Читать книгу Schluss, Aus, Vorbei! - Rita Brockmann-Wiese - Страница 5
Vorwort
ОглавлениеAls ich Rechtsreferendarin war, fragte ich meinen Ausbilder, worauf ich achten sollte, wenn ich Anwältin für Familienrecht werden wollte. Er sagte, ich sei meinen Mandanten nicht von Nutzen, wenn ich mit ihnen über das Elend ihres Lebens weine. Na ja, antwortete ich, ganz ohne Empathie kommen wir ja wohl auch nicht aus. Schon richtig, meinte er, aber nur in Maßen, und unser Urteilsvermögen sollte darunter nicht leiden.
Dann fragte ich ihn, wie er sich denn gegen den Zynismus schütze, der ab und zu ja wohl in jedem aufsteige, der mit Juristerei befasst sei. Da gab er mir einen guten Rat: Bewahren Sie sich Ihr Interesse an den Menschen, denn es gibt in unserem Beruf nichts Menschliches, was es nicht gibt. Und womit Sie konfrontiert sind, das wird Sie prägen, ob Sie es wollen oder nicht.
Vierzig Jahre lang habe ich mich dem Familienrecht gewidmet. Dabei war ich nie nur Anwältin. Ich musste fast immer mehrere Rollen einnehmen, die weniger meine Wahl waren, sondern mit den jeweiligen Mandanten zusammenhingen und mir von ihnen zugeteilt wurden. Ich war Zuhörerin, wenn sie das Drama ihrer Ehe ausbreiteten. Ich war Seelsorgerin, wenn sie mir ihr Herz ausschütteten und so oft mehr preisgaben, als ihnen lieb war. Ich war Lotsin im Dickicht des Rechts, indem ich meine Mandanten über Höhe und Dauer des nachehelichen Unterhalts oder über das Sorgerecht für die Kinder informierte. Schließlich war ich Ratgeberin für das Leben nach der Scheidung, das meinen Mandanten oft genug wie ein Riesengebirge erschien, gefährlich und unbezwingbar – eine neue Wohnung und eine neue Umgebung, Rückkehr in den lange nicht ausgeübten Beruf mit neuen Kollegen, dazu die neue Situation, in der sie die Kinder womöglich nur an jedem zweiten Wochenende sehen würden.
Zu mir kamen Menschen, die um Fassung rangen und innerlich aufgewühlt waren. Sie waren irritiert, verzweifelt und konnten nicht fassen, was ihnen widerfuhr. Andere wiederum blieben kühl bis ans Herz, wollten genau wissen, womit sie rechnen mussten und worauf sie hoffen durften. Einige dürsteten nach Rache, andere brauchten Trost, wieder andere hofften auf die Einsicht ihres Partners oder gar auf Rückkehr in das zwangsverlassene Leben. Einige wenige schüttelten das Leid schnell ab und erfreuten sich der gewonnenen Freiheit.
Anwältinnen wie mir geht die Arbeit nie aus. Trennungen kommen immer wieder vor, und deshalb werden wir immer wieder gebraucht. Scheidungen sind schon lange nicht mehr geächtet, sie sind eine gesellschaftliche Normalität, nicht nur in größeren Städten, aber dort besonders.
Im Jahr 2019 wurden in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 416.340 Ehen geschlossen. Zugleich wurden rund 149.000 Ehen geschieden. Daraus ergibt sich eine Scheidungsquote von 35,79 Prozent. Auf eine Eheschließung kamen rechnerisch also 0,36 Ehescheidungen. Die durchschnittliche Dauer einer Ehe beträgt in Deutschland fünfzehn Jahre, die meisten Ehen werden jedoch schon nach sechs Jahren geschieden.
Ostern und Weihnachten gelten als die Feste, an denen Ehepaare besonders oft beschließen, sich zu trennen. Warum? Weil sie sich in diesen Tagen nicht aus dem Weg gehen können. Weil sie Bilanz ziehen. Weil lange schwelende Konflikte aufbrechen. Nach aller Erfahrung dürfte auch die Zeit der Pandemie zu erhöhten Scheidungszahlen führen. Übrigens sind es in der Mehrzahl der Fälle die Frauen, die sich zu Konsequenzen aufraffen.
