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Der Abend senkte sich auf ein stilles Städtchen nieder, in den winkligen Gassen brannten bereits die Laternen, als Gerhard Brausewetter durch das grosse, alte und wuchtige Tor schritt, das noch aus der Schwedenzeit stammte.

Er zog einen Zettel hervor und suchte die Adresse, die ihm sein ehemaliger Lehrherr aufgeschrieben hatte.

„Gasse zur alten Liebe“, murmelte der etwa Achtzehnjährige mit einem heimlichen Lächeln. „Nomen est omen — — jeder Name hat seinen tieferen Sinn. Ob mir hier eine Liebe aufblühen wird?“

Er zog die breitrandige Mütze tiefer und verwegener in die Stirne, nahm das Ränzel vom Rücken und schritt schnell quer über die „Hauptgasse“, über die soeben eine Strassenbahn fuhr — — ein alter Kasten, der kaum einige Menschen fasste, davor ein struppiges, gemütlich hinzottelndes Pferdchen.

Also hier war die „Alte Liebe“. Gerhard klingelte. Zwei Frauen sassen vor den Fenstern und tauschten ihre Vermutungen aus über den „Zugereisten“.

Die Besitzerin des Hauses war eine alte Dame, die schon die hohe Nachthaube mit den weiten Zipfeln aufgesetzt hatte und wie eine Ritterdame aus längst entschwundener Zeit wirkte.

Ja, Herr Friedrich Sturm hatte das Zimmer bereits für den jungen Herrn gemietet. Sie knickste ein wenig, während sie sprach, sie schaute dem Jungen verzückt in das frische Gesicht, sie war eine liebe, alte Jungfer mit vielen Idealen, die alle in die winzige Wohnung eingesponnen waren.

Gerhard machte es sich in seinem Zimmerchen bequem.

Für heute war es natürlich zu spät, noch in das Pastorhaus zu gehen, das eine Wegstunde von dem Städtchen entfernt lag.

Morgen!

Er stand am offenen Fenster, durch das die Abendluft den Duft des nahen Waldes trug, reckte die Arme hoch und sah mit brennenden Augen in dieses Meer von Grün. Unter ihm standen blutrote Rosen in vollerblühter Pracht. Schwertlilien, sattfarbige Kinder der Iris, schwellten neben der Germanica-Hybride. Das Leben lockte um ihn mit reifen Farben wie das hohe Lied der Verheissung. Er liebte die Natur über alles. Da erwachte seine Sehnsucht und flog weit über die Alltäglichkeit hinaus in ein anderes Leben, das ihm schon so nahe stand, in ein Leben der Wunder, ungezählter Erwartungen, stolzer Träume.

Noch ein letztes Hindernis — dann trat er durch das Tor der Verheissung.

Ein strahlender Morgen folgte dem in Schönheit gestorbenen Tage. Da machte sich Gerhard auf zu dem Pastor Winkelmann.

Als er in das schlicht aber gemütlich eingerichtete Studier- und Wohnzimmer des alten Mannes trat, erblickte er vorerst nichts als einen grossen Schrank mit Büchern und eine Lange Pfeife.

Der Pastor ging seinem Besucher entgegen und empfing ihn mit Wärme und Herzlichkeit.

„Ich habe von Ihrem Schicksal gehört, Herr Brausewetter“, begann er, den Jüngling ohne viel Umschweife auf einen der gepolsterten Sessel nötigend. „Wahrlich, Ihr Geschick hat meine volle Teilnahme gefunden! Wenn Sie sich mir anvertrauen wollen . . .“

„Aber, Herr Pfarrer,“ unterbrach ihn Brausewetter lächelnd, „ich muss Ihnen doch mit grösster Dankbarkeit entgegenkommen, wenn Sie sich solche Mühe mit mir machen wollen!“

Der Pastor musterte ihn wohlwollend, sah eine Weile prüfend in das scharfgeschnittene offene Antlitz des jungen Mannes, lächelte dann vor sich hin und meinte:

„Es gehört ein ungewöhnliches Mass von Energie zu dem Entschluss, den Sie gefasst haben! Und noch mehr: wahre, aufrichtige Liebe zu den Wissenschaften!“

,,Die habe ich“, entgegnete Gerhard einfach. Der Pastor nahm eine Prise aus der alten, mit Elfenbein verzierten Dose und sah nach der grossen Wanduhr.

