Читать книгу Inspector Swanson und das Geheimnis der zwei Gräber - Robert C. Marley - Страница 13
KAPITEL 4
ОглавлениеDie beiden Särge standen jetzt nebeneinander im Gras.
Mit vereinten Kräften und unter Zuhilfenahme zweier Seile, die Phelps unter jedes Ende geschoben und unter dem Sarg hindurchgezogen hatte, war es ihnen gelungen, sie sicher nach oben zu befördern. Da der vierte Mann fehlte, band Constable Wensley das eine Seilende an einem Baumstamm fest, sodass er an dem anderen nur noch zu ziehen brauchte, um den Sarg anzuheben.
Swanson stemmte keuchend die Hände in die Hüften. Und auch Phelps, der sich streckte und die Hände in seinen schmerzenden Rücken presste, blies, von der ungewohnten Anstrengung aus der Puste, die Wangen auf und ließ hörbar die Luft entweichen.
Nur Constable Wensley, offensichtlich jünger oder aus härterem Holz geschnitzt, schien die schwere Arbeit nicht das geringste ausgemacht zu haben. Er war gleich daran gegangen das Holzstativ aufzustellen und den sperrigen Holzkasten der Fotokamera darauf zu montieren.
Swanson sah mit wachsendem Erstaunen zu, wie der Constable geschickt mit den Schraubverbindungen hantierte, den Magnesiumblitz vorbereitete und ein Tuch über den hinteren Teil des Kastens hängte.
»Sagen Sie mal, Wensley«, meinte Phelps, »wie haben Sie all die Sachen überhaupt hierher bekommen?«
»Nun, das ist mir etwas peinlich«, antwortete er. »Ich bat den Sergeant, mich zu fahren. Dafür musste er die Wache allerdings kurzzeitig schließen.« Wensley breitete entschuldigend die Arme aus. »Doch anders wäre es mir kaum möglich gewesen, alles rechtzeitig zur Verfügung zu haben.«
Phelps nickte schweigend. Was hätte er auch sagen sollen? Niemand, den er kannte, hätte derart vorausschauend gehandelt.
Swanson lächelte begeistert. Der junge Mann schien ein Tausendsassa zu sein. »Können Sie das Ungetüm auch bedienen?«, fragte er und wies auf die Kamera. Es handelte sich um ein speziell für Tatortfotos konstruiertes Gerät, dessen Gehäuse sich kippen ließ, um Photographien sowohl von vorne, als auch von oben schießen zu können. Er hatte gesehen, wie speziell ausgebildete Beamten damit umgegangen waren, hatte jedoch selbst nie eine bedient.
»Ja, Sir«, entgegnete Wensley, mit einem Blick, als sei ihm die Tatsache etwas peinlich. »Ich machte dereinst einen Lehrgang bei einem professionellen Photographen, als ich ein paar Tage frei hatte. Die Photographie ist mittlerweile sogar eines meiner Steckenpferde geworden. Ungemein faszinierend«, fügte er hinzu. Dann stellte er sich hinter den Apparat und warf sich das Tuch über den Kopf. »Augen schließen, bitte.«
Das Magnesiumpulver verbrannte explosionsartig in seiner Schale und blendete die Männer, die ihre Augen lediglich mit der Hand beschirmt hatten.
Wensley zog eine Art Glasplatte aus der Holzkonstruktion und wickelte sie in ein Tuch. Dann schob er eine andere Glasplatte in den Apparat und kam dahinter hervor. »Die nächste Photographie fertige ich an, sobald die Särge geöffnet sind«, verkündete er.
»Haben Sie das Brecheisen zur Hand?«, fragte Phelps, der erfolglos an den Sargdeckeln herumgenestelt hatte. »Vernietet und vernagelt für die Ewigkeit«, stellte er fest.
»Ja, Sir.« Wensley eilte zu einem der Gebüsche, die die kleine Lichtung umstanden, und kam mit einer langen Brechstange zurück. »Damit wird es wohl gehen.«
Nach wenigen Minuten waren die Särge geöffnet. Constable Wensley schoss währenddessen unzählige Photos.
»Große Güte, wie fürchterlich«, entfuhr es Phelps, als er, zwischen den offenen Särgen stehend, auf die Toten darin hinabschaute.
Das Blitzlicht explodierte abermals zischend.
