Читать книгу Arnulf. Der Herr der Elbe - Robert Focken - Страница 17

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Kapitel VIII

Kinder haben andere Sorgen als Eltern.

Im besten Falle haben sie keine Sorgen. Solch eine Zeit waren die Tage, als der Krieg schon heraufzog, aber noch nichts davon in Delbende zu sehen war. Und wenn Roswith später zurückdachte, kamen ihr diese Tage wie ein letztes unbeschwertes Spiel im Sonnenlicht vor, ein lustvolles, hoffnungsvolles Miteinander, dem eine Zeit bedrückender Dunkelheit folgen sollte.

Scedrag, der Fürstensohn, war nicht allein gekommen: Er hatte zwei Krieger dabei, nur ein paar Jahre älter als Roswith. Sie wirkten recht lässig mit ihren Reitertricks und sorgfältig gekämmten Haaren, begegneten ihr gleichwohl mit der gebotenen Zurückhaltung. Dass sie ihr hinterherstarrten, wie Roswiths Freundin Gea vermerkte, gefiel Roswith.

Dann war da Agila: eine ungewöhnlich hübsche, dunkelhaarige Frau um die zwanzig, die unter den Befreiten gewesen war. Sie war die Tochter einer Konkubine von Scedrags Vater, hieß es. Agila stand Scedrag nahe, das konnte man sehen. Aber noch deutlicher war, dass sie nicht vom selben Stand war: Wenn der Fürstensohn ritt, ging sie zu Fuß nebenher, und wenn er aß, aß sie nicht mit ihm. Roswith jedenfalls, der jeglicher Dünkel fremd war, fühlte sich von dieser etwas rätselhaften Slawin, deren große Augen etwas Wissendes, Abgeklärtes hatten, angezogen. Agila hatte im Haus des verschleppten Priesters Utrag gelebt, erzählte Scedrag, und angeblich auch an Kulthandlungen teilgenommen. Das wiederum machte sie für Roswith noch interessanter, denn Priester und Bischöfe konnte sie sich nur als Männer vorstellen – anders war es nie gewesen. So brachte Roswith der Abodritin mit jugendlicher Begeisterung immer neue fränkische Begriffe bei, sodass bald eine einfache Unterhaltung möglich wurde.

Spannender noch war, dass ihr drei Jahre älterer Bruder Grimbald immer häufiger Gea umkreiste, Roswiths sächsische Gespielin. Sie hatte nach dem Seidentuch noch einen dünnen Armring und ein Flechtband von Grimbald bekommen, außerdem dichtete er Verse für sie, über ihr blondes Haar, ihre anmutige Gestalt und – vielleicht nicht ganz der Wirklichkeit entsprechend – ihr keusches Wesen. Keusch blickte sie eigentlich nur drein, wenn Erika ihnen Bibelstellen vorlas oder im Webhaus unter Anleitung der Älteren neue Muster mit mehr als zwölf Knoten zu lernen waren. Ansonsten machte sie sogar den jüngeren Kriegern schöne Augen, wenn Roswith nicht auf sie aufpasste. »Ist doch nur ein Spiel«, befand die Freundin dann mit Verschwörermiene, blonde Strähnen zwischen den Fingern drehend. Immerhin, die Krieger waren Freie, Gea war eine Hörige: Selbst wenn eine Liebelei ins Fleischliche abrutschte und Folgen hatte, könnte sie anschließend einen Freien zum Mann nehmen.

Zumindest, wenn der Vater nicht die Vaterschaft leugnete.

Grimbald hingegen schien für etwas so Dauerhaftes wie die Ehe nicht geschaffen. Längst hatte er sich einen gewissen Ruf bei den Mädchen der umliegenden Höfe erworben: humbalung, nannte man ihn da. Das Wort war eine vielsagende Verballhornung aus ›Hummel‹ und ›Junge‹. Das Spiel mit den Blüten war prickelnd, auch für die Blume, natürlich. Tatsächlich gab es unter Roswiths Bekannten zwei Mädchen, jünger noch als sie selbst, die Kinder hatten, aber keinen Mann: Roswiths Mutter erwähnte sie gelegentlich als abschreckendes Beispiel.

