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Liebe im Dreieck

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Es waren einmal zwei Brüder, die ihre Eltern Jürgen und Jan getauft hatten. Sie waren knapp zwei Jahre auseinander, blond und groß gewachsen, spielten Tennis im richtigen Klub, sie waren verwöhnt und anspruchsvoll. In der Schule schlugen sie sich gerade so durch, es kam ja nicht darauf an, weder auf die Noten noch auf ein gutes Abitur noch auf ein Studium. Sie sorgten sich nicht um ihre Zukunft, sie waren wie die Vögel des Himmels: Sie säten nicht, sie ernteten nicht, sie sammelten nicht in Scheunen. Da waren ja immer Mama und Papa, die zu großer Form aufliefen, wenn ihre Sprösslinge in Schwierigkeiten steckten oder Mist gebaut hatten und deshalb Konsequenzen drohten. Die Eltern bügelten aus, was Jürgen und Jan verzapft hatten.

Für die Zukunft war vorgesorgt. Irgendwann würden Jan und Jürgen in das Familienunternehmen einsteigen und es führen, so war es ausgemacht, so würde es kommen. Wie auch sonst? Von klein auf wussten die Buben, dass sie für Großes bestimmt waren. Nicht gleich ganz oben würden sie einsteigen, nein, sie sollten von der Pike auf lernen, worum es in diesem großen Mischkonzern ging, den das elterliche Unternehmen bildete. Der Großvater hatte es gegründet, da war es noch eine kleine, oft an der Pleite entlangschrammende Klitsche. Der Vater dehnte es aus in andere Länder, sogar auf andere Kontinente. Die nächste Stufe sollten die Söhne zünden.

Jürgen, der ältere Sohn, leitete nun eine Firma in Buenos Aires. Jürgen sollte im Ausland Erfahrungen sammeln, Sprachen lernen und eine gewisse Weltläufigkeit entwickeln. Da er ungebunden war, konnte er sich dort gerne die Hörner abstoßen, das machte man ja so, das war schon in Ordnung. Frauen mochten seine weichen Züge, das lange blonde Haar, die erlesenen Sakkos mit Einstecktuch. Er sollte dort in Buenos Aires nur keine südländische Schönheit schwängern oder gar heiraten. Als Schwiegertochter wünschten sich seine Eltern eine Deutsche, die an der Seite ihres Sohnes bestehen würde, wie es ihre Mutter, eine ebenso elegante wie beinharte Frau, vorgemacht hatte.

Auf seiner Etappe in Argentinien landete Jürgen schneller, als es sein Vater eigentlich vorgesehen hatte. In Deutschland war nämlich das Finanzamt hinter ihm her und auch der Staatsanwalt. Mit Geschäftspartnern hatte Jürgen innerhalb der Europäischen Union Waren hin- und hergeschoben, um die Umsatzsteuer zu sparen. Sie waren keineswegs die Einzigen, aber sie ließen sich bei diesem Umsatzsteuer-Karussell erwischen. Der Vater handelte schnell und schickte den bedrohten Sohn auf Reisen. Sicherheitshalber bestieg Jürgen nicht etwa ein Flugzeug, sondern heuerte auf einem Containerschiff Richtung Buenos Aires an.

Für junge Menschen ist Buenos Aires eine herrliche Stadt. Bunt, wild, lebenslustig. Anarchisch. Unberechenbar. Die Nacht als Tag. Herrliche Architektur. Lässige Lebensart. Schlecht regiert, das schon, Wirtschaftskrisen sind dort ein Dauerzustand. Trotzdem gingen Jürgens Geschäfte fast gleichbleibend gut. Er importierte allerlei, von Maschinen für die Landwirtschaft über gehobene Möbel für die Mittelschicht bis hin zu optischen Geräten für Labore. Einheimische schmissen die Firma, so wollte es der Patriarch. Jürgen war der Sohn vom Chef, der ihnen auf die Finger schauen sollte. Kein schweißtreibender Job.

