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KAPITEL 2

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27 Tennison Road, South Norwood, London

Es war etwa gegen acht Uhr am folgenden Morgen, als Chief Inspector Donald Sutherland Swanson vor dem Haus Nummer 27 Tennison Road aus einem Einspänner der Metropolitan Police stieg, der ihn und Sergeant Phelps nach South Norwood gebracht hatte. Er blieb auf dem Gehsteig stehen. Das Gewitter der Nacht war vorüber. Der Himmel war von einem klaren, hellen blau.

Die Adresse war ihm gleich vertraut vorgekommen, und nun wusste er auch warum. Während der Ermittlungen im Fall des berühmten Hope Diamanten waren sie schon einmal hier gewesen. Die Schmuckfabrik von einem der Opfer und das Haus von Arthur Conan Doyle lagen nur ein Stück weit die Straße hinauf.

Nummer 27, ein zweistöckiges Gebäude aus dem letzten Jahrhundert, sah aus, als sei es gut gepflegt worden. Die Fassade war weiß gekälkt und der schmiedeeiserne Zaun, der den mit Blumenrabatten bepflanzten Vorgarten umgab, schien frisch gestrichen zu sein.

Am Tor stand ein junger Constable in Uniform. Die Dienstnummer auf seiner Schulter verriet, dass Norwood nicht sein reguläres Revier war. Er legte zum Gruß die Hand an die Mütze. »Es ist hinten«, sagte er und wies vage in Richtung eines überdachten Durchgangs links vom Haus. »Bitte kommen Sie, Sirs.« Er hielt ihnen das Tor auf. »Ich zeige Ihnen die Gräber.«

Swanson und Phelps folgten ihm den gepflasterten Gartenweg entlang, durchquerten einen schmalen, mit Efeuranken bewachsenen Laubengang und erreichten nach wenigen Metern eine kleine, ebenfalls überdachte Veranda. Zwei Korbstühle standen darauf, und eine alte Holzkiste, die als Tisch fungierte. Alles war mit dunklen Moosflechten bewachsen und sah aus, als sei es Ewigkeiten nicht mehr benutzt worden.

War Swanson die Front des Hauses noch ausgesprochen gepflegt erschienen, so musste er zu seinem Erstaunen feststellen, dass es der Garten ganz und gar nicht war.

Vor ihm lag ein nahezu undurchdringlicher Dschungel. Ein enger Trampelpfad führte in einen Wald aus toten Apfelbäumen, deren kahle Äste mit grünen Flechten überzogen waren, und dichtem, mannshohen Dornengestrüpp.

Swanson blieb kurz stehen und blickte zur Rückseite des Hauses hinauf. Sie lag im Schatten, war, wie der Laubengang dicht mit Efeu berankt, das bis zum Giebel hinaufreichte, und wirkte so düster, als habe man ihr durch eine Art bösen Zauber einen Großteil des Lichts entzogen.

»Sir?« Der Constable hatte offenbar bemerkt, dass Swanson ihm und Phelps nicht ins Unterholz gefolgt war, und kam zurückgelaufen. Den linken Arm in Richtung des Dickichts ausgestreckt, sagte er: »Es ist dort drüben, Mr Swanson, nicht im Haus.«

Das wusste Swanson bereits aus dem Bericht. Er blickte noch immer zu den dunklen Augenhöhlen der Fenster hinauf, als er sagte: »Es ist ganz anders, als ich erwartet habe. Fällt Ihnen auf, wie dunkel es auf dieser Seite ist?«

»Nun, Sir«, sagte Peter Phelps, der neben dem Constable auftauchte. »Norden ist nicht gerade die Sonnenseite.«

Aber das war nicht der ganze Grund, dachte Swanson. Das Haus erinnerte ihn an ein Judy und Punch Kasperletheater, zu dem ihn sein Vater als Kind einmal mitgenommen hatte.