Die Leichen sahen aus, als seien sie von einem Bestatter zur letzten Ruhe gebettet worden, dachte Swanson. Offensichtlich waren es die eines Mannes und einer Frau zwischen fünfzig und sechzig. Der Mann trug einen schwarzen Sonntagsanzug und die Frau ein leichtes Sommerkleid aus grüner Seide. Beide trugen Strümpfe, aber keine Schuhe. Ihre Hände lagen ordentlich gefaltet auf der Brust, jeweils einen kleinen Strauß Wildblumen haltend.
Was jedoch ganz und gar nicht dazu passte, waren die blutigen, zertrümmerten Gesichter.
»Man hat ihnen den Schädel eingeschlagen«, bemerkte Phelps. Er räusperte sich, zog seinen Notizblock hervor und notierte die Verletzungen. »Denken Sie, das sind die O’Hanlons, Sir?«
»Schwer vorstellbar, dass es jemand anders sein könnte, finden Sie nicht, Phelps?«
»Ich dachte nur, weil man die Gesichter ja kaum noch erkennen kann.«
Phelps hatte Recht. »Jemand wird sie identifizieren müssen«, sagte Swanson. Constable Wensley hatte davon gesprochen, es gäbe keine Verwandten.
Der schleppte das Kameragestell heran und stellte es zwischen den beiden Särgen auf. »Ich werde jeweils eine Aufnahme des ganzen Torsos machen«, sagte er. »Und Detailaufnahmen der Köpfe und Hände.« Mit ein paar geschickten Handbewegungen löste er die Stellschrauben und richtete das Objektiv so ein, dass es nach unten schaute. »Augen zu, bitte.«
Und wieder zuckte ein Magnesiumblitz über die toten Leiber, die langsam die Fliegen anlockten.
»Wenn Sie mit den Aufnahmen fertig sind, Wensley«, sagte Swanson, »dann schließen wir die Särge wieder.« Er wollte, dass noch etwas übrig war, wenn sich der Polizeiarzt die Toten ansah. »Es ist verdammt warm. Wir müssen zusehen, dass wir sie kühl halten.«
»Noch ein Photo, Sir. Dann bin ich soweit fertig.« Wensley schwenkte die Apparatur nach rechts und links und machte zwei weitere Aufnahmen. Dann legten sie gemeinsam die Deckel auf die Särge zurück.
Es war unmöglich, die Leichen allein zu lassen. Trotzdem wollte Swanson unbedingt einen Blick ins Innere des Hauses werfen.
»Ich kann solange Wache halten, Sir«, sagte Wensley daraufhin. »Oder jemand läuft rasch runter zur Wache und holt Sergeant Upright her. Wenn wir Glück haben, sind die anderen Kollegen auch längst wieder eingetroffen.«
»Das bezweifle ich«, sagte Swanson. Er nahm an, zumindest der Inspector wäre unterdessen wieder am Fundort aufgetaucht, hätte er sich bereits zum Dienst zurückgemeldet. »Ist die Tür offen?«
»Nein, Sir. Allerdings habe ich den Schlüssel.« Wensley klopfte sich auf die Tasche seiner Uniformjacke.
»Dann werden Sie uns öffnen und anschließend wieder hierher zurückkehren. Ich denke, das ist ein überschaubares Risiko, das wir eingehen können. Sergeant Phelps und ich sehen uns eine Weile im Haus um. Und dann kümmern wir uns um die Verstärkung.«
»Natürlich, Sir.« Wensley führte sie durch das Dickicht zurück zum Haus.
Mittlerweile war die Wolkendecke weiter aufgerissen. Die Sonne brannte sommerlich vom nahezu blauen Himmel.
Der Constable zog einen einzelnen Schlüssel aus der Jackentasche, sperrte die Tür auf, und sie betraten das Haus von der kleinen Veranda aus.
Als sie den schmalen Korridor hinter sich gelassen hatten und in die angrenzende Küche traten, konnte Swanson sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es verlassen aussah. Nicht wie ein Haus, das bis vor Kurzem noch bewohnt gewesen war, sondern so, als seien die Eigentümer ausgezogen.
Ein Geruch hing in der Luft, als sei länger nicht mehr gelüftet worden.