Mit der flirrenden, wirbelnden Stadt wurde Jürgen nicht warm. Er war ein deutscher Gewohnheitsmensch, der ungern weg von zu Hause war. Er vermisste seine Düsseldorfer Freunde, die alte Clique, mit der er um die Häuser zog, die blonden Schönheiten, die keine Umstände machten, die Ferien auf Mallorca und das Skifahren in Gstaad. Buenos Aires war für ihn Exil.

Doch die Rückkehr nach Deutschland blieb ihm bis auf Weiteres verwehrt. Steuerbetrug in Millionen-Höhe, wie er ihn begangen hatte, verjährt frühestens nach fünf, spätestens nach zehn Jahren. So lange musste er in der Fremde ausharren. Darüber jammerte er am Telefon seinen Düsseldorfer Freunden vor. Er beklagte sein Schicksal und sie machten keine Witzchen mehr, als sie merkten, dass er darüber gar nicht lachen konnte. Alles nur wegen eines Steuertricks, den nicht er erfunden hatte, sondern die Bank. War das gerecht?

Was Jürgen nicht vermisste, war Lina, seine Ex-Freundin. Mit ihr war er einige Monate zusammen gewesen, sie war nach landläufiger Meinung hübsch und handzahm. Als der Spaß nachließ, als sie anfing, Ansprüche zu erheben, verließ er sie. So hielt er es eigentlich immer. Von den Schönen der Nacht gab es so viele – warum sich da auf eine festlegen?

Zwischen Jürgen und Lina war es schon seit Wochen aus, da wollte sie ihn unbedingt sprechen. Sie war aufgeregt, sagte, sie müsse ihn sehen, möglichst schnell, es sei wichtig.

Er zögerte, was wollte sie? Was sollte schon so wichtig sein? Dreimal rief sie an, bis er schließlich nachgab.

Sie trafen sich in einem angesagten Café auf der Kö. Ohne Umschweife eröffnete ihm Lina, dass sie schwanger sei und er der Vater des Kindes. Er schaute sie verdattert an und fragte, ob er wirklich der Vater sei, und als sie ihn nur beleidigt anschaute, fragte er, was sie denn »damit« machen wollte. Er dachte, sie treibt es ab, was soll sie mit einem Kind. »Nein«, sagte sie, »spinnst du, ich treibe doch nicht ab.«

In Buenos Aires vergaß Jürgen das Problem fast völlig, im Verdrängen war er gut. Zu seiner Verblüffung stellte die Mutter seines ungeborenen Sohnes nicht einmal Ansprüche auf Unterhalt; sie verbannte ihn genauso aus ihrem Leben wie er sie. Dabei war sie weder großzügig noch so wohlhabend, dass sie ihn nicht zur Kasse bitten musste. Nein, es war einfach so, dass sie nicht lange solo blieb, das wusste Jürgen von seinen Düsseldorfer Spionen. Rasch hatte sie einen Nachfolger für ihn gefunden, einen neuen Liebhaber, der auch Geld für sie hatte.

»Und wisst ihr«, fragte Jürgen seine Freunde am Telefon, »wer ihr neuer Lover ist? Das erratet ihr nie! Es ist mein kleiner Bruder Jan. Ist das nicht komisch?«

Auch Jan, der kleine Bruder, steckte periodisch in Schwierigkeiten. Vor zwei Jahren war er mit einem ambitionierten Designergeschäft auf der Kö gescheitert. Seine Eltern mussten ihm aushelfen, sonst wäre er in die Insolvenz gerutscht. Sie halfen gerne, er war schließlich ihr Kind, aber sie redeten ihm auch ins Gewissen. Ja, ja, erwiderte er, ihr habt ja recht, doch jetzt ist es auch genug mit Vorwürfen und Ratschlägen.

