Читать книгу Das flammende Land - Robert Heymann - Страница 5

Zweites Kapitel.

Оглавление

Der Sommer hatte in diesem Jahre trübe und mit kalten Winden eingesetzt. Als er sich aber seiner Höhe und Entfaltung näherte, da zeigte er seine ganze Pracht und Wärme. Man konnte sich kaum erinnern, jemals das Getreide so schön gesehen zu haben. Jeder Tag erwachte mit einem wundervollen blauen Himmel, jeder Abend stand mit Milliarden klarer, heller Sterne über dem gesegneten Land.

Obwohl Belgien in eigentlichem Sinne ein industrieller Staat ist, steht die Landwirtschaft auf voller Höhe. Liebkosend strich die Hand des Doktors über die vollen Ähren, die sich geschmeidig in dem leisen Winde wiegten, als er auf der Chaussee nach Malines dahinschritt. Er machte gerne große Tagestouren, und ein Marsch nach Mecheln gehörte fast in jeder Woche einmal zu seinem Programm.

Diesmal allerdings machte er schon am Reeselberg halt. Er setzte sich an dem Denkmal, das an die blutigen Ereignisse der belgischen und französischen Revolution von 1830 erinnert, in den Schatten und blickte über das Land, als ein malerisches kleines Häuschen seine Aufmerksamkeit erregte.

Es lag 3wischen Ulmen gebettet und schien einem reichen Löwener Bürger als Sommervilla zu dienen. Oder es war das Besitztum eines fleißigen kleinen belgischen Beamten, der sich nach des Lebens Dienst und Einerlei hierher zurückgezogen hatte.

Merkwürdig nur, dass man den Garten so verwildern ließ. Wilder Wein rankte sich ungepflegt an der Veranda empor. Und — seltsam — alle Fensterläden waren dicht verschlossen, die Jalousien herabgelassen.

Einige Bauernburschen gingen singend an dem einsamen Wanderer vorüber. Sie schienen in das nächste Dorf zu gehören.

Dr. Scholz redete sie in französischer Sprache an:

„Bon jour, messieurs! Könnt ihr mir sagen, wer dieses hübsche Häuschen drüben bewohnt?“

„Das wird selten besucht, mein Herr“, erwiderte einer nach einem flüchtigen Blick hinüber. „Es gehört einem französischen Grafen, der hier — je nun — der hier —“

Er verstummte. Seine Freunde brachen in ein schallendes Gelächter aus, und einer von ihnen schlug dem Sprecher auf die Schulter:

„Wie kann man nur so zimperlich sein, Pierre! Wenn Sie es interessiert, mein Herr, sollen Sie es wissen: In diesem Häuschen trifft der Herr Graf seine Liebste, eine wunderschöne Dame, die ein Geheimnis umgibt. Viele sagen, sie wäre eine Deutsche, aber ich denke mir, dann wäre sie nicht so schön. Sie sieht aus, als wäre sie in Flandern geboren . . .“

„Tölpel“, fiel ihm der ins Wort, welcher mit Pierre angesprochen worden war. „Als ob du je Gelegenheit gehabt hättest, sie aus der Nähe zu sehen! Immer kommt sie dicht verschleiert im Automobil an, und was du da sagst, ist nichts weiter als alberne Renommisterei.

Der Vorwurf schien den, dem er galt, nicht wenig zu treffen. Während sich die Burschen entfernten, ohne den Fremden noch zu beachten, entspann sich ein Streit, der immer heftigere Formen annahm.

Die geringfügige Kleinigkeit hatte die Gemüter so erhitzt, dass sich schnell zwei Parteien bildeten; und plötzlich begannen sie mitten im Felde zu raufen. Dr. Scholz sah eben, wie der, welcher Pierre hieß, etwas Blitzendes in der Luft schwang, aber schon rissen ein Dutzend Fäuste den Messerhelden nieder. Der Zwischenfall schien auf alle ernüchternd gewirkt zu haben, denn sie setzten nun ihren Weg fort, wenn die Unterhaltung auch immer noch mit welscher Lebhaftigkeit und Lautheit fortgeführt wurde.

