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Fünftes Kapitel.

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Indessen, während sich in Löwen und Brüssel eine Intrige um Dr. Hans Scholz spann, von der er noch nicht die geringste Ahnung hatte, vollzog sich weitab, an einem ganz anderen Schauplatz, an einem anderen Scholz ein düsteres Drama.

Franz Scholz hatte eben den Brief an seinen Bruder abgeschickt und kehrte nun aus seinem Bureau, das sich weit draußen vor der Stadt befand, nach Hause zurück.

Er fühlte sich nicht wohl in dieser Stadt, in den schmutzigen Straßen, zwischen den engen Häusern, in dieser lastenden Atmosphäre.

Wenn er aber sein Heim betrat, wenn er den Fuß über die Schwelle des Holzhäuschen setzte, über das sich ein wolkenloser Himmel spannte, wenn der Hund im Garten an ihm emporsprang und ihm schon von weitem ein jubelndes „Papa! Papa!“ entgegentönte, dann verflog das alles unter dem schönen Eindruck, der sich ihm da bot:

Das Landhäuschen, welches er während des Sommers bewohnte, lag an einem Bach, am Ende der Stadt. An allen Fenstern grüßten Blumen, rote, gelbe und blaue, und nun erschien auch schon ihre Königin, Sonja, in einem schmiegsamen Gewande, so einfach wie geschmackvoll. Sonja, dieses rätselhafte Wesen, halb Kind, halb Weib, halb wie ein Mädchen ohne Geheimnisse, halb wie ein Buch mit sieben Siegeln — aber immer liebenswürdig, immer bereit, den Gatten aufzuheitern, immer voll Liebe.

Und kamen die Fragen, die sich stets wiederholten und die er doch nicht missen wollte, die Fragen nach seiner Bahn und nach deren Gedeihen und nach seinen Arbeitern, und wie er sich fühle . . .

„Und denke dir, mein Schatz: meine neu gezüchteten Tulpen sind aufgegangen, und Jaro hat heute den Hund in den Schweif gezwickt, das darf Jaro nicht wieder tun, nicht wahr, mein Geliebter?“

Jaro, die Kleine, blickte mit denselben Schmachtaugen zu ihm empor, wie es Sonja konnte, wenn sie eine Dummheit begangen, und dann musste Franz Scholz halb lachend, halb mit gespielter Entrüstung eine Erklärung abgeben, dass die Hunde nicht auf der Welt seien, um in die Schweife gezwickt zu werden, und das Jaro überhaupt schon so ein großes Mädchen sei mit ihren vier Jahren, das sich mit ernsthafteren Dingen beschäftigen müsse.

Darauf Jaro mit lachendem Kindergesicht:

„Ernsthafte Dinge? Gibt es denn das?“

„Na, für dich ist das Leben noch ein einziger Scherz mit Blumen und Sonnenschein“, erwiderte Franz Scholz und hob sein Kleines empor.

Und so sah er nicht, wie sich Sonjas heitere Züge verdüsterten, hörte nicht, wie sie leise sagte:

„Ja, mein Kind, es gibt so furchtbar viel ernsthafte Dinge — so erdrückend viele . . .“

Doch dann enteilte sie, um für den Tisch zu sorgen.

Der Freund stellte sich ein, der fast nie fehlte, wenn der Hausherr kam:

Dimitrji Potocki, eigentlich noch Student, ein hochgewachsener, schlanker Mann von etwa 30 Jahren, dem das schwere dichte Haar, das schwarz und wie fruchtbares Getreide war, immer über die Stirn fiel, ein Grund, dass Jaro ihn immer mit dem Kamm zu bearbeiten suchte. Er hatte Augen, in deren Tiefe man nicht dringen konnte und die nur heiter wurden, wenn er mit Jaro spielte. Seine Bewegungen waren linkisch, sein Auftreten schüchtern. Und doch war er ein Mensch von hoher Intelligenz und reichem Wissen. Deshalb schätzte ihn auch der Deutsche, und Dimitrji hatte den Freund in alle seine Geheimnisse eingeweiht: dass er dem polnischen Klub der Befreier angehöre, dass die Saat bald reif sei . . .