Jan wollte hoch hinaus, beweisen, wie rasend gut er in Wirklichkeit war, er brauchte nur ein kleines bisschen Glück und das braucht schließlich jeder. Ihm würde etwas einfallen, ein bestechendes Projekt, eine zündende Idee. In der Zwischenzeit arbeitete er sich unter seinem Vater in die Geschäftsführung des Familienkonzerns ein.

Jetzt lebte also Jan mit Lina zusammen, die zuvor Jürgens Freundin gewesen war. Lina war schön, Typ üppige Kindsfrau, ungern auf sich allein gestellt. Immer hatte sich jemand gefunden, der sie liebte und umsorgte. Über das Verhältnis mit Jürgen redete man nicht in der Familie, und für Lina war es sowieso egal, dass sie zuerst mit dem einen Bruder zusammen gewesen war und jetzt mit dem anderen.

Jürgen war weg. Jan war da. Jan liebte Lina und meinte es ernst mit ihr. Er wollte sich binden und er wollte sie an sich binden. Ans Heiraten dachte er noch nicht, schloss es aber auch nicht aus. Stattdessen fiel ihm ein, dass er ja die Vaterschaft für den Jungen übernehmen könnte, obwohl der Jürgens leibliches Kind war. Jan wollte der rechtlich anerkannte Vater sein. Jan wollte Jürgen vergessen machen. So geschah es. Jan erkannte vor dem Jugendamt die Vaterschaft an. Er und Lina gaben eine sogenannte Sorgeerklärung ab, wonach sie künftig gemeinsam die elterliche Sorge für das Kind, das Jonas hieß, tragen würden.

Jan hing auch an Jonas, den er als seinen Sohn betrachtete, als wäre er der leibliche Vater. Eine kleine glückliche deutsche Familie.

Jan und Lina heirateten nicht. Wichtig war ihnen, dass sie zusammen waren und sich verbunden fühlten. Sie waren nicht so konservativ wie die Eltern-Generation, sie waren moderne Menschen. Wenige ihrer Freunde waren verheiratet, warum auch. So lebten sie miteinander, Jan und Lina und Jonas.

Jürgen blieb, wo er bleiben musste. Er mischte sich nicht ein, er war weit weg und am Düsseldorfer Dreierbund völlig desinteressiert. Er freute sich königlich, dass er noch nicht einmal Kindesunterhalt bezahlen musste. Fast wäre er Jan dankbar gewesen, dass er für ihn einsprang, aber im Grunde fand er ihn bescheuert. Der Kontakt zwischen den Brüdern war auf dem Nullpunkt angekommen.

Fünf Jahre vergingen. In dieser Zeit veränderte sich das Verhältnis zwischen Jan und Lina. Gleichgültigkeit schlich sich ein. Ungeduld über diese kleinen Eigenheiten, die vorher als charmant durchgegangen waren, die Art zu niesen oder die Lautstärke beim Telefonieren. Diese lauernde Bereitschaft, genervt zu sein, das Heben der Stimme, wenn eine Tasse zerbrach,

Sie gaben sich weniger Mühe miteinander. Das Schweigen nahm zu, die Freude am anderen ab. Darüber zu reden, war Jan und Lina nicht gegeben. Wenn sie sich stritten, und das passierte jetzt oft, schrien sie sich schnell an. Jan war jähzornig. Er rastete schon mal aus, vor allem wenn er zwei Gin Tonic zu viel getrunken hatte. Zu einem Eklat kam es, als sich Jan maßlos über Linas Flirt mit einem anderen Mann an der Bar ärgerte und sie deshalb wüst beschimpfte.

Lina war, wie sie war. Ihr Körper war ihr Kapital. Sie flirtete gerne, sie nannte das »meinen sexuellen Marktwert testen«. Mehr als Spielen wollte sie gar nicht. Sie war treu, solange ein Mann sie passabel behandelte und beschenkte. Auch diesmal war nichts passiert, ein bisschen in die Augen sehen, leichte Berührungen, anlächeln, das kleine Programm für das weibliche Selbstbewusstsein für Frauen vom Typ Lina.

