Читать книгу Aber der Himmel war höher - Rita Kuczynski - Страница 5

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Der Mai war zu kalt. Er war auch zu feucht. Dass ich aufs Wetter achte, ist neu. Marion meint, ich würde weniger erwarten. Ich suchte nach Verlässlichem. Und schlechtes Wetter käme - wie gutes Wetter.

Das stimmt so aber nicht. Ich will nur Klarheit. Also ein Ende mit Max. Denn Klarheit in der Liebe ist unweigerlich das Ende. Jedenfalls habe ich es so erfahren. Daher achte ich zurzeit auf Wärme. Sogar einen Wollpullover habe ich mir gekauft, mitten im Mai. Ich kann die Trennung nicht länger leben. Das ist alles. Und dafür ist es viel. Zu viel denke ich manchmal. Dennoch will ich es versuchen. Ich habe mir daher auch eine neue Bahncard gekauft. Wegfahren hilft ja. Wir fahren doch das ganze Leben lang fort. Fort von uns. Wir merken nur Jahre später erst, dass wir gefahren sind. Dann können wir uns nicht erinnern, von wo wir losfuhren. Manchmal glauben wir, um den Anfang unseres Fortgehens zu wissen. Dann werde zumindest ich ruhiger, weil ich das Gefühl habe einen Faden in die Hand zu bekommen, an den ich mich halten kann. Aber bald verliere ich ihn wieder. Nicht dass er reißt. Er war gar nicht da. Denn der Anfang, um den ich glaubte zu wissen, war gar keiner. Auch deshalb liebe ich Bahncards und sammle Meilen bei allen Fluggesellschaften.

Obwohl Max gar nicht mehr in Europa ist, habe ich mir also eine Euro-Bahncard gekauft. Nicht weil das Angebot besonders günstig war, sondern weil ich glaubte, meinen Aktionsradius durch diese Card vergrößern zu können. Denn auch wenn Max schon lange nicht mehr im Lande ist, sind doch die Städte voll von Erinnerungen an ihn.

Mitunter gehe ich ins »Café Einstein« Unter den Linden, um zu gucken, ob Max dort die »Financial Times« liest. Er weigerte sich, diese Zeitung auch noch zu abonnieren. Schließlich hatte er schon drei Tageszeitungen. Natürlich weiß ich, dass Max eigentlich nicht dort sein kann. Trotzdem sehe ich mich um nach ihm, wie ich mich immer umgesehen habe, wenn ich dieses Café betrat. Irgendwann verweilt mein Blick dann auf der braunen Holzleiste, an der Fensterfront zur Straße. Tageszeitungen auf Halter gespannt, zieren die Wand zwischen den einzelnen Fenstern. Langsam steuere ich sie an und hole mir die »Financial Times« von einem der Wandhaken. Ich bestelle mir einen Espresso, den mit Kandiszucker. Ihn habe ich mit Max hier immer getrunken. Dann durchblättere ich Seite für Seite das rosa Papier der Zeitung, bis ich bei den Börsenkursen angelangt bin. Nicht dass sie mich sonderlich interessieren. Aber ich brauche die Nachrichten aus aller Welt, bis ich mir eingestehe, dass Max nicht hier sein kann. Dann lese ich noch, wie der Dollar zum Euro steht, auch weil ich dann weiß, ob Max’ Aktien Verluste oder Gewinne gemacht haben. Danach trinke ich den letzten Schluck Espresso aus. Ich liebe diesen kalten Schluck. Deshalb hebe ich ihn mir immer auf, bis ich auf der letzten Seite dieser Zeitung angelangt bin. Dann lege ich drei Euro auf den Tisch. Ich trage die Zeitung zurück zur Wand und hänge sie ordentlich an einen freien Haken. Die Kellner kennen meine Gewohnheit. Manchmal, wenn ich sehr früh komme, entschuldigen sie sich, dass die aktuelle Ausgabe der »Financial Times« noch nicht da sei. Sie geben mir dann die Ausgabe des Vortags. Sie liegt unter dem Tresen.

Marion sagt, es gehe so nicht weiter mit mir. Marion ist Psychoanalytikerin. Und dafür, dass sie diesem Beruf nachgeht, ist sie erstaunlich pragmatisch. Für andere hat sie meist einen vernünftigen Vorschlag, aus scheinbar aussichtslosen Situationen herauszufinden. Nur für sich meist nicht.

