Читать книгу Madonnenländchen - Robert Mirco Tollkien - Страница 6
Der Anfang am Rhein
ОглавлениеAls ich Klaus Maderer kennenlernte, studierte ich in Bonn Geschichte und Alte Sprachen auf Lehramt für die gymnasiale Oberstufe.
Damals, im Jahre 1983, war die altehrwürdige Metropole am Rhein die Hauptstadt West Deutschlands und die Großmächte teilten den Planeten grob in zwei Blöcke; Kommunismus und Kapitalismus.
In jenen längst vergangenen Tagen stand meine Wahlheimat ganz unter dem Einfluss jener gewaltigen Friedensdemonstrationen gegen den Nato–Doppelbeschluss, zu denen sich sage und schreibe eine halbe Millionen Menschen auf und um die Hofgartenwiese einfanden. Selbstverständlich war ich als eher linker denn als konservativer Student mit den zwei Jungs aus meiner legendären Südstadt–Wohngemeinschaft ein winzig kleiner Teil dieser bewegenden Protestveranstaltung.
Mit meinen Mitbewohnern verstand ich mich gut, das Studium lag mir. Zwar verlief es durch Partys bedingt etwas langsamer, aber unter dem Strich durchaus erfolgreich; alles befand sich absolut im Lot.
Um die finanzielle Unterstützung durch meine Eltern etwas aufzubessern, arbeitete ich in einer dieser guten, alten Eckkneipen, wie man sie heutzutage immer weniger findet. Zwei- bis dreimal die Woche und bei Bedarf, was gerade in der Karnevalszeit häufiger vorkam, stand Dienst dort auf dem Plan. Wurde der Studentenfreibetrag überschritten, zahlte die Chefin mir das zusätzliche Geld unter der Hand aus.
Die Kneipe lag am Rande des Regierungsviertels und führte auf der Speisekarte eine Auswahl an Gerichten, aber nichts, was man große Küche nennen konnte. In der Regel verkehrten hier alte Bonnerinnen und Bonner, gelegentlich auch jüngere Einheimische auf ein Kölsch und einen Kurzen zum Abend, wobei sie über Gott und die Welt sprachen, philosophierten, lebhaft diskutierten.
Meine Chefin besaß nicht nur einen ausgesprochen gutmütigen, aufrechten Charakter, sondern ihr war auch mit ihren über sechzig Jahren ein ungemeiner Fleiß zu eigen. Wenn sie nicht gerade hinter dem Tresen Bier zapfte, in der sich anschließenden kleinen Küche Schnitzel, Kotelett und Frikadellen briet oder im Arbeitszimmer ihrer Wohnung, welche direkt über der Kneipe lag, die Buchführung erledigte, besuchte sie in ehrenamtlicher Tätigkeit für die katholische Kirche Hospize, Alten- und Obdachlosenheime. Greta Schmitz half, wo immer sie konnte.
Eines Tages, an einem Mittwoch kurz vor dem 11. November, stand ich hinter der Theke und kümmerte mich um die drei Gäste auf den Hockern davor. Schlagermusik rieselte aus den Boxen der Stereoanlage auf uns herab.
Ein gemächlicher Abend lag vor mir, bevor übermorgen die große Karnevalssause über diese Kneipe und mich hereinbreche; die berühmte Ruhe vor dem Sturme.
Gegen acht Uhr, meiner Erfahrung nach konnte ich an Abenden wie diesen gegen 23:00 Uhr Feierabend machen, betrat Greta in Begleitung eines unbekannten Mannes das Lokal.
Von den heute wenig anwesenden Stammkunden wurde die Chefin gar freudig begrüßt.
Anschließend kam sie mit dem Fremden zu mir und ich konnte ihn im fahlen Licht einer Kneipe genauer betrachten. Sein Gesicht wies Spuren eines harten Lebens auf und unter seinem linken Auge sah der Betrachter das letzte Stadium eines abschwellenden Veilchens. Die Kleidung passte nicht recht zusammen, sah verblichen und wie unzählige Male gewaschen aus, roch allerdings frisch nach Weichspüler.
„Klaus“, fing Greta zu erklären an, „hat schwere Zeiten durchgemacht. Er wird für eine Weile in dem Mansardenzimmer oben im Haus wohnen und uns während der Karnevalsmonate in der Küche unterstützen, weil er gelernter Koch ist. Nächstes Jahr werde ich zweiundsechzig und mir geht die Arbeit auch nicht mehr von der Hand, wie als ich zu Beginn der Fünfzigerjahre in das Gastronomiegeschäft eingestiegen bin. Heute ist wahrlich nicht viel los. Kannst du bitte Klaus herumführen, damit er seinen Arbeitsplatz kennenlernt! Dann kann er morgen Nachmittag schon anfangen.“
So zeigte ich Klaus all das, was er wissen musste, um hier möglichst schnell seine Tätigkeit antreten zu können.
