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Nach diesem ersten Bürotag hatte ich eine unbändige Lust, ins Fitnessstudio zu gehen. Ich wollte auf das Laufband. Aus Angst, ich könnte den Herausforderungen dieses Jobs körperlich nicht gewachsen sein, kaufte ich mir gleich eine Jahreskarte für das Studio. Sie war ein Sonderangebot und wirklich sehr günstig.

Marion lästert ja über mich, weil ich das Bandlaufen so liebe. Sie meint, meine Neigung zum Laufband mache mein abnormes Verhältnis zur Welt sichtbar. Neben der Kunst lasse ich nichts wirklich gelten. Welcher gesunde Mensch mit ausgeglichenem Verstand käme sonst auf die Idee, rastlos auf der Stelle zu treten, wenn er einen Park vor der Haustür hat, sagt sie. Ich subsumiere eben alles unter Bilder, auch die Natur, sagt Marion. Selbst das Laufband sei für mich eine Metapher, die mir klarmachen soll, dass auch ich nicht wirklich vorankäme, sagt sie.

Aber das stimmt so nicht. Ich mag das Laufen auf dem Band seines Kicks wegen, den es auslöst, jedenfalls bei mir. Denn nach etwa fünfzehn Minuten Laufen habe ich mich derart auf der Stelle eingelaufen, dass ich die Studiosituation um mich herum vergesse. Nach 50 Minuten wird das Bandlaufen dann eine Herausforderung durchzuhalten, nach spätestens 90 Minuten höre ich auf und gehe mit weichen Knien vom Band und spüre und denke nichts mehr. Und eben diesen Zustand mag ich.

Heute probierte ich erstmalig die neuen Laufsocken aus, die ich in Washington gekauft hatte. Max hatte mir zu dieser Sorte geraten, und Max verstand etwas von Laufsocken. Schließlich läuft er viel länger als ich. Wir haben uns beim Laufen auf dem Campusgelände kennen gelernt. Damals war ich mit einem Kunststipendium in Buffalo. Und weil wir häufig zusammen liefen, fühlte sich Max ein wenig verpflichtet, zu meiner Präsentation in der Buffalo Hall zu erscheinen. Ich hatte ihm, während wir die Runden drehten, davon erzählt. Eher aus Höflichkeit blieb er dann auch zum Empfang. Dort erzählte ich von meiner großen Wohnung in Berlin und dass ich sie gelegentlich vermiete, behauptete Max. Ich erinnerte mich nicht. Ich erinnere mich selten, was ich so vor mich hinerzähle auf Empfängen. Auch Max selbst hatte ich beinahe vergessen, als seine Mail mit der Anfrage kam, ob er bei mir zwei Zimmer mieten könne. Natürlich sagte ich zu. Denn die Aussicht, dass er für zwei Jahre käme, würde bedeuten, dass ich für zwei Jahre meine Mietfrage gelöst hätte und mein Atelier behalten könnte.

Max war auf Suche nach Streichinstrumenten aus den volkseigenen Beständen der zahlreichen DDR-Orchester. Er hoffte, wenigstens eine oder zwei Stradivaris unter den Geigen zu entdecken. Auch ein Violincello von Guarneri oder Rugeri hoffte er zu finden. Doch die Sammlung aus der ehemaligen DDR enthielt nichts wirklich Großes, wie mir Max irgendwann enttäuscht gestand. Aber er wollte nicht aufgeben. Daher dehnte er seine Nachforschungen auf die ehemaligen Ostblockstaaten aus, wofür er aus New York auch tatsächlich Gelder bekam. So wurden aus zwei Jahren letztlich vier. Er reiste viel durch ehemalige Volksrepubliken von Warschau bis Bukarest, von Moskau bis Alma Ata. Bald kannte er Osteuropa besser als ich.

Erst allmählich begriff ich: Max war auf der Suche nach dem perfekten Klang. In den Geigen von Stradivari meinte er, ihm nahe zu sein.