Franz Scholz nahm das alles nicht sonderlich ernst. Er stand der Politik vollkommen fern und sah in den geheimen Zusammenkünften einiger Phantasten nichts als eine Spielerei, die freilich unter Umständen sehr gefährlich werden kann. Und Dimitrji war wirklich ein Phantast. Obgleich er so viel gelernt, um längst einen Beruf ausfüllen zu können, lernte er immer noch weiter:

Medizin und Philosophie und Technik — ihn interessierte jedes Gebiet in gleichem Maße und jedes suchte er zu ergründen.

In seinen Ruhestunden aber ging er in das flache Land hinaus und trat als Volksschullehrer bei den Bauern auf, deren Kinder er im Lesen und Schreiben unentgeltlich unterrichtete.

„Die Russen tun nichts für unser Volk“, sagte er. „Aber unsere Söhne und Töchter müssen lernen. Die Intelligenz und das Wissen schlagen die Schlachten der Zukunft. Man wird es an Deutschland sehen. O, man wird es an Deutschland sehen.“

Als er eintrat, wechselte Sonja mit ihm einen langen stummen Blick.

Er war bleich und wohl auch zerstreut, denn er küsste Jaro nicht wie sonst und stolperte beinahe über die Türe. Sonja wandte sich ab und legte sekundenlang den Finger auf die Lippen.

Er nickte, kaum merklich.

Aber Franz hatte zufällig seine Frau angesehen und ließ nun den Blick zu dem Freunde wandern.

So wurde er, ohne dass die beiden es merkten, Zeuge ihrer geheimen Verständigung.

Ein heißer Strom schoss durch seine Adern und kreiste sein Herz ein.

Sollte Sonja . . .?

Er bezwang sich. Darüber musste er Gewissheit haben. Es war ja sicher Torheit. Ganz gewiss. Irgendeine törichte Vorstellung hatte ihn getäuscht. Anders konnte es gar nicht sein. Da ginge doch eher die Welt aus den Fugen. .

Im Laufe der Unterhaltung verblasste das Misstrauen wieder, das augenblicklich in ihm aufgestiegen war.

Kaum aber war Dimitrji, der seltsam verstimmt gewesen war, gegangen, da erklärte Sonja, sie müsse diesen Abend wieder in den Damenklub.

„Heute ist doch gar nicht dein Abend“, erwiderte Franz gereizt.

Sie sah ihn traurig an.

„Bitte, dringe nicht in mich. Ich muss dorthin.“

„Du musst?“

„Ja, Franz, ich muss.“

„Dann sage mir, wer dich außer deinem Gatten zu etwas zwingen kann. Wer?“

„Wer? Muss dies eine Person sein? Kann nicht auch eine Sache, ein scheinbar totes Ding, Gewalt über uns haben? Ist es nicht unser Schicksal, das uns treibt und uns befiehlt, dass wir so handeln müssen, wie es vorgeschrieben steht in unserer Bestimmung? Sind wir nicht oft genug machtlos? Ja, sage Franz, hast du noch nie gefühlt, dass wir manchmal machtlos sind?“

Er sah sie betroffen an. Dachte: Was bedeutet das nur? Er forschte in ihren Augen. Die logen nicht. Sie konnten nicht lügen.

„Es ist manchmal wie ein dunkles Grauen über uns“, fuhr Sonja fort. „Wir müssen dem Untier unser Glück vorwerfen und zum Schluss vernichtet es uns selbst.“

Sie brach in Tränen aus und ging schnell aus dem Zimmer.

Er blieb betroffen stehen.

Etwas geht nicht mit rechten Dingen zu, dachte er. Sie nimmt immer alles so schwer, so namenlos schwer. Sie ist nicht umsonst Slavin. Sie gehen durch das Leben wie unter einer schweren Bürde. Das haben die Russen mit der Zeit fertiggebracht. Immer hält das Schicksal die Knute für sie bereit, meinen sie.