In ihrer Gutherzigkeit hat Marion in einer Sonntagszeitung unter der Rubrik ‚Zusammenleben’ für viel Geld und ohne mich zu fragen, eine Annonce für mich aufgegeben. Es sollte eine Geburtstagsüberraschung werden. Und so saßen wir dann an diesem Tag, da ich 51 Jahre alt geworden war, zusammen und sortierten 63 Briefe. Marion hatte professionell formuliert. Und da sie Max auch kannte, wusste sie, womit ich nicht umgehen kann. Schließlich blieben nur zwei Zuschriften übrig, die Erfolg versprechend schienen.

Ich war gar nicht so begeistert. Aber ich wollte Marion auch nicht enttäuschen. Also habe ich mir schwarze Wimperntusche und blauen Lidschatten gekauft. Da ich nie zuvor in meinem Leben Lidschatten benutzt hatte, musste ich erst einmal sehen, wie mit solch einer Farbe umzugehen war. Nachdem ich endlich verstanden hatte, dass sich das Blau besser mit den Fingern und nicht mit der beigelegten Schwammbürste auftragen ließ, war das Resultat zufrieden stellend. Ich hatte es geschafft, die Farbe gleichmäßig über das Augenlid zu verteilen.

Max hätte beim Anblick der blauen Bemalung sicher vor Lachen losgeprustet. Dann hätte er mich gefragt, ob es mir nicht gut gehe. Ich hätte gelacht, weil ich meist lache, wenn es mir nicht gut geht und ich mich zu keiner Antwort entschließen kann. Dann hätte ich ihm von der blauen Schminke abgegeben. Auf die Stirn hätte ich sie ihm geschmiert. Natürlich hätte er versucht, sich dagegen zu wehren. Wir hätten uns gebalgt, so dass der blaue Lidschatten auf unserer Kleidung gelandet wäre. Danach wären wir Fleckensalz kaufen gegangen. Im Buntwäscheprogramm hätten wir die Schminke aus unseren Sachen gewaschen.

Aber Max war nicht da. Also hatte ich Stunden mit dem Kosmetikspiegel verbracht. Ich hatte den Spiegel erst vor Tagen gekauft. Es war ein Sonderangebot. Marion meinte, ich müsste den Tatsachen endlich ins Auge sehen. Da ich mit Spiegeln keine Gewohnheit hatte, kaufte ich einen Drehspiegel. Die Vergrößerungen im Spiegel zu wechseln, gefiel mir.

Endlich hatte ich es also geschafft, den Lidschatten so aufzutragen, dass er einigermaßen manierlich aussah.

»Leuchten werden Ihre Augen mit unseren Farben«, versprach die Packungsbeilage.

Na ja, so schlimm war es denn doch nicht. Aber ich sah anders aus - und das war es, was ich im Sinne hatte. Ich wollte ein Zeichen setzen. Ich wollte nicht aussehen, wie ich ausgesehen hätte, wenn ich mit Max durch die Stadt gegangen wäre.

Der Einfachheit halber hatten Marion und ich beschlossen, bei den zwei übrig gebliebenen Kandidaten mit dem Berliner zu beginnen. Sich im Café »Adlon« zu treffen, hatte der Berliner Kandidat vorgeschlagen. Für alle Fälle hatte er mir seine Handynummer gegeben. Es könne ja immer etwas dazwischen kommen. Es kam nichts dazwischen. Nur dass ich ihn in der Lounge des Hotels nicht fand. Denn seine Beschreibung, er sei groß, also von stattlicher Natur, war angesichts der tiefen braunen Sessel, in denen die Besucher hier versanken, eine nutzlose Information. Also wählte ich seine Handynummer. Drei Tische vor mir suchte ein Mann in seiner Tasche nach dem klingelnden Gerät und meldete sich. Eigentlich hätte ich sofort auflegen und gehen sollen. Mein Gefühl sagte mir, dieser Mann, ganz in Schwarz gekleidet, sucht keinen Neuanfang, wie er in seinem Brief so wortreich beschrieben hatte. Jedenfalls nicht mit mir. Aber ich wollte Marion nicht enttäuschen. Schließlich war es ihr Geburtstagsgeschenk für mich. Also meldete ich mich. Dass ich keine drei Meter entfernt von ihm stand, verunsicherte ihn für einen Augenblick. Aber dann fing er sich, half mir aus dem Mantel und bat mich Platz zu nehmen. Bei einem Kaffee spielten wir unser Abfragespiel. Verheiratet waren wir beide schon. Ich einmal mehr als er. Dann gestand er mir, dass er als Immobilienhändler vor nicht langer Zeit pleite gegangen war. Das komme häufiger vor in dieser Branche. Aber ebenso häufig komme es vor, dass man ganz schnell wieder reinkommt ins Geschäft. Die Frau, die er liebte, habe ihn gleich nach seinem Bankrott verlassen. Er sei mehr als entsetzt gewesen. Denn auch ihretwegen hatte er einige riskante Käufe getan.