Aber war ihre Mutter früher wirklich so züchtig gewesen, wie sie es einforderte? Wenn Roswith sie in einem vertraulichen Moment ausfragte, wie sie und Arnulf einander kennengelernt hatten, kamen durchaus spannende Dinge ans Licht, ohne, dass ihre Mutter ihr jemals alles erzählt hätte! Einmal, ein einziges Mal hätte ihr Vater – Jahre zuvor – fast ein paar dieser Deftigkeiten ausgeplaudert. Es war ein lauer Sommerabend gewesen, ihre Eltern hatten Wein getrunken. Zu dritt waren sie abends zur Jungfrauenquelle gelaufen, begleitet nur von Hunden und reichlich Mücken. In gelöster Stimmung hatten sie über einen älteren Burgknecht gesprochen, dessen Frau – beide waren getauft – wider Erwarten noch mit einem Kind gesegnet worden war. »Vielleicht haben sie zu lange auf die unbefleckte Empfängnis gewartet«, hatte ihr Vater gewitzelt. »Befleckt geht schneller! Wieviel Männer, liebes Weib, kanntet Ihr eigentlich vor mir?«

Erika hatte gelächelt und Roswith zugeblinzelt. »Keinen! Wahrscheinlich war ich verzweifelt. Da fiel ich auf Euch rein.«

»Nichts da«, hatte Arnulf geraunt und Erika mit einem Arm nahe an sich gezogen. »Ihr wart recht willig, wisst Ihr nicht mehr? Ich lag ja angekettet in diesem Runenmeister-Haus, bis Ihr dann …«

Sie hatte ihm den Mund zugehalten und leider hatte es keine Fortsetzung gegeben. Roswith wusste lediglich, dass beide, Vater und Mutter, aus Widukinds Lager an den Himmelsklippen16 im östlichen Westfalen geflohen waren. Erika hatte sich in den Gefangenen verliebt, was seltsam genug klang; dass aber bereits vor der Flucht engeres samantwist zwischen beiden gewesen war, hörte sie an jenem Abend zum ersten Mal – es tauchte ihre Mutter in ein neues, abenteuerlicheres Licht!

Konnte eine junge Frau überhaupt mit jungen Männern zusammen sein, ohne Unkeusches zu denken? Oder gar zu hoffen? In der Unterkunft des Gesindes war in manchen Nächten ein Stöhnen und Quietschen zu hören, wenn man rein zufällig vor den Fenstern stand, das die Fantasie zu wilden Abwegen verleitete.

Wenn Roswith also ehrlich war, verspürte sie sogar eine Prise Neid auf die Freundin: Ihre eigenen Verehrer hatten es schwerer, sie balzten unter den Augen von drei Männern! Ihr Bruder Arthur zum Beispiel trat zwar gutmütig auf, fragte aber grauenhaft öde Dinge, ob einer mit dem Schwert umgehen konnte oder wie gut er ritt. Ihr Vater wurde erst aufmerksam, wenn ein Bursche mehrere Male erschien. Die jungen Männer wurden dann schnell einsilbig und verlegen, wenn sie vor dem Kriegsherrn standen und Auskunft gaben über ihre Sippe und wem deren Loyalität galt. Und Grimbalds Spötteleien halfen sowieso niemandem.

Ihre Mutter suchte bei Festen und Feiern, die sie regelmäßig mit den Sturimarn westlich von Delbende zusammenbrachten, seit Längerem nach einer passenden Partie für Roswith. Denn so war die Sitte: Manche ihrer Freundinnen waren verheiratet worden, ohne vorher auch nur einen Händedruck mit dem Bräutigam zu tauschen.

Es war einer dieser Abende, als Gea ihr zuraunte, dass Grimmo noch mit ihr »ans Wasser« wollte. Dann gingen die beiden einen steilen Schlängelpfad hinab, der zum minne stein führte: ein größerer, flacher Stein direkt am Flussufer, mehr oder weniger abgeschirmt vor neugierigen Blicken durch Schilf und einen entwurzelten Baum, den ein Hochwasser dort abgelegt hatte. Roswith langweilte sich folglich, bis sie Arthur und Scedrag sah, wie sie durch das Tor schlenderten. Sie nahm sich ein Herz und lief ihnen hinterher.

»Nehmt Ihr mich mit?«

Ihr ältester Bruder grinste nur und legte ihr den Arm auf die Schulter, sodass sie sich einen Augenblick wieder wie die kleine Schwester fühlte. Scedrag hingegen blieb stehen, streifte die sorgfältig gekämmten Haare nach hinten und sah ihr direkt in die Augen:

»Sollen wir Euch ein Pferd holen, junge Herrin?«

Der Abodrit hatte eine tiefe und gleichzeitig melodische, warme Stimme.

Sie spürte seinen Blick irgendwie bis in die Brust und sogar noch weiter unten.