„Sonja! Sonja! Du bist doch mein Weib! Vertraue mir! Ich schütze dich, und wenn es gegen den Teufel selber sein müsste!“

Er eilte in ihr Zimmer.

Es war leer. Er suchte sie im ganzen Hause.

Aber sie war nirgends zu finden.

Er trat auf die Straße. Da sagte ihm einer, sie sei eben in einer Troika weggefahren.

Der Abend brach herein. Franz Scholz überlegte nicht lange. Er nahm einen Wagen und befahl dem Kutscher, sich durchzufragen. Das war nicht schwer.

Überall standen Müßiggänger, die dem Kutscher den Weg wiesen, den die Troika genommen.

Es ging aus der Stadt hinaus und dann — seltsam! — wieder hinein. Dann trafen sie die Troika. Sie war leer.

Der Kutscher wies nach einer Gasse.

Franz Scholz stieg aus und verlor sich bald in einem Gewirr jener schmutzigen Gassen und Gässchen, jener übelriechenden steinernen Kanäle, aus denen man nicht mehr herauszukommen meint, wenn man sie erst betreten hat.

Hier war es schon dunkel.

Kein Licht brannte.

Da — um die Ecke — verschwand da nicht ein Schatten?

Im Hause?

Aber die Tür war verschlossen.

Irgendwo klirrte ein Säbel.

Und nirgends ein Mensch.

Der einsame Fußgänger fröstelte.

Hier mochte das Grauen zu Hause sein, in diesen finsteren Ecken und Schluchten alten Gemäuers, wo das Verbrechen brütete. Ein Schrei . . .

Ein Schrei in der Nacht — nein, er täuschte sich nicht — ein wilder, gurgelnder Schrei . . .

Das fuhr wie ein Messer in seine Nerven . . . und wie losgeschnellt eilte er in der Richtung . . . merkte kaum, dass er über einen Hausflur stolperte . . . wieder der Schrei — Gemurmel — Säbelrasseln . . . und schleifende Schritte . . . Er stürzte weiter . . . Treppen hinab — ein Keller — ringende Gestalten . . . stumme, finstere Schatten, die sich bekämpfen — die Hölle musste hier sein . . . die Unterwelt . . . Ein Schuss . . . der Knall verlor sich . . . ein Röcheln . . . Irgendwer war gestürzt . . . aber da sah Franz im Aufblitzen des Feuers ein bleiches Gesicht, ein totenbleiches Gesicht, aus dem die Augen glühten — Sonjas Augen, und sie wehrte sich mit der Kraft der Verzweiflung gegen einen Hünen von Polizisten . . .

Wie ein Tier, wie ein wildes Tier stürzte Franz auf die beiden los . . . und sah . . . und sah, wie der Elende die schöne Frau, die geliebte Frau in die Knie drückte, sie an den Haaren fasste . . .

Und dann warf sich Franz mit seinen starken deutschen Fäusten auf den Burschen, warf sich mit der Kraft eines gereizten Löwen auf den Barbaren und schlug ihn nieder . . . Dann fühlte er etwas auf seinen Kopf niedersausen . . . etwas, das grell aufschlug . . . und etwas Warmes lief über seine Stirne, der Boden gab unter seinen Füßen nach . . . und dann fiel er pfeilschnell in Tiefen . . . in endlose Tiefen . . .

Dann wusste er nichts mehr, bis er erwachte.

Unter einem unerträglichen Schmerz erwachte.

Da sah er vier kahle Mauern, Polizisten um sich her und einer hielt ein Licht gegen seinen nackten Fuß.

Franz riss das gemarterte Glied in die Höhe und schrie auf. Und nun war er völlig bei sich.

„Gut so, Brüderchen“, sagte der eine der Polizisten. „Du bist also vernehmungsfähig. Komm, mein Söhnchen!“

Vier Arme packten ihn und schleiften ihn über Treppen und durch Gänge.