Als gegen zehn vor elf sich auch der letzte Stammgast dieser kurzen Nacht auf den Heimweg machte, saßen Klaus und ich noch in der Schankstube auf ein paar Kölsch vom Fass zusammen.
Beim Plaudern erfuhr ich, dass er vierunddreißig Jahre zählte, aus dem Nürnberger Raum stammte, Koch aus Leidenschaft mit Meistertitel war und gar bis vor fünf Jahren ein Nobelrestaurant in Chicago geleitet hatte. Einer alten Liebe wegen kehrte Maderer nach Franken zurück, lebte eine Weile äußerst glücklich, arbeitete in einem gut laufenden Landgasthof und dachte gar an Hochzeit. Doch die Liebe zerbrach, sie verließ ihn und Klaus fiel in ein tiefes Loch. Ohne Antrieb verlor er seinen Job und weil er in einer tiefen Depression steckte, wurden selbst die Gänge zum Arbeitsamt zu einem schier unlösbaren Problem, so dass er kurze Zeit später keine Miete mehr zahlte und man ihm die Wohnung irgendwann kündigte. Aus Scham vor seiner Mutter – der Vater war bereits vor Jahren an Krebs gestorben – erzählte Klaus die Lüge vom Job als Chefeinkäufer eines Lebensmittelgiganten. Er weile mal hier und mal dort auf dieser Welt und ließe sich deshalb in seiner Wohnung keinen Telefonanschluss legen.
Tatsächlich tingelte Klaus als Vagabund kreuz und quer durch die Bundesrepublik, nächtigte unter Brücken, auf Park- sowie Friedhofsbänken, bevor er zur kühleren Jahreszeit hin häufiger in Obdachlosenasylen einkehrte. In einer von diesen Einrichtungen war er an Greta geraten.
Weil es praktisch kein Thema, sei es aus dem Bereich Politik, Wirtschaft, Gesellschaft oder Sport, gab, bei dem er nicht durch fundierte Kenntnisse mitreden konnte, machte Klaus einen äußerst intelligenten Eindruck auf mich, der erfreulicherweise noch von einer gehörigen Portion Humor und Geselligkeit ergänzt wurde. Unser später, gemeinsamer Abend verlief wahrlich angenehm.
Erst um Viertel nach drei in der Früh sperrte ich die Gaststättentüre endgültig hinter mir zu und ging durch die herbstliche Kühle den halben Kilometer in die Südstadt zurück. Während die wunderschönen, alten Häuser im sanften Licht der Straßenlaternen vorbeizogen, machten sich die Bierchen mit Klaus deutlich bemerkbar. Es stand also fest, dass die Vorlesung zur römischen Komödie morgen um neun Uhr für mich ausfallen täte.
Als ich die Wohnungstür hinter mit ins Schloss zog, befanden sich meine zwei Mitbewohner längst im Reich der Träume.
Anno 1983 lagen das Internet und selbst Fernsehen, welches vierundzwanzig Stunden sendete, noch in einer fernen, fernen Zukunft. Es gab ARD, ZDF, ein drittes Regionalprogramm und unter der Woche, sofern kein außergewöhnliches Ereignis vorlag, stellten die öffentlich-rechtlichen Sender den Fernsehbetrieb spätestens um halb zwei ein.
Zum Abschluss dieses Tages blieb mir nichts weiter übrig, als auf dem Bette noch ein paar Seiten zu lesen und dabei leise Popmusik im Radio zu hören, bis sich die Augenlider förmlich von alleine schlossen.
Schön, das muss auch heute klar so gesagt werden, fand ich diese unhektischen Zeiten jenseits der Volldigitalisierung aller Lebensbereiche dennoch.
Am übernächsten Tag, zum Start in die fünfte Jahreszeit des Rheinlands, durfte ich zum ersten Mal eine Kostprobe von Klaus Küchenkünsten nehmen. Bei dem Gericht handelte sich um eine pürierte Kartoffelsuppe mit grober Wurst und Speck darin. Obgleich meine Eltern ganz ausgezeichnet kochen konnten, musste ich neidlos anerkennen, niemals zuvor eine solch köstliche Suppe gegessen zu haben.
Klaus, soviel stand schnell fest, beherrschte sein Handwerk wahrlich meisterlich.
Der Winter löste den Herbst ab und zwischen Maderer und mir entstand rasch ein wahrlich freundschaftliches Verhältnis.