In der Spüle stand Geschirr. Doch es war alt, abgestoßen und verdreckt. An einer Halterung hing ein einzelnes, verschlissenes Geschirrtuch. Die Borde darüber, in denen einmal Teller gestanden haben mussten, waren leer bis auf einen; ebenso die Haken rechts und links der Borde.
In Swansons eigenem Haus hingen die teuren Kupferpfannen daran, die Annie stets hingebungsvoll polierte, ehe sie sie nach dem Gebrauch wieder an Ort und Stelle verstaute.
Er nahm die kleine Eisenpfanne herunter, die man an einem der Haken hatte hängen lassen, und betrachtete sie. Sie sah aus, als sei sie noch vor gar nicht allzu langer Zeit benutzt worden. Sie wirkte billig und war von schlechter Qualität.
Er reichte sie Phelps, der schulterzuckend einen kurzen Blick darauf warf und sie anschließend wieder an den Haken hängte.
Swanson wandte sich zu dem jungen Constable um. »Sagen Sie, Wensley, gibt es Töpfe in dieser Küche?«
»Zwei Stück, Mr Swanson, Sir.« Er bückte sich und öffnete eine Schranktür rechts der Spüle. »Es gibt von allem nur das Nötigste. Das ist mir gleich aufgefallen. Zwei Löffel, zwei, drei Messer, die eine oder andere Kelle. In den oberen Räumen ist es nicht anders. Merkwürdig, nicht wahr?«
»Möglicherweise hatten sie vor, wegzuziehen«, sagte Peter Phelps. »Ohne jemandem etwas davon zu sagen. Und haben bis auf das Notwendigste alles verkauft.«
»Das war auch meine Vermutung.« Wensley schüttelte den Kopf. »Die Nachbarn sagen allerdings, das sei unmöglich. Die O’Hanlons hätten noch Pläne für die kommenden Wochen gemacht. Besuche, Arzttermine, dergleichen.«
»Und dennoch sieht ihr Haus aus, als sei es bereits vor längerer Zeit verlassen worden«, stellte Swanson fest, nachdem sie sich im geräumigen Wohnzimmer, das nach vorn zur Straße hin lag, und dem daneben liegenden Salon umgesehen hatten. Die Schränke waren leer. Nur in den Regalen standen noch einige Bücher.
Im Salon stand ein runder Tisch auf Rädern, auf dem sich diverse Flaschen befanden. Swanson entkorkte sie und schnüffelte daran. Sie enthielten Sherry und Whisky.
An den Wänden, fehlten die Bilderrahmen.
Ein merkwürdiges Haus.
Swanson ging noch einmal in das Wohnzimmer zurück. Dort ließ er sich auf den Boden nieder und betrachtete mehrere Dellen, die er im Teppich entdeckt hatte. »Was meinen Sie? Sieht aus, als habe hier einmal ein Konzertflügel gestanden«, sagte er und stand wieder auf.
»Durchaus möglich«, meinte Phelps. »Oder ein Tisch.«
»Ich tippe auf den Flügel«, sagte Swanson. »Hier zwischen den zwei schmaleren Abdrücken ist der Teppich abgewetzt. Das ist die Stelle, wo sich die Pedale befinden.« Er klopfte sich die Hosenbeine ab. »Lassen Sie uns raufgehen und sehen, wie es oben ausschaut.«
Auf einem türlosen Schuhschrank im Flur lag ein Schuhlöffel, doch der Schuhschrank selbst war leer.
Eine schmale Treppe, die mit einem Teppich bezogen war, der wie das räudige Fell eines toten Straßenköters aussah, führte linker Hand in das nächste Stockwerk hinauf. Swanson bemerkte, wie verblichen die einstmals kostbaren Tapeten waren. An mehreren Stellen waren sie wenig fachmännisch ausgebessert worden oder rollten sich, vom Alter marode geworden, an den Kanten auf. Helle Stellen zeugten auch hier von den Bilderrahmen, die einmal dort gehangen hatten.
Die Treppe mündete in einen schmalen Korridor, von dem mehrere Türen abgingen.
»Es gibt jeweils ein kleines Badezimmer an jedem Ende des Flurs«, erklärte Wensley. »Auch dort ist nur das Allernötigste zu finden. Links liegt so etwas wie ein Ankleideraum – den Schränken nach zu urteilen. Und dann zwei Schlafzimmer.«
»Danke, Constable«, sagte Swanson. »Ab hier kommen wir allein zurecht. Blasen Sie Ihre Pfeife, wenn es etwas Wichtiges gibt.«
»Mach ich, Mr Swanson, Sir.« Wensley nickte, salutierte und trat ab.
