Читать книгу Gesegnete Waffen - Robert Heymann - Страница 10
4. Kapitel.
Оглавление„U“ 18 gesunken am 23. Nov. 1914.
Laßt einen Kranz mich winden
Von dunklen Blüten schwer;
Kein Auge wird Euch mehr finden
Im tiefen, stillen Meer.
Aus Kerzen, die für Euch glühten
Senk‘ sich der Kranz herab.
Und streue die köstlichen Blüten
Auf Euer verlorenes Grab.
Und soll Euch Kunde bringen
Von unserem großen Leid,
Und soll Euch sagen und singen:
Daß Ihr unsterblich seid!
Ein Flügel der österreichisch-deutschen Armee ging auf Kielce zurück, der Hauptteil der deutschen Armee gegen Lodz.
Der Rückmarsch musste immer schneller erfolgen, denn die Russen suchten durch das Nachwerfen gewaltiger Menschenmassen eine Entscheidung zu erzwingen, der die Verbündeten angesichts ihrer numerischen Schwäche geschickt auswichen.
Sie wussten: Da oben in Thorn sitzt ein Mann von genialem Kombinationstalent. Ein Feldherr aus alter Prägung. Ein Mann von deutschem Schrot und Korn. Der zeichnet heute schon mit blauen Linien seinen neuen Plan in die Generalstabskarte, er und sein getreuer Eckehart Ludendorff, und schon ist das Schicksal der jetzt noch siegreichen russischen Armeen entschieden.
Oberleutnant Graf Elmingen führte mit seinen Ulanen die Spitze, die in Kielce einrückte.
Die Quartiermacher waren vorausgeeilt. Schnell wurde Unterkunft für die zu Tode ermüdeten Truppen geschaffen.
Denn auch in Kielce war kein langer Aufenthalt. Auch Kielce musste vor dem Feinde geräumt werden... und mit glühenden Augen blickte der Ulanenoffizier nach Czenstochau, das das nächste Ziel seines Rittes bilden musste.
Dort hatte sich ein Teil des Romanes im Leben seines Freundes Sandern abgespielt, dorthin war all das Sehnen und Trachten des Grafen gerichtet, denn dort. . in demselben Schlosse, das die Spionin einmal für ihre Zwecke missbräuchlich bewohnt hatte, dort saß heute die rechtmäßige Besitzerin auf eigener Scholle und las wohl klopfenden Herzens die Nachrichten von dem Rückmarsch der Deutschen.
Und die Schlossherrin von Sobieska . . .
„Kamerad, Sie träumen wohl?“ fragte der Rittmeister, der im Galopp die Hauptstraße entlang sprengte.“ Schlafen Sie sich lieber ein paar Stunden aus, Sie bekommen einen wichtigen Befehl und müssen heute Nacht noch nach Lodz aufbrechen!“
„Nach Lodz“, wiederholte der Offizier entgeistert. Vorbei war es mit den schönen Hoffnungen auf ein Wiedersehen, und dunkle Befürchtungen ballten sich in dem Herzen des seit Monaten hin- und hergepeitschen deutschen Offiziers zusammen. Doch straff richtete er sich im Sattel auf. Über allem: Über allen Hoffnungen und aller Sehnsucht, über dem Leben und über der Liebe leuchtete das eine Licht:
Die Pflicht!
„Ja, nach Lodz“, wiederholte der Rittmeister. „Sie müssen einen Fuhrpark eskortieren. Die Straßen sind schon unsicher geworden.“
Ein kurzer Gruss . . und Elmingen ritt in sein Quartier.
Ein kleines, liebes Haus vor der Stadt. Im Garten tummelte sich ein Kind, das beim Herannahen des Pferdes an die kleine Gartentüre eilte:
„Papa! Papa!“ — und dann, in das Haus laufend: „Mama! Papa kommt!“ Auf diesen Empfang hin erwartete der Oberleutnant, eine blonde deutsche Frau erscheinen zu sehen, aber unter der Türe erschien eine Dame von polnischem Äußern, mit mandelförmig geschnittenen Augen, und öffnete selber die Gartentüre, dass der Offizier einreiten konnte.
„Verzeihen Sie, meine Dame, dass ich Sie belästigen muss“, sagte der Oberleutnant, die Hand am Mützenschirm. „Ich will mich nur einige Stunden ausruhen, dann muss ich gleich wieder weiter!“
Das Kind hing an dem Kleide der Mutter und schmollte: „O, Onkel, warum bist du nicht der Papa? Dich wollte ich doch nicht. . .“
Der Offizier hob die Kleine zu sich empor und küsste sie.
