. Sie mochte ihn, das sah man. Er begann ruhig, wie es abgesprochen war, sachlich, gemessen, dabei durchaus mit professioneller Autorität, die er aber nur andeutete. Er erzählte, wie sich das Verhältnis verändert hatte und die Gewalt zunahm, zuerst in exzessiven Ausnahmen, bis sie zur steten Begleiterin ihrer Auseinandersetzungen wurde.
Je länger er aber redete, desto mehr geriet er in Rage. Ihn übermannte das Selbstmitleid über seine Apathie, ihn schüttelte der Zorn über die verlorenen Jahre. Im Schutz seiner Anwältin und vor einer verständnisvollen Richterin rechnete er mit seiner Frau ab. Eine Borderlinerin sei sie, sagte er, deshalb verliere sie regelmäßig die Kontrolle über sich und schlage wie von Sinnen auf ihn ein. »Als Ehefrau ist sie furchtbar und als Mutter eine Gefahr, denn unter ihrer tsunamihaften Unbeherrschtheit leiden auch die drei Kinder.«
Auf ihrem Stuhl in der ersten Reihe war seine Frau während der eskalierenden Rede unruhig hin und her gerutscht. Auf ihren Anwalt, dem das unangenehm zu sein schien, flüsterte sie ständig ein. Dann erhob sie sich, um Stellung zu den niederschmetternden Vorwürfen zu nehmen. Sie wirkte aufgekratzt, kampfesbereit, keineswegs beschämt über die Offenbarung ihres Charakters.
»Mein Mann ist narzisstisch gestört. Ständig manipuliert er Menschen, vor allem mich und die Kinder. Die Wahrheit stellt er auf den Kopf. Nicht ich bin das Monster, sondern er. Nicht ich habe Macht über ihn, sondern er über mich. Wissen Sie, Frau Richterin, das Entscheidende hat er nämlich ausgelassen. Es ist ihm peinlich, es spricht gegen ihn, gegen sein Riesengebirge aus Leid und Vorwürfen. In Wahrheit ist es so, dass er noch nach dem schlimmsten Streit unbedingt und sofort und heftig mit mir schlafen will. Es ist auch gar nicht so, wie er es behauptet, dass wir getrennt in der gemeinsamen Wohnung leben. Gestern erst ist er über mich hergefallen. Ich will nicht sagen, dass er mich vergewaltigt, weil ich mich ja gut wehren kann, aber es kommt dem schon nahe. Wissen Sie, Frau Richterin, mein Mann lügt Ihnen etwas vor.«
Nun stand Herr Dr. Schmidt auf und schrie auf seine Frau ein und seine Frau schrie zurück. Die resolute Richterin war zuerst konsterniert über die Verwandlung des Gerichts in ein Tollhaus, bis sie die Streithähne mit der Unterstützung der Anwälte zum Schweigen brachte. Ihre Sympathie hatte Dr. Schmidt verspielt. Er war also auch ein Täter, nicht nur ein Opfer. Was immer sich die beiden zumuteten, war ihre Sache, denn schließlich waren sie erwachsen. Die wahren Opfer in dieser verqueren Symbiose, die hilflosen Zuschauer in diesem trostlosen Schauspiel waren die drei Kinder. Deren Partei ergriffen nun die Richterin und auch das Jugendamt, das in Gestalt von gleich drei Vertretern im Gerichtssaal erschienen war.
Einer sagte zu den Eltern mit mühsam gebändigtem Zorn: »Wissen Sie, wenn Sie so weitermachen, und dazu scheinen Sie ja wild entschlossen zu sein, dann können Sie schon heute einen Therapeuten für Ihre Kinder aussuchen, zu dem die drei gehen müssen, wenn sie älter sind. Ich bin entsetzt darüber, was Sie Ihren Kindern zumuten. Was Sie sich hier vor Gericht liefern, lässt unschwer darauf schließen, was Sie sich unbeobachtet zu Hause antun, wenn niemand zuschaut und zuhört, keine Richterin, keine Anwälte.«
Der Jugendamtsvertreter sagte, er gedenke ein Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB einzuleiten, wonach geprüft werden sollte, ob die Kleinen in einem Heim oder einer Pflegefamilie besser aufgehoben wären als im Höllenkreis ihrer gestörten Familie.
Auch ich hatte dem Wasserfall an Bösartigkeiten fassungslos zugehört. Jetzt bat ich darum, die Anhörung zu unterbrechen, um mit meinem Mandanten zu reden. Ich fragte Herrn Dr. Schmidt konsterniert: »Warum um Gottes Namen haben Sie vor Gericht so vollständig Ihre Fassung verloren? Wollten Sie sich nicht zurückhalten?« Ich fragte ihn auch, ob es denn stimme, dass die beiden keineswegs getrennt unter einem Dach wohnten, sondern sogar noch miteinander schliefen. Ich bemühte mich zwar, die Schärfe aus der Stimme zu nehmen, aber Herr Dr. Schmidt merkte wohl: Ich schätze es gar nicht, um das Mindeste zu sagen, wenn Mandanten mich falsch informieren oder gar versuchen, mich zu manipulieren.
Jetzt war er zerknirscht, der kluge Herr Dr. Schmidt, klein und betreten. »Sie hat mich immer wieder herumgekriegt«, sagte er mehr zu sich selber als zu mir gewendet.
»Was meinen Sie damit?«
»Zuerst haben wir uns gestritten und dann haben wir miteinander geschlafen. Wissen Sie, es ist leider so, dass ich meine Frau nach einer wüsten Auseinandersetzung am meisten begehre. Nie ist der Sex besser als dann. Ich kann ihr einfach nicht widerstehen. Ich bin abhängig von ihr, sexuell hörig. Ich weiß nicht, was ich will. Ich kann ohne sie nicht leben, aber mit ihr erst recht nicht. Und ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil die Kinder alles mitbekommen. Ben kaut Fingernägel und Alice ist wieder Bettnässerin.«
»Sie sind doch ein gebildeter Mann, Herr Dr. Schmidt. Sie glauben ja wohl nicht ernsthaft, dass ein Gericht Ihre Probleme lösen kann?«
»Ich habe gehofft, das Familiengericht trifft die Entscheidung, die ich nicht treffen kann.«
Ich nahm auf Bitten des Herrn Dr. Schmidt die Anträge zurück und legte mein Mandat nieder. Herr Dr. Schmidt dankte mir für die Begleitung in schwierigen Zeiten. Im Hinausgehen fing ich den triumphierenden Blick der Ehefrau auf. Da wurde mir plötzlich klar, worum es in dieser Ehe tatsächlich ging: um Macht und Sex, nur darum. Beim Prügeln ist er der Masochist und sie die Sadistin, beim Sex ist es andersrum. Das war alles.