Von vorn betrachtet war alles bunt bemalt gewesen und die Figuren hatten so echt und lebendig gewirkt, dass er sich noch heute daran erinnerte, wie er mitgefiebert hatte, als das Krokodil die arme Judy gefressen und Punch dafür vom Polizisten die Prügel bezogen hatte. Swansons Vater war damals mit ihm hinter die Bühne gegangen, um dem weinenden, kleinen Donald zu zeigen, wie der Puppenspieler den Kasperl und die übrigen Figuren bewegte, und dass in Wirklichkeit niemandem etwas zugestoßen war.

Noch immer sah Swanson die schmutzig graue Rückseite des Puppentheaters vor sich, den hinter dem Vorhang stehenden alten Mann in abgetragenen Kleidern und die wie tot am Boden liegenden Figuren von Judy und Punch.

So kam ihm auch die Vorderseite dieses Hauses vor – wie eine Fassade. Aufgestellt, um nach außen hin den schönen Schein zu wahren, während seine Bewohner in Wahrheit bereits im Garten von den Würmern gefressen wurden.

»Es sieht unbewohnt aus«, sagte er bloß.

»Das ist mir auch aufgefallen.« Der Constable nickte. »Allerdings hat hier angeblich bis vor einer Woche noch ein Geschwisterpaar gewohnt.«

»Wer sind die Leute?« Alles, was Swanson wusste, war, dass sie vermisst wurden.

»Ein Mann und eine Frau namens O’Hanlon«, entgegnete er. »Sie haben keine bekannten Angehörigen. Ein Nachbar hat sie als vermisst gemeldet.«

»Ich nehme an, Sie haben bereits mit ihm gesprochen.«

»Selbstverständlich, Sir. Sobald ich den Bericht angefertigt habe, bekommen Sie ihn.«

»Vorerst wird es genügen, wenn Sie Sergeant Phelps seine Adresse geben. Dann werden wir ihn falls nötig noch einmal aufsuchen.«

»Selbstverständlich, Sir.«

»Was wissen Sie über die Vermissten?«

»Nicht viel, ehrlich gesagt. Außer, dass sie verschwunden sind, ohne jemandem Bescheid gegeben zu haben.«

»Verstehe.« Im Bericht der Kollegen war von zwei Kisten die Rede gewesen, die sie aufgrund der Vermissten­anzeige ausgegraben hatten. Ihm war nicht ganz klar, was das eine mit dem anderen zu tun hatte. »Was ich nicht verstehe ist, weshalb man uns hinzugezogen hat. Es wäre Aufgabe der örtlichen Beamten gewesen, zunächst den Verbleib der Leute zu klären.«

»Ich denke, das hat man versucht, Mr Swanson, Sir«, sagte der Constable. »Der Nachbar, der das Verschwinden der Leute gemeldet hat, klang äußerst besorgt. Das Haus wirkt verlassen. Und als man schließlich noch diese Gräber im Garten fand …« Er zuckte mit den Schultern.

»Damit ich Sie richtig verstehe«, sagte Swanson. »Man hat die Leichen nicht gefunden, oder?«

»Nein, Sir. Nur zwei Särge. Ob jemand drin liegt, werden wir erst sagen können, wenn wir sie gehoben haben. Ich habe dafür gesorgt, dass sie in den Gräbern verbleiben. Inspector Hughes und seine Constables haben sie in der Nacht ausgegraben.«

Swanson blickte zum Dickicht des Gartens. »Nun, dann führen Sie uns jetzt mal hin zu diesen Gräbern«, sagte er.