Und dann wurde er in ein helles Zimmer gestoßen. Da saßen gähnend ein paar Polizeioffiziere neben dem Gouverneur, dessen schwammiges Gesicht noch vom Weine glühte.

Und in der Mitte einige armselige, zerschlagene Gestalten. Unter ihnen Dimitrji. Als die Türe ging, wandte Dimitrji ihm das Gesicht zu. Maßloses Erstaunen flog über seine Züge. Er hob instinktiv die Hand, und einige Augenblicke schien es, als wollte er dem Freund zustürzen.

Doch schnell bezwang er sich.

Franz Scholz hatte sich, kaum dass er des Freundes ansichtig geworden, mit einem finsteren Gesicht abgewandt.

Denn nun war es ja ganz klar, dass dieser Elende an seinem Unglück schuld war. Dieser Verräter!

Mit Sonja war er abends in jenem Keller gewesen — und da hatte man sie nun beide gefangen —

Der Gouverneur hatte keinen Blick von dem Gefangenen gewandt.

„Also ihr kennt euch, Kinder?“ sagte er mit jener ruhigen, fürchterlichen Grausamkeit, die in ihrer selbstzufriedenen Behaglichkeit einen Schauer weckte. „Ihr kennt euch, nicht wahr?“

Sein Blick haftete auf dem Deutschen.

Franz Scholz reckte sich höher.

„Ich kenne diesen Mann nicht!“

„Ei, sieh an. Den Dimitrii Potocki kennst du nicht?“

„Sprechen Sie bitte nicht in diesem Tone mit mir! Ich bin Deutscher!“

Der Gouverneur schüttelte sich vor Lachen. Aber durch sein theatralisches Pusten klang die Wut über diese feste und würdige Sprache.

„Ei, sieh an, er ist Deutscher. Gerade darum, mein Söhnchen, gerade darum werde ich dich noch schlechter wie die andern behandeln, verstehst du? Ja, verstehst du? Du möchtest wohl, dass ich dich per Sie und Herr anrede, ja?“

„Der deutsche Gesandte in Petersburg wird für die unwürdige und schändliche Szene, die sich hier abspielt, Rechenschaft von Ihnen fordern.“

„Den Teufel wird er!“ brüllte der Gouverneur, während sich sein schwammiges Gesicht rot färbte. „Jawohl, den Teufel! Du hast dich an einer Verschwörung gegen den Bestand des heiligen Russland beteiligt und wirst nach russischem Gesetz abgeurteilt, verstanden? Wir sind nicht in Konstantinopel! Dort mag der deutsche Kaiser mitzureden haben. Wie lange noch? Eh — die Zeit wird es lehren.“

Franz Scholz reckte sich höher auf:

„Wollen Sie nun dieser lächerlichen Szene ein Ende machen? Ich soll einer Verschwörung angehören?“

„Lächerlich? sagtest du nicht lächerlich? Warte, mein Sohn, ich will dir den russischen Strafkodex vorlesen, soweit er für dich in Frage kommt — und auch für euch, ihr Hunde!“ wandte er sich an die übrigen Gefangenen. Daraufhin verließ er für eine Viertelstunde das Zimmer und kehrte in das — chambre séparée zurück, von wo er geholt worden war. In Kielce gab es nämlich auch ein sehr vornehmes Weinrestaurant, das hauptsächlich durch den Gouverneur und verschiedene höhere Offiziere in Gang gehalten wurde, denn sonst besuchte in Kielce niemand ein so teueres Restaurant.

„Es wird etwas länger dauern, als ich dachte, mein Täubchen“, sagte er zu der Chansonette, die ihn dort erwartete. „Ja, die Pflicht . . . wenn die Pflicht nicht wäre!“

„Na, was ist denn schon los?“ fragte die Dame in französischer Sprache.

„Eine Verhandlung, mein Täubchen. Ich muss über verschiedene Verbrecher zu Gericht sitzen!“

„Ach, wie interessant“, erwiderte die Französin.

