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Kapitel IV

Nach der schlaflosen Nacht, die der Begegnung mit dem König folgte, hatte Einhard dem Diakon Ebo bald ein sauber geschriebenes und gefaltetes Pergament gezeigt, auf dem tatsächlich missus domenicus und die Namen der beiden Männer standen. Königsboten – das waren Vertraute des Königs, die den Grafen und Herzögen in fernen Gegenden Rechenschaft abverlangten! Priester und Diakone dagegen waren die Arbeitstiere der Hofkanzlei, die morgens mitunter vor den Pfalz-Knechten aufstanden, um die Tagesgeschäfte vorzubereiten.

Es war, als hätte Gott eine Schildkröte zur Schwalbe gemacht!

»Wir reisen morgen ab«, hatte der Consiliarius betont unaufgeregt verkündet. »Bringt Eure Dinge in Ordnung und sucht Euch noch einen Schreiber aus, der keine Angst vor echten Heiden hat … Pferde bekommen wir beim Marschalk.«

So ließ Ebo die Morgenmesse der Pfalz aus und besuchte das Grab seines Großvaters. In seinen sauberen Kanzleischuhen rutschte er über schlammige Wege, die noch den Regen der Nacht hielten, bis er am Rande des Grabfeldes hinter der alten Pfalzkirche den Sandstein fand. Er kniete vor dem Grabstein seines Großvaters nieder und dankte dem Allmächtigen für seine so wundersame Erhebung. Ebos Vater hatte ihn durch Dummheit und Leichtsinn in das Elend der Hörigkeit gestürzt – der Ruhm des Großvaters als einem der letzten Begleiter des Bonifatius hatte daran nichts geändert. Und nun hatte Gott ihm endlich die Mittel gegeben, sich aus dem Jammertal hervorzuarbeiten!

Du hast über mich gewacht und nun reichst du mir abermals die Hand, Heiliger Vater, um auch den nächsten Berg zu ersteigen und dort das Licht zu finden, in dem bereits mein Großvater mit seiner Familie stand!

Bei diesen Gedanken berührte Ebo die Locke des Heiligen Bonifatius, die er in einem schlichten Messingröhrchen um den Hals trug. Nach der Ermordung des großen Missionars in Friesland hatte Ebos Großvater diese Locke vom Toten genommen; später war sie auf Ebos Vater gekommen, von dem Ebo sie wiederum erhalten hatte, neben reichlich Schulden und Racheforderungen eines Ehemanns. Die kostbare Reliquie war alles, was vom Ruhm der Eboschen Vorfahren geblieben war, die einst mit den Mächtigen des Reiches verkehrt hatten!

Ebo, immer noch mit einem Knie im Dreck, atmete tief durch. Und als riefe sein Vater aus der Düsternis der Unterwelt zu ihm, begann nun sein Ohrläppchen zu jucken: Mit einem Zupfen am Ohrläppchen hatte der Vater stets seine sinnlosen Belehrungen eingeleitet, zumal wenn er betrunken war. Das Ohrläppchenstreicheln war vorbei gewesen an Ebos zehntem Geburtstag. Ebo hatte – als einziger Sohn eines Hörigen! – Aufnahme in die Schule des Erzbischofs von Moguntia gefunden. Er schauderte, wenn er an den ungeheizten Schlafsaal der Knaben dachte, an das morgendliche Eis auf der Waschschüssel, an den Stock des Griechisch-Lehrers, der immerhin die Rücksicht gehabt hatte, den Jungen beim Abfragen nur auf die linke Hand zu schlagen und die Schreibhand zu verschonen. Dass Ebo Linkshänder war, blieb dabei unberücksichtigt; dass er Linkshänder blieb, verdankte er seiner Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen.

Aber all das hatte einen Sinn gehabt!