Jan aber sah, wie die Männer Lina anstarrten, wie die Blicke lüstern von oben nach unten und von unten nach oben wanderten, von der vollen Brust hinab zu den langen Beinen unter dem kurzen Rock. Jan hatte sie selber so angesehen, als sein großer Bruder Jürgen mit ihr aufgekreuzt war, natürlich nur heimlich, aber nicht weniger gierig als jetzt der Mann an der Bar.

Lina, das Sexpaket. Er mochte ihre Flirtereien nicht. Er gab es ihr zu verstehen, und sie hörte damit jetzt erst recht nicht auf, weil sie sah, wie eifersüchtig er war. Er trank dann mehr, als ihm bekam. Warum brachte sie ihn auch soweit? Warum ließ sie das Flirten an der Bar nicht endlich sein, wo sie doch wusste, wie sehr er das hasste?

Angetrunken tobte er zu Hause herum, gefiel sich in der Pose des Beleidigten, steigerte sich genüsslich hinein in die hochwillkommene Wut, und als er das halb volle Tablett mit Gläsern und Tellern auf dem Couchtisch sah, fegte er es mit der Hand herunter. Lina schaute die auf dem Teppich verteilten Essensreste und Glasscherben an, die ganze Bescherung, schaute Jan an und schrie: »Sag mal, spinnst du, dich so aufzuführen? Warum machst du aus nichts so ein Drama? Wenn deine Mama wüsste, wie eifersüchtig ihr Söhnchen ist …« Weiter kam sie nicht.

Wer sich lange kennt, kennt jede wunde Stelle. Man muss sie nur leicht anbohren und schon ist die gewünschte Reaktion nahe, sofort spuckt der Krater wieder Feuer. Die Abhängigkeit von seiner Mama war eine wunde Stelle. Diesmal kam es, wie es immer kam, nur schlimmer. Jan versetzte Lina einen Stoß, sodass sie rückwärts über einen Sessel stolperte und im Fallen mit dem Kopf gegen den Couchtisch schlug. Benommen lag sie in den Scherben, blutete an Händen und Knie, hielt sich den Kopf und weinte bitterlich. Im Schluchzen sagte sie: »Geh weg! Ich will dich nicht mehr sehen.«

Jan erschrak, als sie stürzte. Froh war er, dass nicht mehr passiert war. Mit hängenden Schultern stand er über ihr und wusste nicht, was er sagen sollte. Er fühlte sich schlecht, es war ihm peinlich, aber sie hätte ihn ja nicht bis aufs Blut reizen müssen. Ja, schon wahr, wenn er sie weniger geschubst hätte, wäre sie nicht hingefallen, dann hätte sie ihm verziehen und sie hätten später miteinander geschlafen, wie sonst immer. Auch war ihm schon klar, dass er sich entschuldigen sollte, aber das brachte er nicht über sich, obwohl er wusste, dass sie ihm wahrscheinlich schnell wieder verzeihen würde, wie sie es immer getan hatte, sie war ja nicht nachtragend. Aber der Trotz war stärker als das schlechte Gewissen.

Wie in Zeitlupe nahm er alles wahr, den rechten Stiletto, der im Rückwärtsstolpern wegknickte, der Rock, der im Fallen hochrutschte. Was ihn sonst sexuell erregte, sah er jetzt mit Befremden. Dann das klägliche Weinen, wie von einem kleinen Mädchen, ganz merkwürdig klang es in seinen Ohren. Ihr Unglück rührte ihn von ferne, als schaute er einen mäßig interessanten Film. Sie war weit weg, viel zu weit. Sie erreichte ihn nicht wie sonst mit ihrem Jammer.

Aber war sie nicht selber schuld, weil sie ihn wegschickte? Sie würde schon sehen, wo sie blieb.