Während der junge Constable durch die dicht stehenden Sträucher voran ging, in denen die Insekten surrten, und Zweige und Äste beiseite bog, um Swanson und Phelps passieren zu lassen, sagte Phelps: »Ein Gärtner hätte hier gut und gerne sechs Monate zu tun. Man spart doch immer an der falschen Stelle.«

»Die O’Hanlons legten offensichtlich nicht allzu viel Wert auf einen gepflegten Garten«, meinte der Constable. Und Swanson, der direkt hinter ihm ging, musste einem zurückschnellenden Zweig ausweichen, um nicht im Gesicht getroffen zu werden. »Sie sollen ohnehin etwas sonderlich gewesen sein, aber gemeinhin wohl äußerst beliebt.«

Swanson wurde hellhörig. »Was genau meinen Sie mit sonderlich?«, fragte er, derweil er sich zwischen zwei Dornenbüschen hindurchzwängte.

»Sie ließen niemanden ins Haus, soviel vorab«, entgegnete der Constable. »Obwohl sie regen Kontakt zu den Nachbarn hielten. Ich habe mich ein wenig bei den Leuten hier in der Straße umgehört, und es sah wohl so aus, dass die O’Hanlons zwar regelmäßig Besuche machten, selbst jedoch nur bei gutem Wetter Gäste empfingen, die sie dann im Vorgarten bewirteten.«

»Das ist sogar mehr als sonderlich«, bemerkte Phelps, der Block und Bleistift gezückt hatte und sich mit beidem in der Hand, durch die Büsche kämpfte.

»Waren Sie bereits im Haus?«, wollte Swanson wissen.

»Ja. Gleich nachdem ich mir die Gräber angesehen hatte. Es kam mir seltsam vor, wie ungepflegt der Garten im Gegensatz zur herausgeputzten Front des Hauses aussah.«

»Und?«

»Ich sah meine Vermutung bestätigt, Chief Inspector. Es gibt weit saubere Wohnräume in den Armenvierteln von Lambeth oder Whitechapel, wo ich für gewöhnlich meinen Dienst tue. Das einzig ansehnliche an diesem Besitz ist die polierte Vorderseite.«

»Wahrscheinlich haben sie deshalb niemanden ins Haus gelassen«, bemerkte Phelps.

»Offenkundig sogar«, sagte der Constable.

»Wir werden uns das Haus von innen ansehen, sobald wir mit den Gräbern fertig sind.« Swanson strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Schnurbart. »Sagen Sie, wie kommt es, dass Sie heute hier Ihren Dienst versehen und nicht in Whitechapel?« In der Regel wurden Beamte nicht ohne Grund in eine andere Gegend geschickt. Schon gar nicht vorübergehend. Und H Division, zu der Whitechapel gehörte, war mächtig weit ab vom Schuss. »Gab es einen besonderen Grund dafür, dass man Sie nach South Norwood schickte?«

»Das weiß ich ehrlich gesagt nicht, Sir. Ich vermute allerdings, man hat nicht genügend Männer vor Ort. Ein Sergeant hält auf der Wache die Stellung. Und ich löste den Inspector und die beiden Constables ab, als ich heute Morgen herkam.«

»Demnach sind Sie hier ganz allein.«

»Ja, Sir. Leider.«

Das hatte Swanson befürchtet. Er würde bei Gelegenheit ein Wörtchen mit dem leitenden Beamten reden müssen. Einen mutmaßlichen Tatort ließ man nicht von einem einzelnen Streifenpolizisten bewachen. »Wo sind die beiden Constables und der diensthabende Inspector hingegangen?«

»Mittagessen und eine Mütze voll Schlaf nehmen, denke ich. Sie sind alle schrecklich müde und hungrig gewesen. Haben die halbe Nacht im Regen in diesem Garten verbracht und die Särge ausgegraben. Sie sahen fürchterlich aus, wie Sie sich denken können.«

Das war das Schicksal der Polizisten, dachte Swanson bei sich. Hart und entbehrungsreich. »Nur zu verständlich«, sagte er. »Dennoch hätten sie hierbleiben und auf Verstärkung warten müssen.«

»Ich weiß, Sir. Ich äußerte meine Bedenken dem Inspector gegenüber.«

»Wie reagierte er?«

»Nun, Sir – «

»Ja, Constable?«

»Ich weiß wirklich nicht, Sir …«

»Wie reagierte er?«, fragte Swanson noch einmal.