„Es ist bereits halb neun, ich muss jetzt meine Kinderchen unterrichten. Wenn Sie um elf Uhr wiederkommen wollten, Herr Brausewetter, könnten wir gleich heute mit dem Studium beginnen.“

„Gut, Herr Pastor, ich bin völlig einverstanden.“

„Also — dann auf Wiedersehen. Übrigens . . .“ Winkelmann hielt Gerhard, der schon an der Tür stand, fest. „Haben Sie meine Tochter schon gesehen?“

„Nein, Herr Pastor.“

„Aber da muss ich doch gleich — nein, so eine Vergesslichkeit — Lieselotte!“ rief er in den Gang hinaus.

„Väterchen?“ klang es zurück.

„Komm’ einmal herein, mein Herzchen —“

Man hörte im Nebenzimmer ein paar Tassen klappern, dann einen leichten, graziösen Schritt, und unter dem Türrahmen stand Lieselotte.

„Hier stelle ich dir den neuen Freund unseres Hauses vor — Herrn Studiosus Gerhard Brausewetter“, sagte der Alte lächelnd und deutete auf den Gymnasiasten, der sich leicht verneigte. „Dies hier, Herr Brausewetter, ist Lieselotte, meine Tochter, die seit dem Tode meiner Frau mein Hauswesen führt und mich auf meine alten Tage grenzenlos verwöhnt.“

„Aber, Vater!“ verwies sie ihn lächelnd, den Fremden mit einem flüchtigen Seitenblick streifend. Dann trat sie auf ihn zu, reichte ihm die schmale Hand und sagte Leise:

,,Seien Sie willkommen!“

„Ich danke, gnädiges Fräulein!“

Er wollte einige Worte hinzufügen, aber sie hatte, ihm schon ihre Hand entzogen und war im Nebenzimmer verschwunden.

Mit einem Blick hatte er ihre Schönheit umfasst: schlanke Glieder, rehbraune Augen, die wohl etwas dunkler erschienen, als sie waren, und schweres, blondes Haar. Der pikante helle Teint ihres Gesichts, dem zartes Rot auf beiden Wangen gesunde Frische verlieh, wurde durch das rosa Kleid noch gehoben.

Als er die Tür öffnete, um ins Freie zu gelangen, steckte Lieselotte den Kopf durch den Türspalt.

„Wird Herr Brausewetter mit uns zu Mittag essen?“ fragte sie.

,,Natürlich, mein Herzchen“, sagte der Pastor.

„Also auf Wiedersehen“, lächelte sie schalkhaft und verschwand.

Gerhard ging die Landstrasse entlang. Die Höhen ringsum waren in einen leichten Dunst gehüllt, der feiner als ein Schleier war und Weinberge und Burgruinen in bläulichen Nebel sinken liess. Gerhard ging wie im Traum und dachte unausgesetzt an das liebliche Mädchen.

Wieder tauchte vor seinem geistigen Auge ihre schlanke Gestalt auf, er sah die wunderbaren Haare. Er musste an den schmalen, blendend weissen Hals und die feine, leidenschaftliche Linie um ihre Mundwinkel denken.

Seltsam, sann er. Ist es nicht wie ein Wunder, diese keusche Mädchenblüte in dieser weltverlorenen Einsamkeit?

Er hatte bisher keine Zeit gefunden, sich mit Frauen zu beschäftigen. Als er das Gymnasium verlassen, war er zu jung gewesen, um ähnlichen Gedanken nachzuhängen. Und dann hatte ihn der Ernst des Lebens ganz beansprucht.

Er lächelte mit leisem Spott über sich selbst, als er daran dachte, dass er doch nur ein Gymnasiast war! — —

Um elf Uhr fand er sich wieder bei Pastor Winkelmann ein. Der Alte sass bereits am Tisch.

„Ich denke, wir nehmen gleich Sophokles vor“, begann er, ganz geschäftig, dabei gemütlich über die Brillengläser schielend.

Gerhard vertiefte sich sogleich in den Unterricht. Aber jeden Moment ertappte er sich selbst dabei, wie er die Augen nach der gegenüberliegenden Tür richtete, in der Hoffnung, Lieselotte zu sehen.