Und Jonas? Schade um ihn, er mochte den Jungen. Egal. Er würde schon klarkommen, er hatte ja eine Mutter. Jan musste hier weg. Er nahm die Zigaretten vom Tisch und die Autoschlüssel aus der Schale und ging. Leer fühlte er sich, hohl.

Lina war Sachbearbeiterin in der Finanzbehörde und verdiente 1.900 Euro netto im Monat. Es reichte knapp für sie und Jonas. Nach dem Gesetz musste Jan als rechtlicher Vater Unterhalt für das Kind bezahlen. Es steht uns zu, sagte sich Lina. Jan wollte es so, und nun hatte er es.

Jans Eltern übernahmen die Kontrolle, wie gewohnt. Sie mischten sich gerne ein. Sie waren die Hüter ihrer Söhne, im Guten sowieso, aber mehr noch im Schlechten. Sie organisierten die Trennung und regelten den Unterhalt für Mutter und Sohn, der sozusagen ihr doppelter Enkel war, als Jürgens leiblicher und Jans rechtlicher Sohn.

Lina und Jonas durften in der großen Wohnung bleiben, die Jan gehörte. Zusätzlich bekam Lina 1.000 Euro Unterhalt pro Monat für das Kind, mehr als Jan nach der »Düsseldorfer Tabelle« zahlen musste. Das Ganze gossen die Eltern in einen Vertrag, der von Jan und Lina vor einem Notar unterschrieben wurde. Die Eltern bürgten für Jan.

In den Augen der Eltern war es ein Glück, dass ihr Sohn diese Frau nicht auch noch geheiratet hatte, sonst hätte sie jetzt Anspruch auf einen Teil des Vermögens gehabt. Sie mochten Lina nicht, hatten sie nie gemocht. In ihren Augen war sie ein berechnendes Flittchen, das sich zuerst ihren älteren und dann ihren jüngeren Sohn gekrallt hatte. Auch an ihrem Enkel hatten sie wenig Freude, weil er nun einmal der Sohn dieser berechnenden Frau war.

Dann starb der Patriarch der Familie. Nun war seine Witwe, die immer die Familie zusammengehalten hatte, auch offiziell die entscheidende Instanz im Unternehmen. Wäre es mit rechten Dingen zugegangen, hätten Jürgen und Jan im nächsten Zug die Führung des Unternehmens übernommen. Sie waren um die Dreißig, im richtigen Alter, und besaßen einige Geschäftserfahrung. Aber keiner von beiden traute sich jetzt schon die Nachfolge zu. Sie überließen der Mutter das Regiment, was nicht ausschloss, dass sie sich hinter ihrem Rücken über sie lustig machten, so viel waren sie sich schuldig.

Zwei Jahre vergingen. Jürgen würde erst heimkehren, wenn seine Steuerstraftat verjährt war und ihm kein Strafverfahren mehr drohte. Jan arbeitete seiner Mutter zu, er war so etwas wie ihr Bürochef. Für Linas Lebensunterhalt sorgte das elterliche Arrangement.

Dann bekam Lina einen Brief von der Witwe, in dem zu lesen stand, dass sie, die Patriarchin, leider nicht länger imstande sei, den Unterhalt für das Kind aufzubringen. Sie leide an einer chronischen Krankheit, zudem liefen die Geschäfte in letzter Zeit schlecht, sodass sie den monatlichen Unterhalt von 1.000 Euro nicht mehr erübrigen könne.

Das waren epische Erklärungen für einen einfachen Tatbestand: Die Witwe wollte kein Geld mehr für die frühere Gespielin ihres Sohnes ausgeben, Enkel hin oder her. Dafür gab es einen Grund, den sie in ihrem Schreiben allerdings unerwähnt ließ, der aber jederzeit angeführt werden konnte, wenn es zu einer Gerichtsverhandlung kommen sollte. Die lebenserfahrene Lina hatte schon wieder einen neuen Freund, und die Frau Mama befand, der sollte jetzt gefälligst für Mutter und Sohn aufkommen.