Wer sich trennen möchte, wer eine Ehe auflösen will, sucht sich gemeinhin einen Anwalt und sei es auch nur, um sich über Rechte und Pflichten zu informieren.
Das Recht unterliegt einem dynamischen Prozess, denn es spiegelt immer auch die jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit wider. Deshalb muss das Recht regelmäßig an die veränderte Moral und die neuen Lebensformen ihrer Bürger angepasst werden. Dafür sorgt der Gesetzgeber, das ist das Parlament.
Als ich 1978 in den Beruf einstieg, war gerade im Jahr zuvor das Schuldprinzip bei Scheidungen abgeschafft worden. Bis dahin hatte das Gericht festgestellt, wem von den Ehepartnern die Verantwortung für das Scheitern zufiel. Wer fremdgegangen war, wer Verfehlungen begangen hatte, wurde moralisch und praktisch schuldig gesprochen. Das Urteil hatte Konsequenzen für alle nachfolgenden Regelungen, vom Sorgerecht bis zum nachehelichen Unterhaltsanspruch.
Heute gilt das Zerrüttungsprinzip: Eine Ehe ist gescheitert, wenn sie zerrüttet ist – wenn ein Ehepartner nicht mehr mit dem anderen Partner leben will. Dann müssen er und sie ein Trennungsjahr durchhalten, in dem es »keine ehelichen Gemeinsamkeiten« mehr geben darf, wie Juristen sagen. Wenn sie zum Beispiel noch in der gemeinsamen Wohnung leben, heißt das, sie sollten nicht mehr im selben Bett schlafen, die Wäsche getrennt waschen und im Kühlschrank die Lebensmittel trennen. Gemeinsamkeiten dürfen sich nur noch auf die Kinder beziehen.
Eine Ausnahme von der Ein-Jahres-Trennungsregel gibt es für häusliche Gewalt. Dann kann das Opfer den Scheidungsantrag vorzeitig stellen. In diesem Fall kann das Familiengericht anordnen, dass derjenige, der Gewalt ausübte, aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen muss und sich dem Opfer und der Wohnung nicht mehr nähern darf. Wird diese Auflage missachtet, drohen eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr.
Die Abkehr vom Schuldprinzip bedeutete eine große Zäsur. Seither hat sich noch vieles andere geändert. Das Unterhaltsrecht wurde grundlegend reformiert, ebenso das Sorgerecht für Eltern, die nicht miteinander verheiratet sind. Neu ist auch die zunächst sehr umstrittene Einführung des Rechts auf Ehe für homosexuelle Paare, einschließlich der damit verbundenen erbrechtlichen, steuer- und sozialrechtlichen Folgen.
Reformen sollen für mehr Gerechtigkeit sorgen, lesen wir dann immer. Aber Gerechtigkeit ist ein großes Wort, das in der Moralphilosophie oder der Ethik besser aufgehoben ist als in unserem Leben. Jeder von Trennung betroffene Mensch fühlt sich im ersten Schock im Recht und setzt dieses Gefühl mit Gerechtigkeit gleich, die er durchgesetzt haben will. Aber auch der Partner oder die Partnerin fühlt sich im Recht und pocht auf seine oder ihre Gerechtigkeit.
Vor Gericht bekommen Sie keine Gerechtigkeit, sondern nur Regelungen, sagte einer meiner Lieblingsrichter in einem Verfahren. So ist es. Das wissen alle an einem Gerichtsverfahren Beteiligten. Den Mandanten müssen Anwälte oft erst erklären, dass es um pragmatische Lösungen geht, nicht um Gerechtigkeit. Um Technik, nicht um Moral. Um Zerrüttung, nicht um Schuld.