Der junge Constable blieb stehen, nahm Haltung an und räusperte sich. »Sagte, ich könne ihn mal am Arsch lecken, Sir.«

Phelps begann zu lachen, verstummte jedoch sofort, als er Swansons Blick bemerkte. »Bitte um Verzeihung, Sir.«

»Wo kann ich die Kollegen finden, wenn ich sie brauche?«

»Auf dem Revier, Mr Swanson. Ich bin sicher, sie werden sich gleich nach der Stärkung wieder auf der Wache einfinden.«

Swanson war nicht glücklich damit. Er würde später die Zeit finden, sich eingehender damit zu beschäftigen. »Wie weit ist es noch?«, fragte er.

»Wir sind gleich dort, Sir.«

Das Dickicht vor ihnen schien sich zu lichten, nur um gleich darauf wieder dichter zu werden. Nachdem sie eine kleine Anhöhe erreicht hatten, auf der eine Reihe Birken stand, kamen sie an einem verwahrlosten Tümpel vorüber, von dem ein Trampelpfad in eine leichte, ebenfalls bewaldete Senke führte.

Nach etwa zwanzig Metern erreichten sie eine kleine Lichtung.

Die freie Fläche inmitten der Bäume war nicht groß. Swanson sah gleich, was der Beamte vorhin gemeint hatte. Etwa acht bis zehn Meter vom Ende des Trampelpfads entfernt, befanden sich zwei rechteckige Löcher im Boden, die in Form und Größe an Gräber erinnerten. Daneben türmte sich das ausgehobene Erdreich auf.

Im Bericht des zuständigen Police Inspectors hatte gestanden, man habe im Garten des Anwesens zwei vergrabene Kisten unbekannten Inhalts gefunden. Doch als Swanson nun an eines der Löcher herantrat, musste er feststellen, dass es sich nicht einfach bloß um Kisten, sondern tatsächlich um Särge handelte.

Sie standen noch in den Gruben, in denen man sie gefunden hatte.

»Wie gesagt, wir haben uns nicht getraut, sie zu heben«, sagte der Constable. »Geschweige denn, sie zu öffnen. Ich war der Meinung, wir könnten unter Umständen wichtige Spuren zerstören, wenn wir das eigenmächtig in die Hand nähmen.«

»Gut der Mann«, sagte Swanson. Das kam selten genug vor. In der Mehrzahl der Fälle waren es der Übereifer und die fehlende Erfahrung der örtlichen Kollegen, die die meisten Spuren zerstörten. »Unglücklicherweise haben wir keine Kamera vor Ort, um die Bergung zu dokumentieren.«

»Das ist nicht ganz richtig, Mr Swanson, Sir«, sagte der Constable. »Ich habe mir nämlich erlaubt, eine aus dem Revier mitzubringen, da ich mir dachte, Sie kämen vermutlich ohne Photographen her. Ich habe sie sicher untergestellt, falls es wieder anfangen sollte zu regnen.« Er sah Phelps an. »Wenn Sie mir helfen würden? Das Ding ist nämlich teuflisch schwer.« Und damit verwanden er und Phelps im Gebüsch. Als sie wieder herauskamen, trugen sie einen grauen Holzkasten und ein dreibeiniges Stativ heran.

Swanson war mehr als beeindruckt. »Wie heißen Sie, Junge?«

»Wensley, Sir.« Er nahm Haltung an. »PC Frederick Porter Wensley.«

»Sie gefallen mir, Mr Wensley. Ihre Umsicht ist bemerkenswert.«

»Danke, Sir.« Er wuchs vor Stolz einen ganzen Zentimeter. »Ich gebe mir Mühe.«

Swanson nickte. »Dann machen wir uns mal an die Arbeit. Haben Sie zufällig auch zwei Seile und ein Brecheisen zur Hand, Constable Wensley?«

Inspector Swanson und das Geheimnis der zwei Gräber

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