Naturgemäß sah Lina den Fall anders. Der vertraglich vereinbarte Unterhalt war eine sichere Bank, ein Besitzstand, auf den sie keineswegs verzichten wollte. Ihr lag daran, die Regelung aus ihrem Verhältnis mit Jan aufrecht zu erhalten, weil sie ihr Unabhängigkeit bescherte. Von dem neuen Mann an ihrer Seite konnte sie ja nicht wissen, wie lange er bei ihr bleiben würde. Ihre bisherigen Erfahrungen waren wenig ermutigend gewesen. Sie suchte sich eine Anwältin und ließ sich einen Termin geben.

Für mich sah der Fall nach Routine aus. Ein wasserdichter Vertrag, aus dem die Witwe schwerlich aussteigen konnte. Eine begüterte Familie, für die 1.000 Euro Peanuts waren. Und eine junge Frau, die vor mir saß und ganz genau wusste, was sie wollte. Beste Voraussetzungen. Ich schrieb einen Brief an die Witwe und lehnte das Ansinnen unter Hinweis auf die Vereinbarung ab. Worauf ich nicht gefasst war, begann nun: einer der seltsamsten Rechtsstreite, die mir je unterkommen sollten.

Die Witwe reagierte nicht auf mein Schreiben. Stattdessen bekam Lina einen Brief vom Familiengericht, in dem stand, dass Jürgen, der leibliche Vater in Buenos Aires, den Antrag stelle, das Gericht möge feststellen, dass er der Vater von Jonas sei und nicht sein Bruder Jan. Der Antrag war unterschrieben von Jan, der seinerseits eine Vollmacht von Jürgen vorlegte, ausgestellt auf ihn, Jan.

Lina war fassungslos und fragte mich, was das sollte. Ich beruhigte sie und erklärte ihr, dass die Familie mit diesem Manöver versuche, die Unterhaltsansprüche von Jonas gegen Jan auszuhebeln.

Lina erzählte mir nun die ganze verwickelte Geschichte ihrer Beziehungen zu Jürgen und Jan: Wie sie zuerst mit Jürgen liiert gewesen und dann schwanger geworden sei. Wie kurz darauf Jan in ihr Leben trat. Dass Jan nach der Geburt unbedingt auch rechtlich die Vaterschaft für das Kind übernehmen wollte, sodass er, der nicht leibliche Vater, doch zum sozialen Vater wurde.

Sie sagte, jeder in der Familie habe gewusst, dass Jürgen der leibliche Vater von Jonas sei. Niemand habe Jan je dazu gezwungen, die Vaterschaft zu übernehmen, sie ganz bestimmt nicht. Es sei allein sein fester Wille und seine freiwillige Entscheidung gewesen. Natürlich habe er ihr damit imponiert, denn beide wollten gerne eine richtige Familie haben.

Die Rechtslage sah nun so aus: Nach Paragraf 1600 b, Absatz 1, Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches gibt es Fristen dafür, eine Vaterschaft zu bestimmen oder zu bestreiten. Jürgen hätte innerhalb von zwei Jahren den Antrag stellen müssen, festzustellen, dass er der Vater sei. Die Frist begann zu dem Zeitpunkt, da Jürgen von den Umständen erfuhr, die für seine Vaterschaft sprachen. Geklärt werden musste deswegen, wann Jürgen von seiner Vaterschaft erfahren hatte.

Drei Jahre lang zog sich der Rechtsstreit hin. Der Schriftverkehr der Parteien untereinander und mit dem Familiengericht schlug sich in drei Leitzordnern nieder. Am Ende beraumte das Gericht eine nicht öffentliche Verhandlung zur Beweisaufnahme an, bei der allerlei Zeugen darüber aussagen sollten, seit wann Jürgen wusste, dass er Vater geworden war.