„Bitte, mein lieber Wladimir, lass mich zuhören! Bitte, bitte!“

Wie konnte Wladimir der verehrten Dame etwas abschlagen? Er überlegte einige Augenblicke. Aber schließlich — warum sollte er nicht?

„Du bist doch hier Gouverneur und hast ganz allein zu befehlen“, sagte Madame Nichette.

In der Tat, so war es. Er war hier Alleinherrscher. O, Madame Nichette sollte sehen, welche Macht er besaß!

Schließlich — aufkommen konnte es nicht. Von den Gefangenen sah keiner das Licht des Tages wieder, und die Beamten — o, die! Er lächelte pfiffig vor sich hin. Die Beamten würden sich wohl hüten, etwas weiterzusagen. Sonst konnte er doch auch von ihnen weitererzählen . . . von dem Polizeileutnant zum Beispiel, der des Nachts manchmal kleine Kontributionen bei den Juden erhob . . . ei, ein verfluchter Kerl, dieser Leutnant! Hatte immer die Mütze schief am Kopf und Geld wie Heu!

Er ließ also Nichette in den Wagen steigen, der draußen auf ihn wartete, und fuhr nur noch kurz in der Kanzlei vor, um sich das Gesetzbuch mitzunehmen.

Das war ein Hauptspaß, die Verhandlung! Wenigstens eine Abwechs1ung in dem verfluchten Nest, wohin ihn die Gnade des Zaren gebracht hatte, nachdem man ihn in Wladiwostok wegen Unterschlagung hatte strafversetzen müssen.

Unterschlagung — na ja, so nannte man es ja nicht.

„Ein kleiner Irrtum in den Rechnungen“, hatte der inspizierende Beamte nach Petersburg gemeldet.

Das war doch nicht so schlimm . . . bei den teuren Zeiten!

Während der Gouverneur in die Kanzlei fuhr, vergnügten sich die Polizisten damit, die Gefangenen zu quälen.

Dimitrji machte einen schwachen Versuch, sich Franz zu nähern, um ihm eine Aufklärung zu geben.

Kaum aber bemerkten die Gendarmen die Bewegung, da hieben sie unbarmherzig auf den Polen mit den Nagaikas ein, dass dem das Blut über die Stirne lief.

Das konnte Franz Scholz nicht sehen. Dimitrji Potocki war sein Feind, Todfeind vielleicht, das würde sich alles noch herausstellen. Aber diese Halunken durften einen Menschen nicht so schlagen. Ein Mensch ist ein Ebenbild Gottes.

Er griff einem der Kerls an die Faust und zwang ihn mit einem Griff, der das Gelenk verdrehte, die Peitsche fallen zu lassen.

Aber sofort fielen alle über ihn her und ließen nun unbarmherzig ihre Knuten auf den Deutschen niederklatschen, während zwei schnell gerufene Soldaten den anderen Gefangenen die Mündung der Gewehre vor die Brust hielten.

Dieser widerlichen Szene machte der Eintritt des Gouverneurs ein Ende.

Franz Scholz musste auf einem Stuhl Platz nehmen, denn sein blutender Körper vermochte sich nicht aufrechtzuhalten.

Der Polizeileutnant, der inzwischen dazugetreten war, meldete etwas von „Rebellion“ und lächelte dabei die charmante Begleiterin des Gouverneurs an, der vorstellte:

„Meine Frau. Sie wünscht der Verhandlung beizuwohnen. Wir wollen also beginnen.“

Er setzte sich, Madame Nichette an seine Seite.

Jeder der Beamten wusste, dass der Gouverneur keine Frau besaß. Aber in keinem regte sich ein Gefühl des Ekels. Nicht einmal lachen konnte einer.

Es war ja selbstverständlich.

Der Gouverneur schlug umständlich den russischen Strafkodex auf.

