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Im Wasserhaus
ОглавлениеZeit verstrich, Zeit verging und das immer schneller.
Die Achtziger endeten und die Neunziger begannen mit einem Weltmeistertitel für unsere Fußballherren. Im Herbst darauf erfolgte die Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands.
Ich trat eine Stelle als nun voll ausgebildeter Lehrer in Troisdorf an und wohnte mittlerweile in einer schönen, gemütlichen Wohnung nahe der Bonner Innenstadt. Natürlich riss der Kontakt zu meinen alten WG–Genossen nicht ab und gelegentlich ließen wir die guten, alten Zeiten in noch immer netten, ausschweifenden Partys für den Moment wiederaufleben. Eine liebe Freundin weilte inzwischen an meiner Seite und mit Klaus in Nürnberg telefonierte ich regelmäßig oder wir schrieben einander längere Briefe.
Sein Restaurant musste wahnsinnig gut laufen und schnell erhielt es einen Michelin–Stern, dem ziemlich bald ein zweiter folgte.
Eines Tages, kurz nach meinem fünfunddreißigsten Geburtstag, rief Klaus mich an und in seiner Stimme klang Stolz und Aufregung mit, als er mir vorschlug, ich solle zum Kiosk gehen und mir die heutige Ausgabe einer großen, überregionalen Tageszeitung besorgen.
Mir schwante bereits etwas und nach meiner Rückkehr vom Kiosk machte ich eine anständige Tasse Schwarzen Tees, setzte mich in meinen Lieblingssessel und begann die Lektüre sogleich mit dem Kulturteil.
Der Artikel über Klaus Restaurant füllte eine ganze Seite und die Schlagzeile lautete wie folgt:
Magische Speisen
Wie eine geheimnisvolle Zutat Feinschmecker und Gourmet-Experten in wahre Verzückung versetzt
Der Bericht eröffnete mit dem Zitat einer überaus berühmten Restaurantkritikerin, deren Urteile Lokale in die höchsten Sphären erheben oder ruinieren konnten.
Ich war schon in vielen Restaurants rund um den Globus, aber was es hier zu erleben gibt, ist eine völlig neue Form des Geschmacks. Selbst wenn Speisen mit edelsten Trüffeln verfeinert werden, reichen sie nicht an das Essen in Im Wasserhaus heran.
Der Artikel überschlug sich förmlich mit Lob für Klaus Delikatessen und stellte auch seinen teilweise tragischen Werdegang in den Fokus.
Wenn man die Geschichte seines Lebens las, gewann der Leser noch mehr den Eindruck, es hier mit einer importierten Form des Amerikanischen Traums zu tun zu haben; vom Obdachlosen zum Millionär, der Klaus, wenn er es nicht schon war, sicherlich in näherer Zukunft sein würde. Was für ein Märchen!
Doch der eigentliche Schwerpunkt des Artikels lag auf einer gewissen Zutat, die Klaus allen seinen Gerichten beimengte, wobei die Süßspeisen eine Ausnahme bildeten.
Die Zutat verleiht den ohnehin schon genial zubereiteten Gerichten auf der Speisekarte eine kulinarische Krönung, wie sie weltweit wohl einmalig zu sein scheint. Es ist, um es vulgär zu formulieren, ein tausendfacher Orgasmus auf der Zunge.
Ob es sich um ein Stück Filet oder eine vegetarische Komposition aus Gemüse der Saison handelt, die von Klaus Maderer nach dem altgriechischen Gott der Freude getaufte Zutat Dionysos bringt den Gaumen in höhere, bislang unbekannte Dimensionen des Genusses.
Die Rezeptur? Selbstverständlich geheim! Alles was mit ihr zu tun hat? Ebenfalls streng geheim!