„Wie gerne hätte ich dir deinen Papa gebracht, mein Kind, wie gerne. . .“ Er trat mit der Dame in das Speisezimmer. Sie hatte bereits für ein kräftiges Mahl Sorge getragen.
„Ihr Herr Gemahl kämpft wohl bei den Österreichern in der polnischen Legion, gnädige Frau?“ fragte Elmingen, den Säbel ablegend.
„Oh nein, Herr Oberleutnant! Er ist deutscher Offizier und vor einiger Zeit sogar zum Hauptmann befördert worden.“
„Berufsoffizier?“
„Reserve.“
„Und — Deutscher?“
„Sie meinen, weil ich Polin bin? Ja, er ist trotzdem Deutscher.“ Er hob das Weinglas.
„Verzeihen Sie, gnädige Frau. Er muss ein junger Hauptmann sein. Auf Ihr Wohl und auf seine glückliche Wiederkehr, meine Dame!“
Er trank auf einen Zug in hellem Durst das Glas leer. In ihre Augen traten Tränen:
„Ich weiß gar nicht, wo er sich augenblicklich aufhält. Die Tage und die Nächte sind erfüllt von brennender Sorge um ihn — und dann — man sagt, die Russen würden nach Kielce zurückkehren. . .“
„Sehr wahrscheinlich, meine Dame. Sogar sicher . . .“
„Oh mein Gott, dann bin ich verloren!“
„Als Polin? Was hätten Sie zu fürchten?“
„Alles, mein Herr, alles! Sie kennen meine Geschichte nicht!“
„Freilich, als Frau eines deutschen Offiziers . . .“
„Wenn es das nur wäre! Mein Gatte hat sich die Todfeindschaft des damaligen Gouverneurs zugezogen. Ich selber. . . ich war Mitglied eines polnischen Bundes zur Befreiung unseres armen Vaterlandes. . .“
„Ach, wären die Polen doch aufgestanden, als wir jetzt bis Warschau vorrückten. . . wären sie doch!“
„Sie sind entnervt. . . es wird alles noch anders kommen, glauben Sie mir — aber, mein Gott, was soll aus meinem Kinde werden, wenn die Russen mich wieder gefangen setzen. . .“
„Sie müssen fliehen, gnädige Frau!“
„Aber wohin?“
„Kann ich nicht Ihren Herrn Gemahl verständigen?“
„Ich weiß ja gar nicht, wo er ist! Er ist Ordonnanzoffizier bei einem Stabe und fast immer im Auto unterwegs. . . aber vielleicht wissen Sie zufällig doch. . . Hauptmann Franz Scholz . . .“
Der Oberleutnant sprang auf, dass die Gläser klirrend zusammenfuhren:
„Franz Scholz ist — ist Ihr Gatte?“
„Ja . . .“
„Mein bester Freund! Der Schwager meines Kameraden Sandern!“
„Ach — Herr Oberleutnant!“
„Nein, meine liebe gnädige Frau, Sie dürfen hier nicht bleiben. Das bin ich Ihrem Gatten schuldig! Ich werde sofort aufs Kommando gehen und die nötigen Schritte tun, dass Sie in Sicherheit gebracht werden! Sie müssen nach Lodz! Dort sind Sie geschützt! Ich gehe heute Nacht mit einem Fuhrpark nach Lodz. Es wird zwar Schwierigkeiten haben, Sie mitzunehmen, aber ich hoffe, man wird es mir gestatten!“
Sprachs, schnallte den Säbel um und stürmte hinaus.
Sie wollte ihn noch zurückhalten:
„Essen Sie doch erst etwas. . . und Sie brauchen doch ein paar Stunden Ruhe . . .“
Doch er war schon fort.
Und dann lief er von einem Kommando zum andern, bat, redete, bis er endlich die Erlaubnis hatte, die Frau und das Kind in einem eigenen Wagen in seinen Fuhrpark aufzunehmen. Er kam zurück. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Er war am Ende seiner Spannkraft.
Frau Sonja hatte zusammengepackt, was sich in Eile eben zusammenbringen ließ. Nachts, bei strömenden Regen, kam der Wagen mit requirierten Pferden vor das Landhaus.
Sie stieg mit dem schon schlafenden Kinde ein. Auf dem Kutschbock saß ein Soldat. Der fuhr mit der landflüchtigen Frau hinaus in die Finsternis.