„Also § 266: „Jeder, der eine schriftliche oder gedruckte Aufforderung verfasst, die geeignet ist, zu Aufruhr oder Ungehorsam zu verleiten, soll zum Verlust aller bürgerlichen Rechte, zur Verbannung für die Lebensdauer und zu Zwangsarbeit von nicht weniger als acht Jahren verurteilt werden.“ Er ließ seinen Blick auf den Gefangenen haften. Aber keiner verzog eine Miene.

„Weiter: § 281: ‚Wer schuldig befunden wird, Schriftstücke verfasst oder verbreitet zu haben, die sich in unerlaubter Kritik der Verordnungen und Maßregeln der Behörden ergehen, soll mit Gefängnis nicht unter achtzehn Monaten bestraft werden.‘“

Wieder eine Pause. Und mit einem lauten Gähnen nun die wichtigste Stelle in diesem fürchterlichen aller Gesetzbücher:

„Der Teil des Strafkodex, der von den Verbrechen gegen den Herrscher des Reiches“ und sein Ansehen handelt, beginnt mit der Bestimmung:

,Jeder arge Anschlag und jeder verbrecherische Angriff auf das Leben, das Wohl oder die Ehre des Zaren, jede Absicht, ihn zu entthronen, oder seine allerhöchste Gewalt in seiner freien Ausübung zu hindern oder einzuschränken, jede Gewalt gegen seine geheiligte Person soll für den Verbrecher mit Verlust aller bürgerlichen Rechte und mit der Todesstrafe verbunden sein.‘“

Er blickte auf.

„Nun?“

„Ich verstehe immer noch nicht“, ließ sich jetzt Franz Scholz vernehmen, „was diese unwürdige und abscheuliche Farce mit der Gerechtigkeit zu tun hat, und ich mache Sie darauf aufmerksam, dass meine Regierung für die so jeder Zivilisation hohnsprechende Vergewaltigung eines ihrer Untertanen Rechenschaft fordern wird.“

„Du, “ schrie daraufhin der Gouverneur, „du, ich lasse dich peitschen, bis dir die Sprache vergeht, wenn du fortfährst, mir mit deiner Regierung zu drohen! Was wollt denn eigentlich ihr Deutschen? Mit welchem Recht diese Anmaßung? Wir werden euch und euer Deutschland zu Brei zerquetschen, wenn wir erst einmal marschieren!“

„Sie wollen mich also nicht freilassen?“

„Freilassen? Ein guter Witz. Du bist gefangengenommen worden, als du dich eben in das geheime Versammlungslokal des polnischen Klubs begeben hast. Willst du das leugnen?“

Franz Scholz erschrak. Das also war es!

Er warf Dimitrji einen Blick zu, in dem sich Erstaunen, Vorwurf und Verzweiflung spiegelten.

„Du schweigst?“ warf der Gouverneur ein. „Du gibst also die Tatsache schweigend zu, und deine Blicke, die du mit dem Polen Potocki wechselst, sagen ohnehin genug. Potocki ist schon seit Monaten verdächtig. Nun, der leugnet auch gar nicht. Oder, Dimitrji Potocki?“

„Nein“, war die scharfe Antwort.

„Gut, das erleichtert die Sache. Fahren wir also fort.“

„Herr Gouverneur“, unterbrach ihn der Deutsche. „Wenn ich durch einen bösen Zufall, für den ich selbstverständlich nicht Sie verantwortlich mache, in den falschen Verdacht gekommen bin, einer verbotenen Verbindung anzugehören, dann bin ich auch bereit, mich zu verteidigen. Ich darf aber wohl bitten, dass Sie diese Verhandlung entweder in voller Öffentlichkeit durchführen oder diese Dame entfernen, die der Untersuchung jeden offiziellen Charakter nimmt und in mir kein Vertrauen auf die Gerechtigkeit der Debatte aufkommen lässt.“

Die Französin lachte frech und sah den Polizeileutnant herausfordernd an. Er hatte neben ihr Platz genommen.

Der Gouverneur gab gar keine Antwort, Er begann zunächst Dimitrji Potocki zu verhören.

Dieser gab ohne weiteres zu, einer geheimen Verbindung angehört zu haben.