Wenn eine Liebe gescheitert ist und eine Ehe geschieden wird und darüber befunden werden muss, wo die Kinder künftig leben werden, bei Vater oder Mutter, im Wechselmodell oder im Nestmodell, dann sind viele Professionen damit befasst, angemessene Vereinbarungen zu treffen. Dazu gehören Anwälte und Richter in erster Instanz, manchmal auch das Oberlandesgericht in zweiter Instanz, dazu Mitarbeiter des Jugendamtes, psychologische Sachverständige und Verfahrensbeistände, die den Kindern vor Gericht zur Unterstützung beigegeben werden. Die Aufgabe aller Beteiligten liegt darin, einer auseinandergehenden Familie eine tragfähige und plausible Grundlage für das zukünftige Leben zu geben.
In unserem Metier befassen wir uns damit, was die Menschen mit der Liebe machen und was die Liebe mit den Menschen macht. Am Anfang einer Beziehung werden zwei Menschen von der Liebe wie auf Flügeln dahingetragen. Am Ende überwältigen sie die Gefühle wieder und können sie zerstören. Liebe schlägt dann nur zu oft in Hass um.
Wer zu uns kommt, befindet sich in einer Grenzsituation. Ein Lebensentwurf ist gescheitert. Ein Projekt hat sich erledigt. Ihm oder ihr kommt ein Mensch abhanden, mit dem er oder sie das ganze Leben teilen wollte. Jetzt muss er oder sie sich neu orientieren, neu justieren. Nicht mehr im wir wird nun gedacht, sondern im ich.
Wenn die Liebe erlischt, bricht sich oft Enttäuschung Bahn, im Wunsch nach Verletzung. Das muss nicht, kann aber lange anhalten. Hat das Paar Kinder, sind die Voraussetzungen zur Einsicht entweder besonders gut oder besonders schlecht. Besonders gut, weil Eltern ihren Kindern im Normalfall nicht noch mehr weh tun wollen, denn die Trennung ist schon schwer genug für sie. Daraus kann ein Friedensschluss mit der oder dem Ex entstehen. Besonders schlecht ist es, wenn Eltern ihre Kinder als Geiseln in ihrem Krieg gegeneinander missbrauchen und dabei vergessen oder gering schätzen, welches Leid und welchen Schmerz sie ihnen zufügen.
In diesem Buch werden Lebensgeschichten erzählt, die in Trennungen und Scheidungen münden. Dabei handelt es sich um Fälle, die uns Familienrechtlerinnen und Familienrechtlern öfters begegnen und die ich aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes fiktionalisiert und stark verfremdet habe. Die Geschichten machen deutlich, dass uns wirklich nichts Menschliches fremd bleibt. Wir wissen nur zu gut, dass es nichts gibt, was es nicht gibt.
Vermutlich kennen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ähnliche Geschichten aus Ihrer Familie oder von Bekannten. Ja, genau darum geht es in diesem Buch: um das Leben, das sich um uns und manchmal auch in uns abspielt, das uns zugleich befremdet und fasziniert, über das wir miteinander reden, und zugleich hebt die Hoffnung ihren Finger, auf dass uns dieses Schicksal erspart bleiben möge, damit wir nicht um das Sorgerecht für unsere Kinder und um Geld streiten, nicht um den Hund, den Kühlschrank oder das Auto oder das Schließfach in der Schweiz.
Dieses Buch ist eine Gemeinschaftsarbeit von Gerhard Spörl und mir. Ein Journalist und eine Juristin stellen eine gelungene Kombination dar, haben wir festgestellt. Jeder von uns hat in seinem Beruf mit Menschen zu tun, die zu verstehen er sich bemüht. Beide wollen wir wissen, was sie antreibt und warum sie so handeln, wie sie handeln. Unsere Erfahrungen ähneln sich in der Substanz, denn sie drehen sich um Lebensentwürfe und Lebensveränderungen, um Anfang und Ende.
Unsere Haltung den menschlichen Verwicklungen gegenüber ist ähnlich, sonst wäre die Gemeinschaftsarbeit nicht möglich gewesen. In allen Lebensdingen ist Einsicht besser als Kompromisslosigkeit, Ausgleich besser als aufs Ganze zu gehen.