Als er hörte, wie unten die Tür ging, fragte Swanson: »Was halten Sie von ihm, Phelps?«
»Patenter Bursche, Sir.« Phelps hüstelte. »Ein bisschen zu patent, wenn Sie mich fragen.«
Swanson lachte. »Ein bisschen wie Sie, Phelps, als Sie noch frisch dabei waren, finden Sie nicht? Er wird es noch weit bringen, das kann ich Ihnen sagen. Genau wie Sie, mein Freund«, fügte er hinzu.
Swanson, der schon immer der Ansicht gewesen war, das Schlafzimmer sei der Raum im Haus, der am meisten über seinen Besitzer verriet, sah sich zunächst das eine und dann das andere Schlafzimmer an.
Beide gaben nicht viel her und schienen nahezu identisch eingerichtet zu sein: Ein einfaches Bett, daneben ein Nachtschränkchen. Dazu jeweils ein schmaler Kleiderschrank mit zwei Türen.
Die Betten waren in beiden Zimmern bezogen, doch die Kleiderschänke und die Nachtschränkchen waren eine Enttäuschung. Im Zimmer des Mannes fanden sie, außer einem Holzkästchen, das Socken und Leibwäsche enthielt, nur zwei paar Hosen, ordentlich gebügelt und aufgehängt, zwei Hemden – ein weißes und ein blaues – und eine Strickjacke aus grober Wolle.
In Miss O’Hanlons Kleiderschrank hing ein einzelnes Kleid. Und selbst das schien, wie beinahe alles im Haus, seine beste Zeit seit langem hinter sich zu haben. Darüber hinaus fand sich, neben einem Kästchen mit Damenwäsche, ein Schnürleib, ein zum Kleid passendes Hütchen, von dem sich die Krempe gelöst hatte, und zwei fadenscheinige Umhängetücher.
Phelps, der sich augenblicklich das Nachtschränkchen in Mr O’Hanlons Zimmer anschaute, zog die Schublade heraus und stellte sie auf den Holzfußboden.
»Taschentücher«, sagte er. »Lauter Taschentücher, nichts weiter.« Er nahm sie einzeln heraus und entfaltete sie. Immerhin war es möglich, dass sich in ihren Falten irgendetwas versteckte, was sich als Hinweis in diesem Fall zu Nutze machen ließ.
Doch er fand nichts.
Swanson, der unterdessen den Kleiderschrank wieder schloss und sich dann auf die Knie sinken ließ, um unter den Schrank zu schauen, sagte: »Ich habe niemals zuvor ein Schlafzimmer gesehen, das so wenig Persönliches enthielt.« Ihm kam es beinahe so vor, als habe man alles entfernt, anhand dessen man auf den Charakter seiner Bewohner hätte schließen können.
»Hier ist was, Sir.« Phelps wedelte mit einem Stück Papier herum und stand auf. »Es lag unten im Nachtschrank.«
»Worum handelt es sich?« Swanson erhob sich wieder und trat zu Phelps hinüber.
»Sieht aus als handle es sich um eine Rechnung«, entgegnete er.
»Eine Rechnung wofür?«
Phelps hielt ihm das aufgefaltete Stück Papier hin.
Swanson nahm es.
Es war die Rechnung eines Schreiners, datiert auf den 10. Mai 1895 und adressiert an Mr. O’Hanlon.
Verehrter Mr O’Hanlon,
hiermit erlaube ich mir, Sie an die Zahlung der von mir für die ausgeführten Arbeiten in Rechnung gestellten Gebühr von insgesamt 35,00 Pfund Sterling zu erinnern.
Wie ich feststellen musste, haben Sie die Rechnung bislang nicht beglichen und auf keine meiner Schreiben reagiert.
Ich ersuche Sie hiermit letztmalig, den Saldo auszugleichen.