„Wir sind ein treues Volk mit einer ruhmreichen Vergangenheit“, sagte er. „Und wir lassen uns von den Russen nicht ewig knechten. Zwischen Polen und Russland gibt es keine Verständigung, und die einzige Sprache, die wir beide verstehen, ist die des Hasses.“

„Aufrichtig gesprochen“, sagte der Gouverneur mit einem schrecklichen Lächeln und scheuchte den Polizisten, der den kühnen Sprecher schon anpacken wollte, mit einer Handbewegung zurück. „Weiter, edler Pole!“

„Wir verehren die Persönlichkeit“, fuhr Potocki fort, „die Russen sind Götzendiener. Mögen Sie mir hundertmal mit der Knute drohen, Herr Gouverneur, mögen Sie mir mit Folterungen und Martern die Liebe zu meinem Vaterlande auszutreiben versuchen und mich zwingen wollen, dem Zaren zu huldigen, in alle Ewigkeit werde ich Ihnen entgegenrufen:

„Nie pozwalam“ — ich will nicht!

Der Gouverneur kaute an seinem Schnurrbart.

„Zweck der Verschwörung?“

„Ein neues, einiges Polen.“

„Also ein Angriff auf die geheiligte Person Seiner Majestät des Zaren, der keinen Polen will! Und deine Mitschuldigen?“

„Die nenne ich nicht.“

„Gibst aber doch zu, dass die hier eingefangenen Leute zu dem Geheimklub gehörten?“

Potocki maß sie alle, jeden mit einem stolzen Blick. Und jeder der bleichen Männer nickte ihm zu. Dann erst erwiderte er:

„Ja — bis auf den Deutschen.“

„Äh — der soll nicht dazu gehört haben?“

„Nein.“ „Aber das gibst du doch zu, dass du sein intimster Freund bist. Oder soll ich erst den Hausmeister des Deutschen und die Zofe seiner Frau kommen lassen, dass sie es bestätigen?“

„Ich gebe zu. Aber mit unserer Verschwörung hat er nichts zu tun. Ich beteure es bei der heiligen . . .“

„Halt! Soll ich dich wegen des Meineides knuten lassen, du schlechter Kerl?“ Und sich an den Deutschen wendend:

„Also, Brüderchen Franz Scholz, du hast dem Geheimklub nicht angehört. Schön Wir wollen dir die Möglichkeit, dich zu rechtfertigen, nicht abschneiden. Also —„, hier wandte sich der Gouverneur mit einem geradezu diabolischen Blick zu dem Polizeileutnant hinüber, und der antwortete mit einem hässlichen Lächeln, als verstünde er —

„Also, nun gib uns eine glaubwürdige Erklärung und erzähle, wie es zuging, dass du in dem Keller verhaftet werden konntest. Ich will dir Glauben schenken. Erzähle: Woher kanntest du den Keller? — Wer führt dich hin? — Und was wolltest du dort? — Nun?“ Der Deutsche erschrak. So sehr, dass er nun zum ersten Male, seit er hier stand, die Farbe wechselte, dass ihn ein Gefühl der Verzweiflung und Trostlosigkeit fasste, dass er am liebsten laut aufgeschrien hätte vor Schmerz — — Er durfte es ja nicht sagen — er durfte nicht — denn nun wurde ihm alles klar — und wie Schuppen fiel es ihm von den Augen — Sonja, seine geliebte Sonja, gehörte der Verbindung an — er verriet sie, wenn er sich verteidigte, und er gab sich preis, wenn er schwieg.

Wieder sah er zu Dimitrji hinüber.

Aber der streifte ihn nur mit einem traurigen Blick, der besagte: Ich weiß alles, ich verstehe alles, aber ich kann nicht raten, noch helfen . . .

Und wieder das Lächeln des Einverständnisses zwischen dem Polizeileutnant und dem Gouverneur!

Was bedeutet dieses?

Sollten sie ahnen. .?

Ach, ihm sollte bald eine schaurige Gewissheit werden!

Das flammende Land

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