Erst, als der Wagen durch dem fußtiefen Schmutz der polnischen Landstraße rollte und zum zweiten Mal die Heimat hinter ihr versank, kam sie zu sich.
Sie brach in Tränen aus und drückte das Kind fest an sich.
Flüchtig — ohne Heimat — ohne zu wissen, wohin — losgelöst von allen alten Verbindungen, dem Gatten fern — ... so ging es in die Nacht hinein, während in der Ferne der Donner der Kanonen anhub zu grollen . . . der Donner, der beängstigend näher kam . . . immer näher . . .
Allmählich merkte Frau Sonja an dem Knirschen vieler Räder, dass ihr Wagen zu dem Fuhrpark gestoßen war.
Ein Reiter trabte heran und schlug die Plandecke zurück —
„Gnädige Frau?“
„Ach, Herr Oberleutnant! Wie soll ich Ihnen danken!“
„Das Bewusstsein, Sie zu rechter Zeit gerettet zu haben, ist mir Dank genug! Hören Sie? Eben wird um Kielce gekämpft . . . unsere Truppen marschieren schon auf der Straße nach Czenstochau!“
„Und wir?“
„Wir fahren gegen Lodz!“
„Glauben Sie, dass ich dort meinen Gatten treffen werde?“
„Ich bin sicher, gnädige Frau! Die Stadt wird gehalten. Und wenn der Herr Hauptmann Scholz Ordonnanzoffizier ist, dann führt ihn sein Weg sicher einmal durch Lodz!“
„Ich danke Ihnen nochmals im Namen dieses unschuldigen Kindes!
„Und ich wünsche Ihnen eine geruhsame Nacht, gnädige Frau!“
Die Plandecke fiel zurück. Kommandos erschallten.
Und weiter wälzten sich die endlosen Wagenreihen, eskortiert von kampfbereiten Ulanen, auf den grundlosen Wegen dahin.
Eine geruhsame Nacht!
Nein, Frau Sonja konnte kein Auge zu tun! Sie hörte den ununterbrochenen Donner der Geschütze, und es war ihr, als wollten sich die Räder des Wagens nicht um ihre eigene Achse drehen, als müssten sie jeden Augenblick stecken bleiben in Schmutz und Morast . . .
Aber es ging weiter und weiter. . .
Kein Feind zeigte sich. Bald klangen fröhliche Soldatenlieder zu der geängstigten Frau hinüber, in deren tapferen Seele nichts mehr von den Plänen einstiger Zeit lebte.
Sie atmete nur noch für ihr Kind, sie lebte nur noch für den Gatten. Und die Befreiung Polens überließ sie männlicher Tat:
Den Deutschen, auf deren Kraft und auf deren Sieg sie vertraute, wenn auch jetzt das wechselnde Geschick des Krieges sie zwang, den Rückzug anzutreten.
Sie glaubte an die göttliche Gerechtigkeit, sie glaubte an das Walten der ausgleichenden Logik in der Weltgeschichte.
Darum musste Deutschland siegen.
Endlich, mit Morgendämmern, fiel sie in einen dumpfen Schlaf. Niemals hätte sie sagen können, wie lange sie so gefahren waren.
Im ersten Morgengrauen hörte sie plötzlich Schüsse.
Sie fuhr erschrocken auf.
Schnell ratterten die Schüsse an zu einem wütenden Salvenfeuer. Und als sie die Plandecke zurückschlug, sah sie die Eskorte des Wagens im Gefecht mit Kosaken, die eben in wilder Flucht davonjagten, während hinterher die Schüsse der Ulanen und österreichischen Dragoner — sie sah jetzt erst, dass auch solche mitritten — krachten und knallten.
Der Oberleutnant ritt heran:
„Ohne Sorge, gnädige Frau. Es war nur eine weit vorgedrungene Streifpatrouille. Wir haben ihnen die Lust zum Wiederkommen vertrieben. Nur ein ungarischer Dragoner hat dran glauben müssen“.
Sie stieg schnell aus, um zu helfen, den Armen zu verbinden. Denn bei dem ganzen Train befand sich kein Arzt und keine Schwester. Eine Kosakenkugel hatte den armen Burschen in die Brust getroffen. Schon hatten ihm Kameraden die Uniform aufgeschnitten. Aus der tödlichen Wunde quoll das Blut.
Der Oberleutnant warf einen Blick hin und sah gleich, dass die Hilfe zu spät kam.
Die junge Frau legte ihre weichen, zarten Hände auf die bloße Brust des ungarischen Reiters, ihr Mund beugte sich zu seinem Ohr nieder:
„Kann ich, darf ich etwas noch für Sie tun“?