Da er in der ehemaligen Sowjetunion, was die Stradivaris betraf, am fündigsten wurde, reiste er immer wieder dort hin. Meist nicht länger als eine Woche. Er hörte auf Anhieb, ob ein Instrument echt war. Er brauchte keine Expertise, hat er mir des Öfteren nicht ohne Stolz gesagt.

Dass ich dann gerade zu der Zeit, als seine Gelder für Berlin endgültig ausliefen, ein Stipendium in Washington bekam, nahmen wir als ein Geschenk des Himmels. Denn Max wollte auch nach Washington. Noch von Berlin aus mietete er das Haus, in dem auch ich dann wohnte.

Ich war erst kurz, bevor Max nach Berlin kam, bei einem der bekanntesten Kunsthändler Deutschlands gelandet. Und ich hatte Glück. Er hatte viel versprochen, und er hatte alles gehalten, was er zwischen der ersten und der zweiten Flasche Bordeaux gesagt hatte. Er hat mich als Malerin in Deutschland auf den Markt gebracht. Auch den Neuen Deutschen Kunstpreis habe ich bekommen. Er hatte ihn mir in jener Nacht, da wir zusammensaßen, in die Hand versprochen. Nein, ich habe nicht mit ihm geschlafen. Die Bedingungen seines Handels waren viel weiterreichender. Er verlangte, dass ich alle von mir auf dem Markt befindlichen Bilder zurückholte. Schließlich waren es nicht sehr viele, wie er beschwichtigend sagte. Womit er recht hatte. Je schneller ich das tun würde, hatte er in jener Nacht gesagt, desto schneller könne er alles Nötige in die Wege leiten, um den Ballon steigen zu lassen. Denn er wollte mich als die Sensation jenes Jahres der gelehrten und nicht gelehrten Kunstwelt präsentieren. Nur müsste wirklich alles vom Markt genommen sein. Eine Panne könne er sich nämlich nicht leisten. Und die Bedingung für diesen Preis war nun einmal, dass der Anwärter noch kein einziges Bild verkauft hat.

Seine Idee war, mich noch einmal zu erfinden.

»Anna Hausen, die Überlebenskünstlerin auf großen Flächen!«

So würde der Slogan heißen, sagte er in jener Nacht. Er stand auf und hielt um vier Uhr morgens eine Ansprache, die ich ein Jahr später zur Verleihung dieses Preises in einer Münchener Galerie Wort für Wort wieder hörte.

»Anna Hausen hat uns vorgeführt: je größer die Leinwand, desto größer das Versteck. Anna, die Malerin der Paradoxe! Sie hat es geschafft, sich öffentlich in aller Öffentlichkeit zu entziehen. Und zwar über Jahrzehnte.«

Er setzte sich wieder. Dann schenkte er uns Wein nach. Selbst wenn ich ihm in diesem Moment noch nicht glauben würde, sagte er. Ich werde seine Kreation sein, hat er gesagt und stieß mit mir an. Er werde daher auch meine künftigen Bilder ankaufen und zwar alle - wenn ich sie denn zustande brächte. Er lachte.

Mein Triptychon eigne sich für diesen Kunstpreis wie kein anderes Werk, sagte er. Ich könne ihm glauben. Er war von seiner Idee so begeistert, dass er aufsprang und noch eine Flasche Wein holte. Er habe Erfahrung mit Preisen, gestand er mir in dieser Nacht. Es komme darauf an, das rechte Bild zur rechten Zeit im rechten Medium anzubieten. Und immerhin habe er schon drei Jahre kein Bild mehr für irgendeinen Kunstpreis vorgeschlagen. Es war einfach nichts Aufregendendes zu finden. Und: Es spreche für mich und für meine Methode, dass er mich so spät gefunden habe. Insofern habe er auch etwas gut zu machen an mir. Ich unterschrieb und gab auch meine Zustimmung, dass er zusätzlich einen Händler beauftragte, nach meinen noch auf dem Markt befindlichen Bildern zu fahnden.

Als ich Marion damals davon erzählte, tobte sie und nannte Achim, den Kunsthändler, einen Betrüger.

»Gemalte Bilder vom Markt zu holen, um noch nicht gemalte anzukaufen. Das ist wahre Händlerlogik«, hat sie gesagt und dass sie mich nicht verstehe.