Hochachtungsvoll
Warren P. Rawlston, Tischlerei & Schreinerarbeiten
38 Barnum Street
East Acton
»Fünfunddreißig Pfund sind eine Menge Geld«, sagte Swanson. »Ich bin sicher, es handelt sich um eine größere Anschaffung.«
»Ganz sicher, Sir«, meinte Phelps. »Unter Umständen wurden Arbeiten am Haus vorgenommen und sind unbezahlt geblieben. Wenn wir Glück haben, finden wir auch die Originalrechnungen. Irgendwo müssen sie ja sein, nicht wahr?«
»Stecken Sie das ein«, sagte Swanson. »Das ist immerhin ein Anfang.«
»Und das Persönlichste im ganzen Schlafzimmer«, setzte Phelps hinzu. Er nahm das Schriftstück, faltete es wieder in der Mitte zusammen und steckte es in sein Notizbuch. »Es wäre sicher interessant herauszufinden, ob Mr Rawlston am Ende sein Geld erhalten hat.«
»Wie kommen Sie darauf, dass er es nicht hat?«
»Ganz einfach – hier ist nicht viel zu holen, nicht wahr? Bis auf das Haus selbst gibt es nichts von Wert.«
»Sie denken auch, die O’Hanlons könnten in Geldschwierigkeiten gesteckt haben?«
»Könnte immerhin sein, nicht wahr? Vielleicht hat Wensley Recht, und sie haben alles verkauft, was nicht niet- und nagelfest wahr, um sich am Leben zu halten.«
»Doch wie Sie schon sagten, immerhin hatten sie das Haus«, meinte Swanson, dem der Gedanke natürlich längst selbst gekommen war. Doch irgendetwas stimmte daran nicht. »Der Besitz scheint mir von beträchtlichem Wert zu sein. Sie hätten das Haus in dieser Lage ohne Schwierigkeiten verkaufen können.«
»Das stimmt, Sir. Wenn sie nicht umgebracht worden wären, hätten sie es möglicherweise getan. Wir sollten die Sache jedenfalls trotzdem überprüfen. Nur, um sicher zu gehen.«
»Das werden wir, Phelps«, sagte Swanson. »Sobald wir hier fertig sind und die Leichen an den Polizeiarzt übergeben haben.« Ihm war noch ein weiterer Gedanke gekommen. Einer, der ihm weitaus naheliegender erschien: Was, wenn ihr Mörder sich am Besitz der O’Hanlons gütlich getan hatte? »Ach, und Phelps?«
»Ja, Sir?«
»Schauen Sie sich weiter in den Zimmern hier unten um, ich will derweil einen Blick nach oben werfen. Vielleicht finden wir dort eine weitere Spur.«
»Wonach genau suchen wir eigentlich?«
»Draußen im Garten liegen die Eigentümer dieses Hauses. Irgendjemand wird sie ermordet und begraben haben«, sagte Swanson.
»Wer immer es war, er ist längst über alle Berge«, meinte Phelps.
»Dessen bin ich sicher. Und dennoch.«
»Und dennoch, Sir?«
Swanson strich sich über seinen Schnurbart. »Ich vermute, der Mörder hat sich eine Zeit lang im Haus aufgehalten.«
Phelps blickte ihn erstaunt an. »Wie kommen Sie darauf?«
»Immerhin mussten die Särge besorgt und die Löcher für die Gräber gegraben werden. Ich glaube nicht, dass er das alles an einem einzigen Tag geschafft hat. Die Särge auszugraben hat drei Mann den größten Teil der vergangenen Nacht gekostet. Ein einzelner Mann wird sehr viel länger dazu gebraucht haben, sie auszuheben und wieder zuzuscharren.«
Phelps schob die Schubladen wieder in das Nachtschränkchen zurück. »Kein schlechter Gedanke, Sir. Was ist mit der Herkunft der Särge?«
»Hier werden Sie wohl kaum eine Quittung dafür finden, Phelps.«
»Nein, Sir. Sicherlich nicht. Aber es könnte doch sein, jemand hat gesehen, wie sie hergebracht wurden.«
»Darum kümmern wir uns später. Halten Sie erstmal Ausschau nach etwas, das nicht den O’Hanlons gehört hat. Ein Kleidungsstück, eine Notiz, irgendetwas. Mit ein wenig Glück finden wir einen Hinweis auf ihn.« Und damit ließ er Phelps allein.