Denn je schneller der Schüler Ebo die Aufsätze der alten Kirchenväter aus dem Griechischen in ein anständiges Latein übertragen konnte, desto mehr Menschen waren auf seinen hellen Verstand aufmerksam geworden. Und so war hinter dem Horizont das Licht immer heller geworden: die Verheißung, die Rechte eines Freien zu erwerben und dem Hörigenstand zu entkommen. Tatsächlich hatte der Erzbischof schließlich den sechzehnjährigen Ebo später an einem Gottesdienst teilnehmen lassen, mit dem König Karl in tiefer Bewegung das Gedenken an seine verstorbene Frau, die Königin Hildegard, beging. Zu den guten Taten, die nach solchem Gedenken üblich waren, hatte Ebos Erhebung in den Stand der Freien gehört.

* * *

Später nahm er die Vesper mit Einhard ein. Der aß wenig vom geräucherten Karpfen, löffelte nur ein wenig Linsensuppe und trank einen Becher verschnittenen Weins, bevor er Ebo Einblicke in sein Inneres gab.

»Es ist wichtig, dass wir einander vertrauen, Ebo.«

»Gewiss«, stimmte Ebo zu. »Nun habt Ihr als königlicher Vertrauter im Zweifelsfall mehr Geheimnisse vor mir als umgekehrt. Also was genau meint Ihr?«

Einhard runzelte ein wenig die Stirn; Ebo war sich noch nicht darüber klar geworden, ob das ein aktives Missfallen ausdrücken sollte oder einfach zu Einhards Denkvorgängen gehörte.

»Ich galt als Freund des sax hamar, als er noch dem König diente«, sagte der Ältere schlicht und brach ein flaches Stück Roggenbrot in zwei kleine Teile.

»Ach wirklich?« Ebo überlegte. »Dann war seine Flucht oder sein Verschwinden damals für Euch eher peinlich?«

»Das könntet Ihr diplomatischer ausdrücken, guter Ebo … Ich sehe, Ihr lebt bereits ganz in Eurer neuen Rolle!«

»Verzeiht, Consiliarius«, sagte Ebo schnell. Aber worauf habe ich denn fünfzehn Jahre hingearbeitet, alter Mann? »Man sagt ja gemeinhin, bei Hofe hat man eher Verbündete als Freunde … nun ja.«

»Mag sein«, sagte Einhard etwas gutmütiger. »Deshalb rede ich nun auch vertraulich mit Euch, Diakon. Also: Der Gedanke, Teil von etwas zu werden, das mit der Tötung Arnulfs endet, behagt mir nicht. Es muss andere Möglichkeiten geben, versteht Ihr?«

Ebo knetete seine Hände, wachsam, nachdenklich. »Dann hat der König Euch eben deshalb für diese Mission ausgesucht. Ja, ich beginne es zu verstehen!«

»Was?«

»Er weiß, Ihr wollt diesem Sachsen-Hammer nicht wirklich wehtun. Und der Hammer weiß das auch … Umso eher bekommt Ihr sein Vertrauen! Und dann bin da ich, ein Diakon mit einem Ziegenhirten-Vater, einer mit Ehrgeiz – ich betrete dann zur gegebenen Zeit mit dem Dolch im Gewande die Bühne … übrigens, habt Ihr dem Erzkapellan gesagt, ich hätte magna ambitio11?«

Einhard blinzelte und legte das Brotstück auf die Tafel zurück. »Das musste ich ihm nicht sagen, Diakon. Weil es jeder weiß!«

Ebo schnaubte unwillig und blickte zum Aufsager hinüber, der in einer Ecke des Refektoriums auf einem kleinen Podest den Essern aus den Kapiteln »Könige« der Heiligen Schrift vorlas. Die Taten König Davids freilich wurden immer mehr vom Gelärme der Essenden und dem Poltern der Küchenhilfen überdeckt; ein speckiger Bursche mit tropfender Nase und offenstehendem Mund grunzte neben Einhard etwas und füllte ihre Becher auf.

»Ihr habt kaum getrunken«, sagte Einhard in versöhnlichem Ton.