„Vielleicht ist mir das Geheimnis ja im Traum von einem Engelchen eingeflüstert worden. Von der äußeren Erscheinung ähnelt Dionysos ein wenig dem Schwarzen Trüffel, was auch grob auf die Konsistenz zutrifft. Die Zusammensetzung ist, das kann ich verraten, in jedem Fall recht mannigfaltig und stellenweise kostet es Zeit und Mühe, an die einzelnen Zutaten zu gelangen.“
Mehr gibt der Restaurantbesitzer und Chefkoch nicht preis, sondern erklärt weiter, dass selbst dem Küchenpersonal die Zusammensetzung und Fertigung der Spezialzutat nicht bekannt sei.
„Ich steige ganz alleine in meinen Geheimkeller hinab, verriegle die Panzertür hinter mir und beginne unter zur Hilfenahme fremdartiger Apparaturen mit der Herstellung von Dionysos.“, erklärt Maderer mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht weiter. Es wirkt wie das Lächeln eines zufriedenen, in sich ruhenden Menschen.
Dass meine Vermutung über Klaus finanziellen Werdegang zuzutreffen schien, bestätigte der Abschlusssatz dieses angenehm zu lesenden Artikels.
Sollten auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, einmal mit dem Gedanken spielen, in Im Wasserhaus einzukehren, müssen Sie nicht nur mit Menüpreisen zwischen 90 und 360 harten Deutschmark rechnen, sondern auch mit einer extrem langen Wartezeit. Ab dem Tag der Reservierung können locker und leicht vier bis sechs Wochen ins Land gehen, bis man sich endlich an einem der Tische im stilvollen Ambiente niederlassen darf.
Weil ich kurze Zeit später der persönlichen Einladung des Herrn von Im Wasserhaus Folge leistete, galt diese Wartezeit für mich selbstverständlich nicht.
Mein Menü bestand aus einer klaren Fleischbrühe mit Käsenudeln, dann ein Rinderfilet mit Salat, Ofenkartoffel und einer Sauce auf der Basis von Whiskey, bevor eine Creme Caramel den kulinarischen Abend in Perfektion abrundete.
Die große, überregionale Tageszeitung hatte nicht übertrieben. Niemals zuvor war mir ein solch gewaltiges und nahezu unbeschreibliches Geschmackserlebnis widerfahren.
Den Geschmack selbst konnte ich schwer beschreiben. Dionysos verlieh den Gerichten einen pikanten, leicht nussigen Geschmack, aber da gab es noch etwas anderes, das man schwer in Worte fassen konnte, aber schlicht mit den Attributen himmlisch und herrlich versehen musste; eine Note, welche einfach nicht von dieser Welt zu sein schien.
Im Gegensatz zu seinem Essen gefiel mir mein alter Freund überhaupt nicht, während ich ihn zur späten Stunde nach Feierabend in den Räumlichkeiten seiner Residenz genauer anschauen konnte. Zwar fuhr er mittlerweile einen weißen Jaguar und lebte in einer wundervollen Villa in einem der nobelsten Vororte Nürnbergs, wo es einen Salon, sechs Zimmer, drei Bäder und einen ausgedehnten Spa- und Wellnessbereich mit Sauna und Schwimmbad gab. Jedoch sah Klaus aus, als täte er sich keinen Sekundenbruchteil an diesem Ort der Entspannung und Ertüchtigung aufhalten. Stattdessen schien er wesentlich mehr Zeit an der Mahagoni Bar im Salon zu verbringen, an der er sich direkt nach unserer Ankunft zu laben begann, indem er sich einen mindestens dreifachen Cognac einschenkte und diesen noch im Stehen hinter der Theke kippte.
Nachdem er sich erneut das Glas großzügig gefüllt hatte, zapfte der große Gastronom dem ordinären Lehrer ein fränkisches Bier und wir nahmen in einer Sitzecke Platz, die einen Preis haben mochte, den ich mir besser nicht vorstellen wollte.
Von dem zufriedenen Ausdruck, über den die Zeitung zu Beginn des Sommers berichtete, existierte nunmehr nicht der Hauch einer Spur.