»Nein, ich laufe gerne. Aber danke!«

Sie statteten den Marktleuten einen Besuch ab, spaßten mit einem, der Katzen verkaufte, ließen sich die Zukunft aus der Hand lesen und aßen ein Stück gebratenen Aal. Dann zogen sie ans Ufer, an der kieseligen Stelle nahe den Bootsstegen, wo Vogelknochen und Treibholz herumlagen. Die tief stehende Sonne ließ ihre Gesichter noch einmal aufleuchten und Scedrag lächelte sie an, einfach so – das Kleine-Schwester-Gefühl verflog mit der Geschwindigkeit eines Sturmvogels. Sie mochte seine männlich eckigen Züge, in denen auch stets ein gewisses Wohlwollen lag!

»Heh, Scedrag, ist das Treibholz dort ein schönes Ziel?«, rief Arthur plötzlich. »Worum wetten wir?« Er hatte etwas entdeckt, draußen im Strom, das wie ein Floß aussah. Eine primitive Plattform für das Bewegen von Lasten in flacherem Wasser vielleicht, die einem Slawen flussaufwärts davongeschwommen war. In einer Entfernung einer halben Pfeilschussweite trieb das Holz an ihnen vorbei. Auch Scredrag starrte nun aufs Wasser, mit einem Kriegerblick.

»Jeder drei Würfe?!«, rief Arthur und musterte den anderen herausfordernd. Es war nicht ihr erstes Duell, aber nach Axtwerfen, Bogenschießen und Im-Stehen-Reiten vermutlich das Harmloseste. »Ich setze mein gutes Messer gegen Euren ­rostigen Dolch, dass Ihr nicht trefft!« Dann nahm Arthur den ersten Stein auf, visierte das Floß mit der Linken an und warf mit einer kraftvollen Bewegung, die ihn zwei Schritte vorwärts stolpern ließ.

Das Geschoss tauchte etwa fünf Schritt vor dem Floß ein.

Die nächsten Würfe gingen links und rechts vom Ziel nieder.

»Skizan!«

Scedrag hatte einen würfelförmigen, schwarzen Stein aufgesammelt. Lässig warf er ihn mit der offenen Handfläche ein paar Mal hoch, etwa so, wie man einen Klumpen Gold in der Hand wiegt, jede Bewegung begleitet von einem leisen, feinen Klingeln der Glöckchen.

»Ich möchte mit Euch wetten, junge Herrin.«

»Mit mir?« Da war ein Flattern in ihrer Brust.

Arthur lachte: »Sie wirft so weit, wie Ihr einen Kirschkern spuckt!«

»Ihr sollt auch nicht werfen, Roswith«, sagte Scedrag schnell. »Aber wenn ich treffe, dann möchte ich Euer Komm-wieder-Band haben. Dagegen setze ich mein snuoba aus Bernstein ein, einverstanden?«

Ihr geflochtenes Lederband am Handgelenk – Gea hatte es ihr geschenkt – hatte keinen besonderen Wert; Jungfrauen tauschten solche Bänder oft mit ihrem Liebsten. Die Bernstein-Kette von Scedrag mit den fünf haselnussgroßen Steinen dagegen war kostbar.

Das Flattern wurde stärker.

»Abgemacht!«, rief sie, bevor Arthur das Ganze verderben konnte. Scedrag lächelte mit etwas gesenktem Kopf. Gegen ihre Gewohnheit hielt sie seinen Blick, während ihr Herzschlag plötzlich wie trommelnde Hufe war.

»Ihr trefft eh nicht«, murmelte Arthur noch, was geradezu verlegen klang. Scedrag warf aus dem Stand, ohne jede Vorbereitung, so als würde er dies täglich tun. Sein Stein flog höher als Arthurs und weiter und erzeugte ein trockenes »Klonk«, als er das Holz auf der Elbe traf.

Sie streifte langsam das Band ab. »Wir haben so einen Brauch«, hörte sie sich sagen, als sei eine andere Roswith in ihr aufgewacht.

»Und zwar?«

»Dass der Mann, der von einer Frau das Band bekommt, sie vorher küsst.«

Scedrag hielt inne, gerade lange genug, dass die andere, normale Roswith abtauchte und erste Scham empfand. Doch dann lachte er und gab ihr einen Kuss auf die Wange, als wäre das selbstverständlich. Dass es bei den Abodriten auch einen Brauch gebe, fügte er halblaut hinzu. »Für den ersten Kuss muss man etwas geben, das einem lieb ist.« Dann nestelte er den Verschluss der Kette auf und so bekam sie doch noch sein snuoba.

16 Die Externsteine im ostwestfälischen Kreis Lippe.

Arnulf. Der Herr der Elbe

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