Das Zimmer, das Swanson in der nächsten Etage betrat, schien eine Art Büro gewesen zu sein. Zumindest stand ein Regal mit Büchern, ein Sekretär mit Stuhl und ein Tischchen mit Getränken darin. An der Wand davor stand ein Schuhschrank. Bis auf einen Holzkasten mit Schuhwichse und Bürsten war er ebenso leer, wie der in der unteren Etage.
Vielleicht hatte er Glück und die Rechnungen, auf die sich Mr Rawlston bezogen hatte, befanden sich darin.
Der Sekretär war vollgestopft mit Papieren. Es würde Ewigkeiten dauern, sie alle zu sichten. Er würde die Sergeants Penwood und Wilson damit betrauen.
Der Raum daneben war eine kleine Toilette. Vermutlich hatte O’Hanlon sie benutzt, wenn er hier oben gearbeitet hatte.
Swanson stieg die Treppe ganz nach oben. Dort lag der Speicher. Doch auch hier fand sich auf den ersten Blick nichts von Bedeutung. Es handelte sich um das übliche Sammelsurium von Dingen, die man außer Sichtweite verstaute, weil man sie eigentlich nicht mehr brauchte. Alte Koffer, deren Scharniere gebrochen waren, ein paar leere Bilderrahmen, eine Truhe mit mottenzerfressenen Hemden darin und einige Bücher, die in einer Ecke zwischen Holzlatten und Dachschindeln aufgestapelt waren. Keines der Bücher war von Wert. Es waren billige Romane, vor langer Zeit geschrieben von Autoren, die ihre Zeit gehabt hatten, nun aber längst vergessen waren.
Swanson sah alles durch, fand jedoch nichts davon interessant genug, um sich daran festzubeißen. Das einzig interessante, was er entdeckte, war ein Hammer.
Er lag in der äußersten Ecke der Dachschräge, und die Flecken darauf mochten Rost oder Blut sein. Auch wenn er kaum glaubte, dass es sich dabei um das Tatwerkzeug handelte, nahm er ihn an sich und wickelte ihn in eine alte Zeitung ein. Charly Stedman würde ihn sich genauer ansehen wollen.
Als Swanson die Treppe wieder hinuntergestiegen war, fand er Phelps auf den Knien liegend vor einem aufgeklappten Koffer mit Zeitungsartikeln und Ansichtskarten, den er in einem Wandschrank gefunden hatte. Eine Karte hielt er in der Hand.
»Die O’Hanlons sind ganz schön herumgekommen in der Welt«, sagte Phelps. »Die meisten Karten sind aus England und Wales. Aber einige wurden in Schottland und sogar in Europa aufgegeben. Sie sind alle von Mrs O’Hanlon geschrieben und an sich selbst adressiert worden. Und sie scheint sich für Musik begeistert zu haben. Es gibt eine ganze Sammlung von Artikeln über Konzerte.«
»Nehmen Sie den Koffer mit«, sagte Swanson. »Sicher ist sicher.«
Er zeigte Phelps den Hammer.
»Die Mordwaffe?« Phelps beäugte sie skeptisch. Stiel und Kopf des Hammers waren mit Spinnweben überzogen.
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
Als sie unten im Flur an dem Schuhschrank vorbeikamen, auf dem nach wie vor der Schuhlöffel lag, blieb Swanson stehen.
»Was haben Sie, Sir?«, fragte Phelps, den Koffer mit den Zeitungsausschnitten unter dem Arm.
»Ist Ihnen aufgefallen, was fehlt, Phelps?«
»Hier fehlt es beinahe an allem, Sir.«
»Ich meine etwas Bestimmtes. Etwas, das hier sein sollte«, sagte Swanson, nahm den Schuhlöffel und klopfte sich ein paar Mal damit in die Handfläche.
»Nein, Sir. Was denn?«
»Von allem gibt es mindestens ein Exemplar.«, sagte er. »Gerade so viel wie nötig ist, um sich versorgen zu können. Kleidung, Essen, Teller, Besteck. Doch eines fehlt völlig.«
»Und was, Sir?«
»Schuhe«, sagte Swanson. »Im ganzen Haus ist nicht ein einziges Paar zu finden. Nicht mal die Leichen tragen welche. Ich frage mich, wo sie geblieben sind.«
Im selben Moment hörten Sie in der Ferne das Schrillen von Constable Wensleys Polizeipfeife.