Dr. Scholz war nicht zum ersten Mal, seit er in Belgien weilte, Zeuge solcher Auseinandersetzungen, bei denen das Messer eine Rolle spielte. Es gibt kaum ein Volk in Europa, das so schnell mit der Waffe zur Hand ist, wie das belgische, und selbst der heißblütige Bayer greift niemals so unvermittelt zum Messer, wie der belgische Bauer, von dem der flämische Historiker Vanderkindere sagt: „Nur zu oft noch spielt das Messer in unseren Dörfern eine verhängnisvolle Rolle.“

Der Lärm war verhallt und die Aufmerksamkeit des Wanderers galt wieder dem stillen Häuschen, das für ihn eine merkwürdige Anziehungskraft besaß.

Also eine geheimnisvolle Geschichte voller Romantik hegen diese weißen Mauern mit dem grünen Laubgewinde, dachte er lächelnd. Ein französischer Graf verbirgt hier vor den Augen der neugierigen Welt sein stilles Liebesglück . . .

Es war nicht Neugierde, die die Gedanken des Geschichtsforschers immer wieder in die gleiche Bahn lenkten. Es war Lust und Freude an dem romantischen Stoff, der sich da vor seiner spielerischen Phantasie erschloss, und schon sah er im Geiste das braune Reiseauto anrattern, sah einen verschwiegenen Lakaien, der blitzschnell den Schlag öffnete und der vornehmen jungen Dame aus dem Wagen half, sah den schlanken Grafen in den Garten eilen und sich über die schmale Hand der Dame neigen . . . Diesmal stand die kleine Türe offen, und sie traten beide, still und glücklich lächelnd, in das kühle Haus

Da — näherte sich nicht wirklich eine Gestalt dem Häuschen? Die Ulmen entzogen den Beobachter dem forschenden Blick, den ein Mann drüben auf dem Ackerweg rundum warf. Unwillkürlich duckte sich Dr. Scholz auch zusammen, als fürchte er, die friedliche Romanze zu stören, die dieser Sommernachmittag gebar . . .

Jetzt winkte der Mann, und nun trat ein zweiter in das Licht. Er war kleiner als sein Begleiter, auch weniger beweglich, wenngleich der vordere älter erschien.

Dr. Scholz legte die Hand über die Augen und betrachtete den zweiten, dessen Bewegungen ihn an jemanden erinnerten, er wusste nur nicht an wen.

Und obgleich jener jetzt keine Uniform trug, sondern einen eleganten Zivilanzug, erkannte er plötzlich den belgischen Leutnant.

Den Sohn des Archivrats Rambaud.

Ehe er sieh noch von seiner Überraschung erholt hatte, sah er, wie beide sich dem Häuschen näherten.

Der Ältere, der einen dunklen Spitzbart trug, schloss auf — und nun verschwanden beide im Innern.

Und das Häuschen lag wieder still und verlassen.

Der Deutsche schüttelte den Kopf. Er konnte sich gar nicht vorstellen, dass der belgische Leutnant mit der rauen Stimme und dem stechenden Blick in die Idylle des französischen Grafen verwickelt sein könnte.

Da durchschnitt ein ratterndes Geräusch die schwüle Stille des Sommertages. Ein Automobil mit verschlossenem Coupé — sogar die Vorhänge waren an den Fenstern herabgelassen — glitt gespenstisch an dem Lauscher vorüber — flitzte vorbei und bog in kühner Kurve in die Felder ein. Einem schmalen Wege folgend, arbeitete es sich bis zu der Auffahrt an dem kleinen Hause vor.

Es hielt. Und es kam genau, wie der Träumer sich das ausgemalt hatte: Ein betresster Lakai stürzte auf die Straße und öffnete den Schlag. Man sah nur einen wehenden Frauenschleier, dann fuhr das Auto weg und verschwand in einer Staubwolke.

Und das Häuschen lag wieder verschlossen und träumend da mit herabgelassenen Jalousien, als sei es verwunschen und verlassen.

Kopfschüttelnd setzte der Doktor seinen Weg eine Weile fort. Sollte es doch nicht so ganz seine Richtigkeit haben mit dem französischen Grafen? Welche Rolle spielte Leutnant Rambaud bei diesem geheimnisvollen Besuche?

Und dann der Diener!

Der war schon in dem Landhaus gewesen, ehe der Besucher gekommen war.

Aber nichts hatte seine Anwesenheit verraten. Warum versteckte er sich?

Sollte sich ein anderes Geheimnis in dem Hause verbergen als das, welches der geschwätzige Volksmund weitergab?