Ich hörte mir das eine Weile an. Dann hörte ich nicht mehr hin. Ich dachte an Max und daran, dass wir nie auf die Idee gekommen waren, im »Adlon« für irrsinnig viel Geld einen Kaffee zu trinken. Selbst wenn der Kaffee hier etwas besser schmeckte als anderswo. Ich starrte den Mann an, der einen Neuanfang wollte. Ich sah nur noch die Bewegung seines Mundes, aus dem Worte fielen, die ich nicht mehr hören wollte. Ich wusste, dass es eigentlich nicht recht war, was ich da tat. Denn ich täuschte ihn. Natürlich musste er denken, ich hörte ihm gebannt zu. Ja, ich hinge gerade zu an seinen Lippen. So verwunderte es nicht, dass er entzückt war, eine so begierige Zuhörerin gefunden zu haben. Um so erstaunter war er dann, als ich nach der zweiten Tasse Kaffee abrupt aufstand und mich so verabschiedete, dass für einen Widerspruch kein Raum blieb.

Ich nahm den Hunderter-Bus und fuhr zum Bahnhof Zoo. Im Café von Lofferiere am Kurfürstendamm bestellte ich nach einigem Zögern den Eisbecher, den ich mich mit Max dort immer gegessen hatte. Ich dachte daran, dass wir uns in den letzten Monaten viel gestritten hatten. Ich verstand erst jetzt, dass ich mich mein ganzes Leben lang immer nur in kluge, eigentlich in sehr kluge Männer verliebt hatte. In Männer, die mehr wussten als ich. Ich suchte nach Gewissheiten. Ich war süchtig nach Antworten, die keinen Widerspruch zuließen oder ihm standhielten. Solche Antworten suggerierten mir Sicherheit. Sie sprachen von Hoffnung, dass es vielleicht doch ein Einsehen gäbe. Zumindest für Stunden.

So war es auch mit Max. Ich war ruhig, wenn er sprach. Selbst seine mitunter dozierende Art, mir die Welt zu erklären, nahm ich lachend hin. Zu früh hatte ich jegliche Parameter verloren für das, was wahr und was falsch war. Denn alles ist wahr, und alles ist falsch. Es kommt auf die Bezugspunkte an. Sie allein ordnen die Dinge. Sie allein bestimmen die Grenzen, in denen wahr bleibt, was wir für wahr vereinbart haben. Treten wir hinaus über die von uns selbst bestimmten Grenzen, fällt zusammen, was uns hielt, weil die Koordinaten sich verändert haben.

Ich falle dann mit. Falle durch alle Raster, wohin, weiß ich nicht. Aber dass es kein Laut da gibt, wohin ich falle, weiß ich. Mitten in solch bodenlosem Fallen fängt mich einer dieser klugen Männer auf. Einer von denen, die auf alles eine Antwort haben. Nicht dass ich ihnen das vorwerfe. Im Gegenteil, auch Max liebte ich dafür. Ich war ihm dankbar. Begierig nahm ich seine Antwort auf und deckte meine Unsicherheiten zu mit ihnen, so gut ich konnte. Ja, süchtig nach Zuspruch bin ich immer gewesen. Und so lange Max da war, waren seine Antworten auch stimmig. Das heißt, ihr Klang war stimmig. Weil die Logik seiner Antworten aber nicht mehr stimmte, ihr Klang also brüchig wurde, wenn er nicht da war, konnte ich es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Seine Antworten beschützten mich.

