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SELBSTINDUZIERTES LEIDEN, SELBSTINDUZIERTE RESSENTIMENTBILDUNG
ОглавлениеFrappierend an der Konstellation, die durch die ressentimentgetriebenen psychologischen Abwehrmechanismen hervorgebracht wird, ist, dass der Ressentimentmensch in die Situation gerät, seine Identität und seinen Eigenwert nicht positiv aus sich selbst heraus zu stiften, sondern negativ über und gegen den Anderen. Seine Selbsterfahrung gründet nicht in einem überzeugten oder gar »triumphierenden Ja-Sagen zu sich selber«, sondern in einer Abwehrhaltung, im »Nein zu einem ›Ausserhalb‹, zu einem ›Anders‹, zu einem ›Nicht-selbst‹«.44 Während sich der Starke aktiv aus sich selbst, dem Eigenen heraus konstituiert, definiert sich der Ressentimentmensch reaktiv über die Umwertung der »Gegen- und Aussenwelt«. Er hat diese geradezu zur eigenen Voraussetzung – dermaßen stark prägt ihn die ressentimentale Ohnmachtserfahrung. »Diese Umkehrung des werthesetzenden Blicks – diese nothwendige Richtung nach Aussen statt zurück auf sich selber – gehört eben zum Ressentiment«.45 Er leidet so sehr an seiner Umwelt, dass er sie nur noch als antagonistisch zu erfahren imstande ist. Das wird, wie gesehen, durch die vom Ressentiment erzwungenen selbstbildstabilisierenden Maßnahmen noch einmal verstärkt, indem der Andere, der Feind als eigentlich Schuldiger, als eigentliche Quelle seiner Leiden identifiziert wird. Nur in der permanenten Anklage anderer erwächst ihm die Möglichkeit, das eigene Selbstbild zu entlasten.46 Der Ressentimentmensch konstituiert sich dann wiederum dem Anderen gegenüber als Antithese, als Gegenentwurf. Das bedeutet aber auch, er definiert sich zu allererst über das (angebliche) Unrecht, dass ihm angetan wurde.
Dies erweist sich als eine doppelt negative Identitätsstiftung: erstens wird erst von der Erfahrung des Anderen her das Eigene abgeleitet. Während die Selbstkonstitution des Selbstgewissen einen eigenständigen und souveränen Akt darstellt, lässt die des Ressentimentmenschen diese Souveränität wesentlich vermissen. Zweitens basiert diese Selbsterfahrung auf gegenseitiger Herabwürdigung: einerseits erfährt sich der Ressentimentmensch als der Schwächere und Unterlegene, und unterstellt dabei dem (vermeintlich) Überlegenen, mit Verachtung auf ihn herabzublicken. In seiner verqueren Wahrnehmung erfährt er von ihm nichts als Kränkung. Das führt andererseits dazu, dass er für den Anderen seinerseits nichts als Verachtung übrig hat. Dies ist seine Urerfahrung mit dem Anderen, mit allen Anderen, das Sentiment, das sich wiederum untrennbar an seine Selbsterfahrung geheftet hat. Sein »Verhältnis zur Umwelt ist auf das Böse gebaut und dadurch in seinen Wurzeln vergiftet«.47 Diese Feindbild konstruierende, Antagonismus schaffende, Unfrieden stiftende Dynamik entspringt zutiefst der inneren Logik des Ressentiments. Sie ist ein unhintergehbarer Aspekt desselben.
Das birgt wiederum zweierlei Konsequenzen: einerseits verschafft dies dem Ressentiment selbstperpetuierende Kräfte; andererseits manifestiert sich darin das paradoxale Verhältnis des Ressentimentmenschen zum Anderen – der ihm zugleich Quelle seiner Leiden und Instrument zu deren Linderung ist.