Er kam zu den Partys der berühmt, berüchtigten Südstadtwohngemeinschaft, kochte für uns Jungs und ein jedes Mal waren diese Mahlzeiten himmlische Freudenfeste für die Gaumen.
Nachdem der Karneval am Aschermittwoch zu Ende gegangen war, schickte der Frühling erste seichte Vorboten ins Land.
Zu dieser Zeit trat Greta an Klaus heran, um ihm von einem äußerst interessanten Jobangebot in einem Nobelrestaurant in den Bergen auf der anderen Rheinseite zu berichten.
„Das Lokal gehört dem Jahn, der regelmäßig hier auf sein Kölsch kommt. Er besitzt mehrere Häuser in der Südstadt und ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, der in dies und jenes investiert. Alles, was er anpackt, wird irgendwie zu Gold. Jetzt steigt er in die gehobene Gastronomie ein und er sucht dafür einen fähigen Koch. Er kann dir mehr bieten, als ich das kann; mehr als ein paar Mark auf die Hand und ein kleines Zimmer voller alter Möbel unter dem Dach. Außerdem musst du höhere Aufgaben haben, als in einer Eckkneipe Schnitzel zu braten, Kartoffeln zu kochen oder Pommes in die Fritteuse zu schmeißen. Du, mein lieber Klaus, bist hier chronisch unterfordert und brauchst eine Herausforderung, bei der du deine Fähigkeiten voll entfalten kannst."
Klaus nahm das Angebot an, nicht jedoch ohne sich zuvor demütig und voller Aufrichtigkeit bei Greta bedankt zu haben.
Seinen Ausstand aus dem kleinen Betrieb der werten Gastronomin Frau Greta Schmitz gab Klaus gebührend in der Südstadtwohngemeinschaft.
Bei Bier, Whiskey–Cola und einigen anderen psychotropen Substanzen, welche Menschen, die relativ jung und für alles offen sind, im lockeren Kreis konsumieren, hielt die Party von Samstagabend, 20:00 Uhr, bis Montagmorgen, 09:30 Uhr, an.
Nach diesem legendären Gelage war ich zunächst derartig fertig, dass ich die gesamte Restwoche nicht wirklich in die Uni gehen konnte, und somit nur eine Vorlesung zum Salischen Kaisertum am späten Donnerstagnachmittag und ein Linguistik-Seminar am Freitagvormittag besuchte.
In der sich anschließenden Zeit sah man Klaus logischerweise immer seltener. Er nahm sich unweit seiner neuen Arbeitsstätte in Königswinter eine Wohnung und kam nur gelegentlich an seinem einzigen freien Tag unter der Woche mit der Straßenbahn auf die linke Rheinseite herüber.
Das Restaurant in den Bergen brummte Dank der Künste meines Freundes und Herr Jahn honorierte ihm dieses mit einem überdurchschnittlich großzügigen Gehalt. Wenn man es rein auf das Berufliche bezog, konnte es für Klaus Maderer kaum besser laufen.
Der alternde Herr Jahn selbst, dessen erwachsener Sohn in Australien lebte, schien sich zudem zu einer Art Ersatzvater für Klaus zu entwickeln. Ich kannte Jahn als stets netten, höflichen, auf dem Boden gebliebenen Zeitgenossen, mit dem man, wenn er vor dem Tresen hockte, auf höherem Niveau über Gott und die Welt reden konnte. Beruflich investierte der studierte Diplom–Ingenieur rund um den Globus in eine Vielzahl von Sparten und Unternehmen, von denen er einige selbst besaß. Ob es sich um Minen auf dem afrikanischen Kontinent, Wohnungen in Singapur, Beteiligungen an nordamerikanischen Sport-Franchise oder eben noble Restaurants handelte; Herr Jahn machte mit vielerlei Dingen sehr gutes Geld. Allerdings wussten wir, Greta inklusive, nur, dass er auf diese Art und Weise seinen Lebensunterhalt verdiente, während uns über die Größe seines Vermögens nichts bekannt war, da er niemals darüber redete. In seinem gesamten Auftreten kam Jahn eher dezent daher, trug keine teuren Uhren oder Designeranzüge, sondern setzte auf blaue Levis 501 von der Stange und dazu zumeist schlichte, rote T-Shirts oder Pullover. Auch am Thema Nummer Eins wohlhabender, älterwerdender Männer, dem Automobil, schien ihm kaum etwas zu liegen. In schöner Regelmäßigkeit betonte der Unternehmer, dass er als Städter kein Fahrzeug benötige, sondern zu Fuß gehe oder gelegentlich ein Taxi nehme.