Aber dann kam auch für Max der Tag, da ich alle seine Antworten kannte. Ich also wusste, was er als Nächstes erwidern würde, würde ich nachfragen. Und da wurde wieder alles wahr und alles falsch. Ich begann, ihm zu widersprechen. Das war der Anfang vom Ende. Denn ich änderte die Bezugspunkte, von denen aus ich auf Max zuging, ihn zu umarmen. Ich verließ ihn. Ich war dagegen. Ich verließ ihn dennoch. Mit jeder neuen Frage entfernte ich mich von ihm. Ich kam nicht dagegen an. Ich kannte inzwischen den Rhythmus der Schritte, in dem ich mich von ihm entfernte. Schließlich war Max nicht der erste Mann, den ich verließ. Weil ich nicht immer fortgehe, nachdem ich einen dieser klugen Männer verlassen habe, tauge ich zur Ehefrau.

Ich aß mein Eis auf und zahlte. Ich nahm den Bus nach Hause. Seit ein Bus beinahe von meiner Haustür zum Kurfürstendamm fährt, fühle ich mich weniger allein in der Stadt. Angekommen an meiner Haltestelle, machte ich noch einen Spaziergang durch den Park. Es ist ein Park, in dem Jogger, Schwule, Spaziergänger sowie Kinder und ihre Eltern neben einander bestehen können. Ich lief den großen Trümmerberg hinauf. Auf einem gesprengten Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg hatten Berliner den Schutt ihrer zerstörten Häuser abgeladen. Dann haben sie den Berg mit Bäumen bepflanzt. Im Winter, wenn diese Bäume keine Blätter haben, kann man von dem Trümmerberg aus weit über Berlin sehen. Aber ab Mai sieht man nur noch zwischen den Baumlücken hier und da ein Stück von der Stadt. Angekommen auf dem höchsten Punkt des Berges, machte ich meinen kleinen Rundgang. Nachdem das Pärchen, das auf der Brüstung des Bunkers saß, gegangen war, pfiff ich vorsichtig durch die Zähne. Ich tat es noch einmal. Die Squirrels kamen nicht. Sie kommen nicht immer, wenn ich sie rufe. Die Squirrels sind graue Eichhörnchen. Ihre Heimat ist eigentlich Nordamerika. Sie haben einen buschigeren Schwanz als die europäischen, und sie sind auch größer.

Wie die Squirrels hier in diesen Park gekommen sind, weiß niemand. Ich hatte sie zum ersten Mal in Berlin gesehen, nachdem ich vor Jahren das erste Mal aus Manhattan zurückgekommen war. Sie sind, so weit ich weiß, nur in diesem Park hier und in keinem anderen von Berlin. Warum, weiß ich nicht. Aber ich war hoch erfreut, als ich sie auch hier sah. In New York erblickte ich sie zum ersten Mal in Manhattan - und zwar in dem schmalen Park von Riverside. Dort waren sie so zahm, dass sie auf dem Weg saßen und darauf warteten, dass die Passanten sie fütterten. Im Central Park sind die Squirrels auch. Nur füttert sie dort niemand.

Als ich im letzten Jahr von New York zurückkam, habe ich den Squirrels vom Trümmerberg Früchte aus dem Central Park mitgebracht. Sie fraßen sie mit sichtlichem Vergnügen. Doch Nüsse aus dem Supermarkt fressen sie auch. Ich pfiff noch einmal. Eines der Squirrels pfiff zurück. Aber es ließ sich nicht blicken. Ich war dennoch erleichtert, dass sie überhaupt antworteten. Ihre Anwesenheit in diesem Park gilt mir als Zeichen dafür, dass es einen diskreten, einen heimlichen Zusammenhang zwischen den Orten gibt. Einen, der hinter allen Koordinaten von hier und jetzt liegt. Ohne sie wäre der Park nur halb so schön. Bevor ich den Trümmerberg wieder hinabstieg, schaute ich noch einmal durch die Baumlücken über die Stadt. Ich wollte mich vergewissern, dass alles noch war, wie es gestern auch war. Solche Gewissheiten beruhigen mich seit einigen Jahren.

Als ich an meinem Haus ankam, sah ich schon von weitem Marions Wagen. Sie kam auf mich zu und küsste mich auf die Stirn. Sie habe sich schon gedacht, dass ich diesem Mann keine einzige Minute eine Chance geben würde. Marion hatte etwas getrunken. Dennoch sagte sie mit fester Stimme, so könne es nicht weitergehen mit mir. Ich stimmte ihr zu. Wir beschlossen, ins Kino zu gehen, auch weil wir dort keine Möglichkeit hatten, länger über mein Desaster zu diskutieren.

Aber der Himmel war höher

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