Читать книгу Aber der Himmel war höher - Rita Kuczynski - Страница 13
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ОглавлениеDer Lärm von den Müllautos auf der Straße weckte mich, es war schon neun Uhr. Ich musste zu diesem Herrn Jungmann. Er hatte ein sogenanntes »Brainstorming« – wie er sich ausdrückte - angesetzt. Musste mich einstimmen auf das Gespräch. Dazu musste ich mir überlegen, was ich anziehe. Noch fehlte mir die rechte Kleidung für meine neue Rolle. Außerdem musste ich mir zumindest drei zusammenhängende Sätze überlegen, wie man denn nun Menschen animiert, damit sie sich gegen Risiken versichern ließen.
Herr Jungmann empfing mich freundlich in seinem Arbeitszimmer. Er trug ein schwarzes Leinenhemd mit Stehkragen, dazu eine schwarze Leinenhose mit weißem Ledergürtel. Sein Aufzug erinnerte mich an einen chinesischen Zirkusdompteur, den ich vor Jahren in Tusche gemalt hatte. Kurz vor Weihnachten war der Zirkus auf dem Weg nach Wien auch in Berlin. Der Dompteur arbeitete mit Pinguinen. Ich hatte mich nach seiner Show in die Kantine gesetzt und Skizze um Skizze von ihm gemacht. Sein schwarzes Hemd, das er über der Hose trug, war auch durch solch einen Gürtel aus geflochtenem weißem Leder geteilt. Glücklicherweise hatte der Dompteur nicht bemerkt, dass ich ihn zeichnete. Denn wie ich später erfuhr, hätte er es nicht gestattet. Einer anderen Künstlerin hatte er mit einem Prozess gedroht, wenn sie ihre Zeichnung irgendwo ausstellen oder gar veröffentlichen würde.
Während ich auf den weißen Gürtel von Herrn Jungmann starrte, kam er mir entgegen und reichte mir die Hand. Sein Zimmer war riesengroß, zu groß für diesen schmächtigen Mann. Der Stil des Raumes: Metallmöbel, einschließlich der Stühle und zu viele Papierkörbe. Herr Jungmann bat mich, Platz zu nehmen. Der Metallstuhl war so kalt, dass ich noch mal aufstand und meine Jacke auf den Sitz legte.
Es freue ihn, mit mir zusammenarbeiten zu dürfen, sagte er. Mich freue es auch, log ich ihm frech ins Gesicht. Ob er mich zum Italiener entführen dürfe. Der sei gleich hier an der Ecke. Natürlich nur, wenn ich damit einverstanden sei, sein Gast zu sein. Der Laden sei nicht erstklassig, aber doch ganz ordentlich.
Was sollte ich dagegen haben? Und so gingen wir. Lisa, die wir auf der Treppe trafen, sagte mit leicht ironischem Ton: »Na, dann guten Appetit.«
Ich bestellte einen großen Salat mit Thunfisch. Wein nahm ich keinen, obwohl mich Herr Jungmann zweimal bat, ihn nicht allein trinken zu lassen. Aber es war noch viel zu früh für Wein. Jedenfalls für mich.
Nachdem wir bestellt hatten, holte er aus seiner Jackentasche eine Pappbrille. Er bat mich, sie aufzusetzen. Er bat mich so, dass kein Widerspruch möglich war. Er war schließlich der Chef der Werbeabteilung und damit mein unmittelbarer Vorgesetzter. Ich setzte die Brille also auf. Das eine Glas war mit blauer, das andere mit dunkelgrauer Folie beklebt.
»Und nun sehen Sie auf die Straße. Was sehen Sie?«
Ich zögerte mit der Antwort.
Nach einer Pause sagte er: »Das Risiko ist blau, das Risiko ist grau. Das Risiko ist wie eine Brille, durch die wir die Welt betrachten können. Dabei einigen wir uns von Zeit zu Zeit auf das, was wir Risiko nennen. Wir bestimmen nämlich, was ein Risiko ist. Und was nicht.« Er holte drei weitere Brillen aus seiner Tasche. Sie hatten rote, grüne und gelbe Folien. Er legte sie auf den Tisch und schob sie auf der Papiertischdecke hin und her.
»Welches ist die richtige?«
Ich zögerte wieder mit einer Antwort.
»Verstehen Sie. Alles hängt von der Brille ab, durch die wir ein wahrscheinliches Ereignis als Bedrohung wahrnehmen.«
Er hob genüsslich sein Weinglas und betrachtete es.
»Es ist wie die uralte Geschichte mit dem Glas. Ob es halb voll ist oder halb leer, hängt von unserer Stimmung und Lebensicht ab.«
Er prostete mir zu.
»Wir bestimmen also mit, was ein Risiko ist. Das ist eine sehr demokratische Angelegenheit. Finden Sie nicht?«
Er und sah mich listig an.
»In Deutschland« fuhr er dann fort, »sterben beispielsweise ungleich mehr Menschen an Lungenkrebs als an Aids. Und dennoch geht man gegen die Zigarettenindustrie bisher nicht ernsthaft vor. Oder nehmen Sie die toxischen Rückstände in unserer Nahrung, die öffentliche Besorgnis erregen. Sie sind das weitaus geringere Risiko, verglichen mit dem Risiko, das von falscher Ernährung ausgeht.«
Die Kellnerin brachte das Essen.
»Finden Sie also die richtige Brille für die Risiokoversicherungen unseres Unternehmens. Ich wünsche einen guten Appetit.«
Eigentlich hatte ich wenig Hunger. Aber ich musste essen, schließlich war ich eingeladen. Es war gewissermaßen mein erstes Geschäftsessen im Angestelltenverhältnis. Außerdem schmeckte der Thunfisch gut.
»Ich habe mir Ihren Ausstellungskatalog angesehen. Sie beschwören das Unerwartete in ihren Bildern. Das ist gut für unser Unternehmen. Denn Risikoversicherungen leben davon. Wir wissen ja nie, ob es wirklich ein Risiko ist, das wir als Risiko anpreisen. Und eben dieses Nichtwissen muss als bedrohlich erlebt werden, ohne zu erschrecken.«
Er streute wohldosiert geriebenen Parmesankäse auf seine Spaghetti. Dann drehte er mit der Gabel die Nudeln genüsslich auf dem Löffel, bevor er sie in den Mund schob. Schweigend aßen wir. Auf der Straße quietschten die Bremsen eines Autos. Herr Jungmann sah neugierig aus dem Fenster.
»Es ist nichts passiert«, sagte ich, ohne wirklich besorgt gewesen zu sein.
»Und wenn«, scherzte Herr Jungmann, »hätte der Beschädigte hoffentlich unsere Haftpflichtversicherung für sein Auto gehabt.«
Ich lachte höflich.
Als wir beinahe fertig waren, sagte Herr Jungmann: »Haben Sie noch Fragen?« »Nein, vorerst nicht. Ich glaube, Sie verstanden zu haben. Vielen Dank, für ihre Zeit und für den Salat.
»Wann kann ich mit Ihren ersten Entwürfen rechnen?«
»In vier Wochen?«, fragte ich mit unsicherer Stimme.
»Sagen wir in drei«, sagte er und zahlte. Er gab der Kellnerin noch reichlich Trinkgeld.
»Und noch etwas, Frau Hausen. Wenn Sie nicht zurechtkommen, fragen Sie.«
Er gab mir eine Visitenkarte und schrieb auf die Rückseite seine private Handynummer. Dann verabschiedete er sich.
Ich versprach zu fragen und stand auf der Straße. Ins Büro zurückzugehen, hatte ich für heute keinen Anlass.