Aber er hörte nur ein leises Singen wie Vogelgezwitscher.

Indessen verbreitete sich Pastor Winkelmann über Inhalt und Bedeutung der Dramen, über Sophokles als Tragödiendichter überhaupt, über die Harmonie seiner Charaktere . . .

Pastor Winkelmann hatte nichts von dem Schwung, den die Begeisterung verleiht. Er lehrte in einem schwerfälligen, dogmatischen Ton. Gerhard musste an seinen Ordinarius denken, an Professor Ebers, dem sie alle, die Wissensdurstigen wie die Gleichgültigen in derselben Liebe anhingen. Wie ganz anders konnte der über Sophokles reden!

Nicht jeder, ach, nur wenige besassen die Kunst, die Jugend und ihren Durst nach Schönheit, ihre Auffassungsgabe so zu verstehen wie Erich Ebers, den seine Schüler kurzweg den ,,Vogel“ nannten. Auf breiten Schultern sass sein mächtiger Kopf mit scharf geschnittener Nase, schmalen Lippen und tief in den Höhlen liegenden Augen.

Über der hohen Stirne trug er das Haar wie Federn zurückgelegt, und so erinnerte sein Gesicht tatsächlich an einen Vogel. Wenn aber seine Augen in Begeisterung glänzten, dann war es wiederum, als sähe man in die Augen eines Raubvogels.

Solche Gedanken gingen Gerhard durch den Kopf. Kein Wunder, dass er auf die Fragen seines Lehrers zerstreute Antworten gab und seine Geduld auf eine harte Probe stellte.

„Na, Brausewetter, mir scheint fast, Sie träumen?“ fragte Pastor Winkelmann und sah seinem Schüler erstaunt ins Gesicht.

Der fuhr aus seinem Sinnen auf. Aber die Uhr schlug eben ächzend zwölf und enthob ihn so der Antwort.

Lieselotte steckte den Kopf durch die Tür:

„Darf ich den Tisch decken?“

Pastor Winkelmann blieb in seinem Vortrag stekken, sah sich um und beeilte sich zu sagen:

„Gewiss, Lissy!“

Gerhard blieb am Tisch sitzen und sah Lieselotte zu, wie sie ein Tischtuch, Teller und Bestecke in das Zimmer trug.

Aber sie warf nur einen forschenden Seitenblick nach ihm, während sie geschickt und mit reizenden Bewegungen den Tisch deckte. Sie war jünger als Gerhard Brausewetter, siebzehn vielleicht, war aber hoch aufgeschossen und kräftig und konnte wohl für älter gelten.

Während der Mahlzeit sass sie schweigsam. Der Pastor plauderte über die alten Griechen; Gerhard aber war ein unaufmerksamer Zuhörer. Entweder hielt er den Blick auf seinen Teller gebannt, oder er sah zu Lieselotte hinüber. Sie hielt meist das Gesicht dem Fenster zugewandt, wo sich ihr Blick über die grünen Wiesen hinweg in der Ferne verlor.

Nach Tisch hielt Winkelmann sein gewohntes Schläfchen, Lieselotte verschwand, und der Gymnasiast ging in den Garten.

Seltsam — dachte er. Alle jungen Mädchen sind sonst ausgelassen und lachen viel. Er hatte Lieselotte noch nicht lachen hören. Er sah sie auch in den folgenden Tagen nicht lachen. Sie blieb immer ernst und ruhig, war auch viel sicherer in ihrem Benehmen als Gerhard. Der war plötzlich von einer unklaren Unruhe ergriffen worden. Umsonst nahm er frühmorgens die Bücher vor, stützte den Kopf zwischen die Fäuste und versuchte zu arbeiten.

Es ging nicht, es wollte nicht gelingen! Die Gedanken flatterten nach allen Seiten auseinander, bis er schliesslich die Bücher in eine Ecke warf und das Haus verliess, die Höhen hinaufstieg, der Sehnsucht nach, die immer in ihm lebte, die ihn nicht mehr verliess, seitdem er hierher gekommen war — eine grosse, gewaltige, unfassbare Sehnsucht, deren dunkle Stimme er noch nicht völlig begriff.

Ein Junge liebt ein Mädel: Annemarie Land

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