»Der Trunk«, entgegnete Ebo, »vernebelt die Sinne der Menschen und lässt sie dem Teufel folgen. Sagt, Einhard: Glaubt Ihr, dass der Teufel die Dummheit erfunden hat? Um es unseren Seelen schwerer zu machen, der Stimme des Herrn zu folgen?«

Einhard lachte auf. »Damit überstrapaziert Ihr den Einfluss des Leibhaftigen! Nein, lassen wir den Beschränkten ihre Schranken, Gott kann sie niederlegen, wenn ihm danach ist!«

»Kann Gott das und will er es? Wie zuversichtlich Ihr redet«, entfuhr es Ebo. Sie tauschten einen Blick, der nichts klärte. »Aber zurück zu Eurem ehemaligen Freund«, fuhr der Diakon rasch fort. »Im Vordergrund steht, dass der Herrscher ihn büßen lassen will, scheint mir. Wobei Karl ihn wohl nicht unbedingt zu seinen Füßen haben will, denn wenn Arnulf diese Sachen mit seiner Frau verbreitet, dann …«

»Eben!«, unterbrach ihn Einhard. »Deshalb müssen wir einen Zwischenweg finden. Der dem jungen Karl ebenfalls eine Rolle gibt. Bei Hof sollte der Eindruck entstehen, dass Arnulf sich dem Sohn des Königs unterwirft, bereut und dann – wer weiß? – womöglich eine neue Aufgabe empfängt.«

»Träumt weiter«, sagte Ebo rau und biss von einem Stück Rettich ab. »Der König wirkte eher, als würde er diesen Arnulf über einem Kohlebecken rösten wollen! Was ist übrigens mit dessen Ehefrau, mit der der König … Ihr wisst schon! Ist sie wirklich mit dem Westfalen-Herzog Widukind verwandt?«

»Ja.« Einhard brauchte einen Augenblick, die Respektlosigkeit des Jüngeren zu verdauen. »Sie ist die Halbschwester Widukinds. Ich selbst habe ihr einst die Dreifaltigkeit erklärt und manches andere! Heute glüht in ihr ein Glaube, der verändern und helfen will. Ja, sie ist der Welt zugetan!«

»Und Ihr scheint sie auch zu mögen«, sagte Ebo mit einem listigen Blick. »Wäre das ein Ansatzpunkt? Habt Ihr Einfluss auf sie?«

»Das nicht, aber …« Einhard lehnte sich nun ein wenig zurück. Die hellen, klaren Augen – fand Ebo – passten nicht unbedingt in dieses furchige Knittergesicht. »Wir haben im nördlichen Sachsen eine neue Rebellion, wir hören von erschlagenen Priestern! Erika, Arnulfs Frau, kann das nicht gutheißen! Ihm selbst dürfte es peinlich sein, ja! Und deshalb werden sie uns auch Gehör schenken.«

Ein paar Schritt neben ihnen lachte jemand auf. Es waren Kanzlisten, die schon vorher hinübergeschaut hatten. Wie ertappt wurden sie ruhig, als Ebo sie musterte.

»Die Sache mit dem jungen Karl«, raunte der Diakon. »Glaubt Ihr auch, dass er noch … noch zeugen wird?«

Einhard wischte sich Mund und Bart mit einem Lappen ab. »Er ist gerade einmal fünfundzwanzig, wenn ich’s recht erinnere. Da ist noch vieles möglich. Was ist mit Euch? Habt Ihr Kinder?«

»Wie das denn? Mit wem?«, stieß Ebo aus und merkte, dass er Einhard zu nah an sich heranließ. »Bis vor einigen Jahren habe ich noch Schulden meines Vaters abgezahlt«, fügte er etwas ruhiger hinzu. »Ich hätte mir nicht mal ein Weib für eine Nacht leisten können!«

»Ihr seid nicht die Sorte, die zu Huren geht«, sagte Einhard halblaut und gleichsam versöhnlich.

Ebo lächelte nichtssagend und begann, seine Fingernägel mit einem kleinen Messer zu reinigen. Der Rest des Gesprächs waren freundliche Belanglosigkeiten.

11 Großen Ehrgeiz.

Arnulf. Der Herr der Elbe

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