Unwillkürlich, ohne es zu wollen, folgte Dr. Scholz dem Weg, den das Automobil durch die Felder genommen hatte.

Und so gelangte er vor das Häuschen. Er erschrak ein wenig über sich selber, als er sich vor der Steintreppe fand. Und schnell ging er weiter, fand ein altes, halb verfallenes Gartentor und konnte sich’s nun doch nicht nehmen, in diesen reichen, verwilderten Garten einen Blick zu werfen.

An das morsche Tor gelehnt, sah er hinein. Da drinnen blühten Geranien, Rosen, Nelken in wilder Pracht. Dazwischen war Mohn in roter Glut aufgeschossen, Margueriten streckten ohne Scheu ihre unschuldigen Köpfchen durch das Wirrwarr von Blumen und Farben, und hohe Bäume breiteten schützend ihre Zweige über die vielen Pfleglinge der Sonne.

Da drang eine laute Stimme an das Ohr des Deutschen.

„Wir müssen die Pläne einfach haben“, schrie jemand. Er schrak zusammen.

Pläne??

Und wie er, sich aufstraffend, zu dem Fenster hinübersah, woher die Stimme gedrungen war, da riss jemand plötzlich heftig die Jalousie in die Höhe.

Der Kopf des Fremden wurde sichtbar. Einige Sekunden sahen sich der unfreiwillige Lauscher und der Franzose — dafür hielt ihn der Deutsche — in die Augen.

Dr. Scholz fühlte, dass der Fremde sich sein Gesicht einprägte für alle Zeiten. Er sah in ein paar finstere, lauernde Augen. Eine große vorspringende Nase gab den sonst regelmäßigen Ziegen etwas Unschönes und doch wieder Verwegenes, Romantisches. Der Mund mit den brutal gewölbten Lippen war halb geöffnet:

„Oh, là, là — voyez, mon Lieutenant!“

Jetzt erschien auch der Kopf Rambauds, verschwand aber sofort wieder und rief etwas in das Innere des Zimmers.

Daraufhin schnellte die Jalousie wieder herunter und es wurde still.

Dr. Scholz fasste seinen Stock fester und setzte nun seinen Weg fort, nicht ohne von Zeit zu Zeit einen Blick nach rückwärts zu werfen, wo das kleine Häuschen mit seiner verdächtigen Idylle immer mehr im Laubgewirr der Ulmen versank.

So dämmerte es schon, als er sich Löwen näherte.

Die ersten Häuser reckten sich über die flache Landschaft. Dort drüben lagen nach Krautäcker und Wiesen.

Ein breiter Graben lief längs der Chaussee.

Durch eine jener Ideenverbindungen, deren Zusammenhang wir niemals anzugeben vermögen, dachte der Deutsche in diesem Augenblick:

Was für prachtvolle Schützengräben das gäbe! Angenommen, dort drüben an der Waldlisiere säße der Gegner und überstriche die Felder mit Gewehrfeuer und hier drinnen lägen wir, Unsere Jungens und ich in meiner Eigenschaft als Leutnant der Reserve — holla, wir wollten’s ihnen schon zeigen . . . Schnellfeuer — und dann: Sprung! Marsch! Marsch! Gewehr zur Attacke rechts — —

Unsinn, lachte er dann über sich selber. Wie oft meine Phantasie mit dem Verstande durchgeht!

Überhaupt in diesem Lande werden wir unsere Kraft wohl nie zu erproben haben. Ein neutraler Staat . . .

Und wieder glitt sein Blick über die blühende Landschaft.

Da tönte es in seinen Ohren nach:

„Wir müssen die Pläne einfach haben!“

Er zog die Stirne kraus.

Was für Pläne? Und was ging überhaupt in diesem Häuschen vor?

. Und wer war die Dame, die so geheimnisvoll im Auto angefahren war?

Die Bäume warfen lange Schatten. Er musste sich beeilen, wollte er noch rechtzeitig zu dem Archivrat Rambaud kommen. Gerne folgte er der Einladung nicht. Aber er wollte die deutsche Erzieherin wiedersehen.

Das hatte er sich erst nur nicht gestehen wollen. Schnell ausschreitend, bog er in einen Feldweg, um abzuschneiden, als plötzlich ein scharfer kurzer Knall sein Ohr erschreckte.