Um ehrlich zu sein, ich verstand mich auch nicht. Aber ich brauchte Geld - unter anderem, um Farben zu kaufen, denn ich wollte weitermalen, auch weil ich eingesehen hatte, dass ich nichts anderes wollte.

Außerdem stimmte, was Marion sagte, so nicht. Achim, das begriff ich langsam, erfindet seine Klientel. Nur so kann er an ihr Werk glauben, an dem er dann auch maßgeblich beteiligt ist. Denn er stellt nur aus, was er sieht. Und er sieht etwas in die Bilder hinein. Und so, wie er sie sieht, hängt er sie auch. Er wählt das Licht, und er stellt die Abfolge der Bilder zusammen. Ich habe, um ehrlich zu sein, meine Bilder nie so gesehen, wie Achim, der Kunsthändler, sie der Welt präsentiert hat. Das hat mich eine Zeit lang wirklich fasziniert. So widersinnig es klingen mag. Er hat mir die Augen für meine eigenen Bilder geöffnet. Erst viel später verstand ich, dass das der Anfang vom Ende war. Ich meine, dass er mich auf das Machbare einschwor, also auf einen Markt, wenn auch auf einen sehr exklusiven. In etwa fünf Jahren machte er aus mir eine Malerin, die zuallererst seine Erwartungen erfüllte. Und seine Erwartungen waren die seines Publikums, was ich anfangs nicht begriff. Zu begeistert war ich von seiner Fähigkeit, mir zu suggerieren, was ich könne, mehr noch, was ich wollte. Wusste doch auch ich nicht, was ich tat, wenn ich malte. Ich meine, dass ich - wenn überhaupt – nur eine dunkle Ahnung hatte von dem, was herauskam, wenn ich begann. Achim wusste das schon viel genauer. Er machte Vorschläge, und auf diese Weise machte er aus mir innerhalb von fünf Jahren seine Malerin. Das heißt, er machte aus mir einen Typ von Malerin, auf die sich sein Publikum, das nun auch meines wurde, verlassen konnte. So wie man von einer Charakterschauspielerin erwartet, dass sie ihre Rolle der gütigen Mutter immer aufs Neue spielt, und zwar möglichst perfekt, um ihr Publikum möglichst nicht zu enttäuschen. Was aber auch heißt, dass sie keine andere Rolle spielt. Denn das Publikum hat ein Bild von dieser Frau, in dem es sich wiedererkennen möchte.

Ich hielt das Laufband an. Ich war erschöpfter als sonst. Ich war zu lange gelaufen und wankte zur Erfrischungsbar. Ich bestellte mir einen großen Eiweißtrank und hatte nicht die geringste Kraft, noch an irgendein anderes Gerät zu gehen. Ich ging nicht mal mehr in die Sauna.

Auf dem Nachhauseweg kaufte ich mir die »Financial Times« und nahm die Abkürzung durch den Park. Die Wiese blühte schon. Die Jogger liefen ihren Laufweg dicht neben dem Hauptweg ein. Spätestens nächste Woche werde ich hier auch wieder meine Runde ziehen. Schon Ende Mai, wenn die Grillsaison begonnen hat, wird die Wiese von kreisrunden braunen Flecken bedeckt sein. Im letzten Jahr ist das Grillen zwar auf dem Berg, nicht aber auf den Liegewiesen untersagt worden.

Ich setzte mich auf die feuchte Bank und las die Schlagzeilen auf der Titelseite der Zeitung. Ein Squirrel rannte quer über den Gehweg. Dann ein zweites. Sie jagten einander hinterher und erinnerten mich daran, dass ich noch Macadamianüsse bei Aldi kaufen wollte. Ich wollte wissen, ob die Squirrels sie in diesem Park auch lieber fraßen als Erdnüsse. In Manhattan war es nämlich so.

Ein Windstoß fuhr durch die Blätter der Zeitung. Ihr Rascheln war den grauen Eichhörnchen Grund genug, schnell in der Baumkrone einer alten Platane zu verschwinden. Ich holte einen Rest Erdnüsse aus meiner Sporttasche, legte die Nüsse neben die Bank und ging. Seit ich an diesem Park wohne, habe ich immer Erdnüsse in irgendeiner Tasche.