„Mutter“, sagte der Dragoner leise. . „Mutter“! Und seine zitternden Hände suchten an einem Lederbeutel zu nesteln, den er um den Hals trug.
Frau Sonja öffnete das Säckchen. Da fiel etwas schwarze Erde auf die Brust des Sterbenden.
Über seine gebrochenen Augen huschte ein letztes Lächeln. Die Soldaten nahmen die Mützen ab.
„Er ist noch nicht tot“, sagte Frau Sonja, die vergeblich versuchte, das Blut zu stillen, das unablässig aus der Wunde strömte, aus der tödlichen Wunde.
Und mit letzter Kraft flüsterte der Sterbende:
„Ungarische Erde — hat Mutter mitgegeben — soll sterben in ungarischer Erde. . .“
Dann starb er.
Der Oberleutnant kniete nieder und sammelte mit der Sand die schwarze Erde.
Und die Kameraden gruben den Toten ein Grab. Ein Grab, wie es ein alter Bischoff nicht schöner, nicht stimmungsvoller hätte haben können.
An der Landstraße nämlich lag eine alte Kapelle. Im Innern stand eine Mutter Gottes unter einem blauen Himmel mit vielen goldenen Sternen. Und an den Wänden hingen Bilder von Heiligen, bunte und dunkle und solche, deren Zeichnungen die Zeit schon wieder ausgewischt hatte.
Den Boden dieser Kapelle hoben die deutschen Kameraden aus. In einer Stunde war die Arbeit getan.
Und dort hinein, zu Füßen der heiligen Mutter Gottes mit dem blauen Himmel und den goldenen Sternen, legten sie den toten ungarischen Dragoner. Ehe sie das Grab schlossen, streute der Oberleutnant die schwarze Erde auf die nackte Brust des Toten; die Erde Ungarns fiel auf die Wunde und deckte sie zu. Sie saugte sich voll mit dem Blute des armen, ruhmlosen Helden, der für sein ungarisches Vaterland in Polen gestorben war und nun unter ungarischer Erde den ewigen Schlaf schlief.
Auf dem Altare vor der Madonna unter dem blauen Himmel lag eine Bibel, alt und Gelb. Hinter dem Umschlag waren zwei leere Seiten.
Darauf schrieb Frau Sonja:
„Hier wurde von deutschen Soldaten ein ungarischer Reiter begraben, der für seine Heimat gefallen ist. Er trug in einem Säcklein ungarische Erde, die wir ihm auf die Brust streuten, damit er in Ungarns Erde ruhe.
Störet nicht seine Ruhe, wenn Euch Euer Seelenheil lieb ist.
Ehret das Recht des Toten!
Es ist eine Zeit, in der die Menschen zur Liebe reifen. Zu einer neuen, gewaltigen, glücklichen Liebe, der Liebe zur Erde.
Wie weit hatten wir alle uns in der letzten Zeit davon entfernt! Wie weit!
Wir haben aufgehört, die kleinen Leiden des Lebens ernst zu nehmen. Wir leben der Erde. Wir haben neue Beziehungen zu ihr entdeckt, wir haben die alte, gesegnete, gottgegebene Liebe zur Erde wiedergefunden. Die verirrten Seelen der Menschen kehren in dieser eisernen Zeit der Not und des sittlichen Erwachens in die Heimat zurück.
Zur Erde.
Und da entdecken wir plötzlich, wieviel Religion und Vaterlandsliebe wir doch in uns haben. Und wir werden ruhig und lernen, den Tod als einen Freund zu betrachten. Den Tod, der der Sendbote unserer großen Muttererde ist. Und ein heiliges Verstehen erfüllt unsere Herzen, wenn wir lesen: Der arme Kondvedsoldat hat in seinem Bündel seine ungarische Heimaterde mit sich getragen, mit sich in Kampf und Not und blutige Erfüllung. Nur die Heimat trug er mit sich. Kein Zagen, keine Furcht; die Mutter gab diesem armen Helden das Bündel, die Mutter und die Erde, nein, die Mutter-Erde ging mit ihm in die Schlacht, ließ seine Seele nicht heimwehkrank werden.