Sein gesamtes Gesicht war verquollen, das Weiß in den Augen, unter denen sich tiefschwarze Ringe befanden, gerötet, während seine lichter werdenden Haare fettig im Schein des sündhaft teuren Kronleuchters schimmerten und sich rötliche, runde Stellen im Gesicht zeigten.
Dieser Klaus weilte weit entfernt von dem alten Klaus aus Bonner Südstadt-Zeiten und zum ersten Mal wurde mir die Richtigkeit des Sprichworts bewusst, dass Geld allein nicht glücklich mache.
Auf meine Frage, was denn los wäre, antwortete er, dass die Arbeit einfach sehr gewaltig sei und er sich keine Pause leisten könne. Ja, im Moment trinke er vielleicht auch ein wenig viel, was sich jedoch nicht, wie ein jeder sehen könne, auf die Qualität des Restaurants auswirke. Außerdem sei der Alkoholkonsum nicht so arg, dass er die Kontrolle zu verlieren drohe.
Im Verlauf unseres Gesprächs fiel mir auf, dass Maderer unter seinem schicken Designerpullover eine Kette aus Gold trug, deren Rand ich im Bereich des Kragens erkennen konnte. Schon seltsam für ihn, der sich nie etwas aus solchen Dingen gemacht hatte, aber manchmal - oder eben auch etwas häufiger als manchmal - veränderten Geld und Erfolg das Verhalten der Betroffenen.
Mit dieser Erklärung gab ich mich zufrieden, fragte Klaus nicht näher nach dem Schmuckstück und vergaß es bald.
Nicht vergessen hingegen konnte ich den erbarmungswürdigen Zustand meines alten Freundes, sah ihn einmal gar des nachts im Traum.
Weitere Zeit verstrich, Jahre vergingen.
Nach und nach verschwanden die eckigen Autos von den Straßen des Landes und wurden von stromlinienförmigen Modellen abgelöst. Ein Instrument namens Internet hielt mehr und mehr Einzug in unsere Welt, während gleichzeitig die Zahl der Menschen wuchs, die sich ein Gerät genannt Mobilfunktelefon zulegten und längst konnte der Gewillte Fernsehen rund um die Uhr schauen.
Im Internet las ich dann auch am heimischen PC einen Artikel über Klaus Restaurant, vielmehr das Interview mit einem irischen Superstar der Rockmusik, der es sich nicht nehmen ließ, einmal in der Woche mit seinem Privatflugzeug von Cork aus nach Nürnberg zu fliegen, um Im Wasserhaus zu tafeln.
„Glauben Sie mir, es gibt nichts Luxuriöseres als ein Essen im Im Wasserhaus zu sich zu nehmen. Ich habe in Restaurants rund um den Globus gespeist, doch Maderer ist unvergleichbar. Sein Essen macht glücklich, glücklicher als jede andere Form des Glücks. Und so komme ich immer wieder an jedem Sonntagabend, um bei Klaus ein Menü zu mir zu nehmen.“
„Im Wasserhaus speiste kürzlich die Bundeskanzlerin mit ihrem Gast, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Den beiden wollte Klaus Maderer die Rezeptur für die zauberhafte Zutat Dionysos nicht verraten. Vielleicht steht er ja mehr auf Rockmusik und hat Ihnen gegenüber etwas durchsickern lassen?“
„Da muss ich Sie leider enttäuschen. So gut ich mich mit Klaus verstehe, wir sind ja mittlerweile alte Freunde, wenn ich auf das Thema Dionysos zu sprechen komme, macht er zu wie ein Schleuser seine Pforten bei Hochwasser. Wahrscheinlich würde er selbst auf dem Sterbebett dem Papst dazu keinerlei Auskunft erteilen.“
Ich fragte mich wirklich, ob es sein konnte, dass Klaus mit einem solch zynischen, opportunistischen, in der Wolle gefärbten Großkapitalisten, der dieser Rockstar nun einmal war, eine Freundschaft verband. Früher besaß er für solche Leute lediglich Hohn und Spot, aber wie schon erwähnt, das große Geld verändert die Menschen in großen Zügen.