Max war zufrieden mit mir damals, als mich der Kunsthändler entdeckte. Das heißt, er war froh, dass ich von diesen Künstlerhungerstipendien wegkam und finanziell unabhängig wurde. Ich war es auch. Ich konnte sogar noch einiges sparen. Das begeisterte Max mehr als mich. Denn so etwas wie Sparen war für mich nie wichtig. Wusste ich doch, worauf ich mich eingelassen hatte, als ich entschied, auch weiterhin zu malen. Wichtiger als diese finanzielle Sicherheit war, dass Achim so klar aussprechen konnte, was ich wollte. Ja, das faszinierte mich. Jedenfalls in jener Zeit. Also malte ich, was er mir einflüsterte. Nicht suggerierte. Denn nie insistierte er oder forderte gar, dass ich seinen Ratschlägen folgen sollte. Genau das war ja das Verführerische. Ich behielt immer das Gefühl, dass es meine freie Entscheidung war zu malen, was ich malte in dieser Zeit. So erfand mich Achim als Malerin tatsächlich noch einmal und etablierte mich auf dem Kunstmarkt. Ich war ein wenig berauscht vom Erfolg und malte ziemlich besinnungslos. Erst allmählich merkte ich, dass ich mich von mir entfernte. Denn ich war nicht mehr dabei, wenn ich die Farben mischte. Ich war nicht mehr aufgeregt, wenn ich die ersten Linien zog. Kein Fieber mehr, keine Angst mehr, auch keine Neugier mehr in mir. Ich wusste, dass mir das Bild gelingen würde, bevor es Konturen annahm. Da war keine Spannung. Keine Furcht oder Beklemmung, weil ich selbst nicht wusste, was da wird, bevor es auf der Leinwand oder dem Papier Kontur annahm. Es fehlte die Beschleunigung, die dem Bild eine eigene, von mir nur bedingt beeinflussbare Richtung gab. Was ich malte, wurde Routine. Handwerk. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Ich hatte gelernt von Achim, was ich zu lernen hatte, damit er meine Arbeiten als gut bis genialisch befand. Sein Zauber auf mich ließ nach. Routiniert malte ich, bis die Zeit kam, da ich Achim zu widersprechen begann. Denn irgendwann kannte ich alle seine Vorschläge und das Bild, das er von mir in die Welt gesetzt hatte, um mit seinen Worten zu sprechen. Seine Hellseherei, die mich über Jahre so fasziniert hatte, war berechenbar geworden. Da war kein Geheimnis mehr und nichts, was er mir nicht schon gesagt hätte. Ich hörte nicht mehr hin, wenn er sprach. Doch was schlimmer war, jedenfalls für mich: Ich hatte die Idee, alle Bilder zu kennen, die ich noch zu malen hatte, um meinem Publikum zu gefallen bis ans Ende aller Tage.

Ich warf mir selbst vor, undankbar gegenüber Achim zu sein. Denn inzwischen war ich eine durch den Kunsthändler - und nur durch ihn - bekannte Malerin. Aber was hieß das? Meine Bilder hatten ihr Publikum gefunden und verkauften sich. Aber ich wollte wieder Eigenes malen. Konsequenterweise hieß das, mir einen Brotjob zu suchen, um als Malerin zu überleben. Diese Idee begeisterte Max als leidenschaftlichen Amerikaner der Middleclass natürlich. Er wäre auch einverstanden gewesen, wenn ich Blumen verkauft hätte, so lange ich davon leben konnte. Denn als begeisterter Amerikaner wiederholte er in unregelmäßigen Abständen: Selbst ist der Mann, seinetwegen auch die Frau. Kaum etwas fand er erniedrigender als ein subventioniertes Leben, wie er mit stets verächtlichem Ton sagte. Das ging soweit, dass er den Gedanken vom Sozialstaat als den eigentlichen Niedergangs Europas ansah.

Aber der Himmel war höher

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