Jonas war nun zehn Jahre alt und hatte einen leiblichen und einen sozialen Vater. Ziemlich verwirrend für ihn und auch für das Gericht.

Die entscheidende Person war nicht da: Jürgen, gebunden an Buenos Aires. Die Patriarchin sagte als erste Zeugin aus und konnte sich beim besten Willen nicht genau erinnern, wann sie erfahren haben sollte, dass Jürgen Jonas gezeugt hatte. Auch einige Freunde von Jan und Jürgen mochten sich nicht festlegen, wann ihnen wer die Wahrheit über den Kindsvater erzählt hatte.

Es gab aber auch Zeugen, die sich erinnern konnten, dass es ein offenes Geheimnis in der Familie war, wie Lina mit beiden ein Verhältnis gehabt hatte, nicht nebeneinander, sondern nacheinander. Ein Zeuge sagte unverblümt, Jürgen habe sogar darüber gelästert, wie blöde Jan doch sei, dass er die Vaterschaft anerkenne, wo er ja genau wisse, dass er nicht der Vater sei. Ihm, Jürgen, könne es ja nur recht sein, denn damit sei er raus aus dem Spiel.

Das Gericht wies die Klage ab, die Jan mit der Vollmacht von Jürgen eingereicht hatte. Dann ging der Fall in die zweite Instanz, in der das Oberlandesgericht Düsseldorf Jürgen per Videokonferenz aus Argentinien zuschaltete und danach zum gleichen Ergebnis kam: Vaterschaft lange schon bekannt, Frist weit überschritten. Damit blieb auch die Geschäftsgrundlage für den Unterhaltsvertrag bestehen, den Lina und Jan geschlossen hatten.

Allerdings gaben die Richter zu erkennen, dass sie die Rechtslage für unbefriedigend erachteten: In Statusfragen sollte es keine Präklusion geben – das war Rechtsdeutsch dafür, dass es besser wäre, wenn die Anfechtung einer Vaterschaft nicht an Fristen gebunden wäre, wie es in anderen europäischen Staaten üblich war.

Jonas hatte nun einen leiblichen Vater, nämlich Jürgen, den er nicht kannte und der sich nicht um ihn kümmerte. Dazu hatte er einen rechtlichen Vater, nämlich Jan, den er zwar kannte, der sich aber jetzt auch nicht mehr um ihn kümmerte.

Lina war fein heraus. Ihr blieben die Wohnung und der Tausend-Euro-Monatsunterhalt. Sie hätte einfach so weiterleben können, wie sie immer gelebt hatte: wechselnde Partner, wechselnde Versorger. Aber der jahrelange Rechtsstreit, die Niedertracht von Jürgen, Jan und der Witwe, dazu die Ungewissheit, wie es weitergehen würde, hatten Spuren hinterlassen. Mitte dreißig war Lina nun, Jonas ging aufs Gymnasium und wollte studieren.

Die Zeiten änderten sich und Lina änderte sich mit ihnen. Die bedürftige Kindsfrau, die nicht ohne betreuenden Mann sein konnte, ließ sie nach und nach hinter sich. Zu ihrer eigenen Überraschung entdeckte sie sogar beruflichen Ehrgeiz in sich, bewarb sich in der Finanzbehörde für den Posten der Referatsleiterin. Sie wurde genommen und schöpfte daraus ein neues, freieres Selbstbewusstsein. Den Freund, der gleich nach Jan als neuer Versorger eingezogen war, schickte sie in die Wüste. Das gehörte auch zu ihrem neuen Leben. Nach und nach lernte sie sogar das Alleinsein schätzen, das sie früher immer in hilflose Panik versetzt hatte. Und Jonas? Er lebte sein Teenager-Leben ohne Vater, der ihm sehr fehlte – Jan natürlich, denn den anderen kannte er ja gar nicht.

Schluss, Aus, Vorbei!

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