Diese Episode ist mehr als eine Kuriosität. Mehr als ein Wunder. Sie ist das hohe Lied des göttlichen Hauches im armseligen Menschenleib, und dieser arme Konvedsoldat rückt aus seiner irdischen Nichtigkeit empor zur Bedeutung eines jener alttestamentarischen Propheten, die ihrem Volke aus Felsen Quellen der inneren Rettung schlugen.“
Das schrieb Frau Sonja in die Bibel. Einmal in deutscher, einmal in polnischer Sprache. Denn die Wagen blieben lange stehen, Pferde und Menschen rasteten, sie hatte Zeit.
Der Pfarrer des Dorfes würde es lesen. Und man würde diese Blätter aufbewahren Jahrhunderte lang. Und vielleicht würde einmal, nach langer, langer Zeit, das Volk aus weiten Landen hierher ziehen an das Grab des unbekannten Dragoners, würde hier beten und den Toten heilig nennen.
Warum nicht?
Es wäre keine Gotteslästerung. Denn heilig ist immer die Vorstellung des Erhabenen. —
Es ging weiter.
Und schließlich fuhr der Wagenpark in Lodz ein.
Der Oberleutnant half Frau Sonja aussteigen. Er wollte sie nochmals begrüßen, wenn er seine Wagen untergebracht und Meldung erstattet hatte.
Frau Sonja stand allein auf dem Marktplatz. Weiber und Kinder gafften sie an.
Ein Mann, der ehemals wohl in russischen Diensten gestanden haben mochte, kam zu ihr heran.
„Soll ich sie führen?“ redete er sie auf Russisch an.
„Ich suche das Haus des Isidor Natanowitsch, eines Geschäftsfreundes meines Vaters.“
„Natanowitsch, weiß ich, “ sagte der Mann mit listigen Augenzwinkern.“ Wohnt in der Gasse, was war vor fünfzig Jahren noch mit einer Kette abgesperrt.“
Er ging voran. Sie schritten dem Judenviertel zu.
Schmutz und Schmutz. Feilschende Händler. Schreiende Kinder. Der Mann blieb stehen und zwinkerte wieder mit den Augen.
„Lapufka“, sagte er.
Lapufka . . .
Frau Sonja hätte keine Polin sein müssen, um das nicht zu verstehen. Sie hätte nicht seit früher Kindheit alle Not des ausgesogenen Landes mitmachen müssen . . .
Lapufka . . .
Wie oft sie das schon gehört hatte!
Es war das Zauberwort, durch das man in ganz Russisch Polen den Berg Sesam der Regierung zum Öffnen bringen konnte.
Lapufka war die Bezeichnung für den Bakschisch — für die Bestechungsgelder.
Mit Lapufka wurden die Polizisten von den Juden bedacht, von den Händlern, von den Bordellen, von den Dieben, von den Studenten, von allen, die mit Recht oder Anrecht diese Hydra zu fürchten hatten, die das Verbrechen und die Schande im Goldglanze der Sonne protegierte.
Sie gab. . .
Und der Mann mit der niederen Stirne und den Augen, in denen Schmach und Hinterlist lauerten, führte sie weiter durch enge Gassen und dunkle Winkel, in denen das Elend von Jahrzehnten trauerte, bis an eine Treppe.
„Hier hinauf — im ersten Stock. . . da wohnt Natanowitsch.“
Er ging seiner Wege.
Frau Sonja stieg die schmutzige Treppe hinauf, das müde Kind schleppend, und klopfte.
Ein beißender Dunst schlug ihr aus der offenen Tür entgegen. Ein Mann im Kaftan und den Silberlöckchen neben den Augen fragte sie nach ihrem Begehr.
Sie berichtete — und ward sogleich aufgenommen. Man erwies ihr Liebe und Güte. Man teilte mit ihr eine kleine Kammer . . . und für den Augenblick war Frau Sonja in Sicherheit.
Für den Augenblick.
Sie gab ihr Gepäck ab und begab sich zur Kommandantur, um nach dem Oberleutnant Graf Elmingen zu suchen.
Aber sie fand nur einen Brief mit ein paar freundlichen Zeilen.
Der Krieg hatte den Unermüdlichen schon wieder fortgerufen. Und Frau Sonja blieb allein in Lodz zurück.
Zur selben Zeit drangen die Russen in ihr Heim in Kielce ein. Sie schlugen die Bilder von den Wänden. Sie besudelten Betten und Stühle. Sie brachen die Möbel in Trümmer. Sie demolierten das Haus, sie rissen die Mauer auf, sie legten Feuer — und schließlich war von dem Heim nichts mehr übrig als ein schwelender Trümmerhaufen, der kündete, dass auch hier einst Menschen gehaust, die geliebt und gelitten hatten, aber auch Menschen die zu Bestien geworden waren.