Gleichzeitig pfiff etwas haarscharf an seinem Gesicht vorbei — er fuhr unwillkürlich zurück — und dann, schneller, als er sich über seine Vermutung klar werden konnte, hinein in das Feld!

Aber da schnellte schon einer hoch und mit der Geschwindigkeit der Furcht davon — immer durch die Äcker — in die hohen Ährenfelder hinein — so schnell konnte der verdutzte Doktor gar nicht nachkommen — —

Er musste es sich halblaut vorsagen, damit er’s glaubte und begriff:

Man hatte auf ihn geschossen.

Und der, welcher den Anschlag verübt, war kein anderer gewesen, als der Diener aus dem Landhäuschen, der der fremden Dame aus dem Wagen geholfen hatte . . .

Ein frevlerischer, verbrecherischer Anschlag mitten im Frieden, im Angesicht einer Stadt!

Ich werde der Polizei Mitteilung machen, dachte er im Weiterschreiten. Oder noch besser: Ich wende mich sofort an das deutsche Konsulat.

Warum schoss denn der Kerl auf mich? Warum?

„Wir müssen die Pläne einfach haben“, tönte es da wieder in seinem Ohr.

Das hatte er gehört. Und deshalb . . .

Wirklich deshalb?

Deswegen hatte man versucht, ihn aus dem Wege zu räumen? Dachte man, er hätte mehr gehört? Und durfte man von ihm Gefahr erwarten?

Etwa — weil er Deutscher war?

Er hatte den Kerl ganz deutlich erkannt, konnte ihn also mit ruhigem Gewissen anzeigen.

Aber was würde dann geschehen? Die Polizei würde eine Untersuchung einleiten. Die belgische Polizei — pah! Er musste lachen. Seit einiger Zeit war man nicht eben gut auf die Deutschen zu sprechen. Beliebt waren sie in Belgien nie gewesen. Bei den unteren Schichten nicht, weil man mit Frankreich sympathisierte und in den Deutschen einen ewig drohenden Feind sah.

In den oberen Kreisen spielten kommerzielle Gründe mit; man sah es — ähnlich, wie in der Schweiz — nicht gerne, dass der Außenhandel teilweise in deutschen Händen lag. Gar in Antwerpen! Da saßen lauter deutsche Großkaufleute, die den Engländern den Rang abgelaufen hatten.

Schatz kannte die Verhältnisse nur zu gut. Er versprach sich von dem widerwilligen. Eingreifen der Polizei nicht viel. Denn er ahnte, dass der Verbrecher Gönner hatte, die Macht besaßen.

War denn die Polizei nicht längst auf das geheimnisvolle Gartenhaus aufmerksam geworden?

Drückte sie nicht vielleicht ein Auge zu? Duldete am Ende ungesetzliche Handlungen, die mit zu einer geheimen Organisation gehörten, die das Tageslicht zu scheuen und doch den Schutz der Regierung zu genießen hatte . . .

Da konnte auch der Konsul nicht viel ausrichten. Nein, Dr. Scholz fasste einen anderen Plan. Der Angriff auf sein Leben erschien ihm plötzlich ganz unwichtig. Seine Person und seine Interessen traten in den Hintergrund angesichts eines Verdachtes, der von ihm Besitz ergriffen hatte.

Er beschloss, die Augen offen zu halten und auf eigene Faust zu handeln. Vielleicht konnte er seinem Vaterlande einen großen Dienst erweisen. Angesichts dieser Möglichkeit mussten alle persönlichen Interessen schweigen. — Jetzt bog er wieder nach der breiten Landstraße ab, die nach Löwen hineinläuft.

Eine Hupe ließ ihn umblicken. Und auf den ersten Blick erkannte er das Auto, welches vor dem kleinen Hause gehalten hatte.

Das Coupé war jetzt offen. Aber von der Dame, die darinnen saß und ihn im Vorbeifahren musterte, sah er nur eine Wolke weißer Schleier und große Brillengläser. Fast gespenstisch sah sie aus.

Wie er noch stand und ihr nachstarrte, flog etwas das aussah wie eine weiße Rose, auf die staubige Straße. Er eilte hinzu. Es war ein Taschentuch aus feinem Batist, dem ein diskretes Parfüm entströmte. In einer der spitzen und gezierten Ecken war eine gräfliche Krone eingestickt, darunter die Initialen „M. v. S.“ Ratlos stand er da — vor einem neuen Rätsel.

Das flammende Land

Подняться наверх