Eine Sache jedoch an Jahn verwies auf eine Portion Extravaganz.
Um seinen Hals baumelte eine goldene Kette, was an und für sich kaum erwähnenswert wäre, gäbe es den daran befestigten Anhänger nicht. Das Ding bestand aus Silber, zeigte verschnörkelte Bögen und Tatzenkreuze und war mit weißlichen, blauen und roten Edelsteinen verziert.
Einmal hakte ich bei ihm nach, ob sich hinter diesem Schmuckstück eine tiefere Bedeutung verberge. Seine Antwort lautete schlicht, dass dieser Anhänger aus dem Erbe seiner längst verstorbenen Mutter stamme und er ihn nur deshalb trüge. Ob da eine tiefere Bedeutung existiere, wisse er nicht und wenn, dann wäre es ihm auch relativ egal.
Die Zeit verging, ich schloss mein Studium, wer hätte das gedacht, noch unter dreißig ab und fand glücklicherweise, weil mir als Zugezogener das Rheinland mittlerweile sehr am Herzen lag, einen Platz für das Referendariat an einem Gymnasium in Bonn–Bad Godesberg, dem Diplomatenviertel der damaligen Hauptstadt.
Da meine Chefin beinahe gleichzeitig ihr Geschäft aus Altersgründen an einen jungen Mann übergeben wollte, beschloss ich, ihr an den letzten drei Wochenenden noch hinter der Theke auszuhelfen, so dass wir dann gemeinsam unsere Kneipentätigkeit an den imaginären Nagel hängen täten. Die jüngsten Gäste waren um die dreißig, so dass ich die Möglichkeit, hier einem meiner Schüler zu begegnen, als ziemlich gering abtat. Auch sollte mein Lebensmittelpunkt zunächst die Wohngemeinschaft bleiben.
An meinem vorletzten Abend, einem Freitag, erfuhren meine Noch-Chefin und ich, dass Jan Jahn, der schon seit sechs Monaten heftig an Krebs litt und seither nicht mehr in sein Stammlokal kam, in der Robert Janker Klinik verstorben sei.
Trotz des absehbaren Endes nahm Jahns Tod meinen alten Freund Klaus, der im letzten Jahr das Luxusrestaurant quasi im Alleingang geführt hatte, ziemlich mit, so dass er für eine ganze Weile gar schlimmes Trübsal blies. Dennoch gelang es ihm, dass Geschäft auf der anderen Rheinseite tadellos am Laufen zu halten. Privat zog Klaus sich mehr oder weniger zurück und kam zwei Monate lang nicht mehr auf ein gemeinsames Bierchen über den Fluss.
Endlich jedoch fing er sich und traf mich in einer Kneipe in der Altstadt, wo er mir Interessantes berichtete.
Er plane, das Rheinland wieder zu verlassen, um in seiner fränkischen Heimat ein eigenes Restaurant zu eröffnen. Es läge direkt im Herzen Nürnbergs und es wäre eine einmalige Gelegenheit, in einer solchen Lage einen Gastronomiebetrieb aufzumachen. Genügend Geld für diesen Start in die Selbstständigkeit habe er sich während seiner Tätigkeit bei Jan Jahn zurücklegen können. Seit seiner Lehrzeit sei es sein großer Traum gewesen, irgendwann einmal ein eigenes Restaurant der Oberklasse zu führen.
Natürlich fand ich es ausgesprochen schade, einen liebgewonnenen Menschen nicht mehr in der unmittelbaren Umgebung zu haben und besonders würden mir unsere Touren durch die alternativen Kneipen der Stadt mit dem dazugehörigen Philosophieren abgehen. Doch überwog in diesem Fall des Scheidens die Freude darüber, dass Klaus sich seinen Lebenstraum erfüllen konnte.
Zwischen zwei Runden Bier machte mein Freund sich zur Toilette auf und als er mich passierte, sah ich, dass sein linkes Ohr gestochen war. Bei seiner Rückkehr fiel mir selbiges auch für das rechte Läppchen auf.
„Hast du dir Ohrringe stechen lassen?“, erkundigte ich mich.
Klaus grinste darauf verlegen und es dauerte einen Moment, bis er Antwort gab.
„Ach, das war nur so ein Experiment. Du weißt doch, die Karla, mit der ich eine Zeit gelegentlich in Köln um die Häuser gezogen bin und mit der ich eine kleine Romanze hatte, hat mich irgendwie dazu gebracht, weil die dauernd meinte, es würde mir stehen. Das Experiment ist aber gründlich schiefgegangen.“
Eine passende Erklärung; wir lachten herzlich.