Es sei noch einmal erinnert: jedem Ressentiment liegt zunächst einmal eine reale Verletzung, ein realer Schmerz zugrunde. »Wer tief genug gräbt, um die Wurzel der Ressentimentbildung freizulegen, wird auf eine Kränkung stoßen«.48 Die daraus erwachsenden negativen Affekte werden durch das Nicht-Ausagieren (in der Imagination) immer wieder durchlebt und durchlitten. Sie werden ferner (in der Realität) immer wieder aktualisiert, da das Subjekt sich aufgrund seiner unüberwindlichen Ohnmacht in seine Unterlegenheit gleichsam einnistet und in immer neuen Konflikten fortwährend neue Verletzungen und neue Kränkungen erfährt. Mit der fortschreitenden Entrealisierung der Ressentimentaffekte mischen sich diesen Verletzungen nun zunehmend empfundene, unterstellte, herbei phantasierte Verletzungen bei. Das Ressentiment verdichtet sich »über die Zeit aus einem Gemisch von Erfahrungen und unbewußten Phantasien«.49 Der Ressentimentmensch bildet eine erhöhte Sensibilität für ungerechtes und verletzendes Verhalten anderer aus – und übersteuert diese bis an den Punkt, an dem er An- und Übergriffe empfindet, die gar nicht da sind. Jetzt werden potenziell verletzende Situationen oder Konstellationen »geradezu […] triebartig aufgesucht« oder Verletzendes unbewusst »in alle möglichen Handlungen und Äußerungen anderer, die gar nicht verletzend gemeint waren, […] fälschlich hineingetragen«.50 So bildet sich ein Schema zur Konstruktion von immer neuen Verletzungen heraus, das fortwährend abläuft. Doch der Ressentimentale erleidet nicht bloß Wunden, die ihm so gar nicht beigefügt werden – er schafft innerhalb dieser Dynamik zugleich immer neue Anlässe für immer neue Verwundungen: er kreiert Feinde und Feindschaften, wo de facto keine sind oder sein müssten, er provoziert fortwährend neue Konflikte und Auseinandersetzungen – dann, wenn er sich angegriffen fühlt und sich somit aus gutem und gerechtem Grund zu verteidigen glaubt. Doch er greift faktisch an, wo er sich nur zu verteidigen meint – und wird so zum Ziel dessen, der sich wiederum gegen seine Angriffe verteidigt.
Solcherart beginnt der Ressentimentale damit, sich die Wunden gewissermaßen selbst zuzufügen – was ihn nur noch mehr in die Arme des Ressentiments treibt. Wenn dessen Herausbildung bis zu einem gewissen Punkt fortschreitet, beginnt es, sich selbst zu bestätigen, zu plausibilisieren, zu untermauern. Dann bedarf es dazu gar nicht mehr der widrigen Umstände realer oder zumindest intendierter Verwundungen, um das ressentimentale Vorurteil zu bestätigen und sich dahinter noch weiter zu verschanzen – dann besorgt die ressentimental überformte Persönlichkeitsstruktur dies schon von sich aus. Das Ressentiment verstärkt sich somit selbst, es wächst an sich selbst.
Zugleich scheint hier das paradoxale Verhältnis des Ressentimentmenschen zu dem Anderen auf: einerseits kann er gar nicht mehr anders, denn den Anderen als Quelle seiner persönlichen Not wahrzunehmen. Andererseits ist er auf ihn zum Zwecke seiner selbstbildstabilisierenden Maßnahmen grundlegend angewiesen und auf ihn hin geordnet. Der Andere – in der Rolle des Feindes – fungiert also als Instrument zur Linderung der eigenen Leiden. Zugleich aber perpetuiert er sie: »die Unfähigkeit, andere anders denn als Produzenten des eigenen Leidens wahrzunehmen, läßt einen Ausweg aus dem Leiden von vorneherein nicht zu. Jede Begegnung des Menschen des Ressentiment mit anderen Menschen gerät ihm zur Bestätigung dieses Vorurteils«. Hier verdeutlicht sich der »fundamentale Selbstwiderspruch« des Ressentiments: Rettung gibt es nur in der »Befreiung vom Menschen«, der Befreiung vom Anderen. Dass er auf den Anderen zugleich unbedingt angewiesen ist, deutet die »autodestruktive Potenz des Ressentiment« an, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint.51 Ebenso wie er unentrinnbar in dem Spannungsfeld zwischen der sklavischen Notwendigkeit, seine Ressentimentaffekte auszuleben, und der schier übermächtigen Ohnmacht, diese ausleben zu können, gefangen ist, so vermag er sich auch nicht aus dem Paradoxon zu befreien, auf den Anderen als Linderer seines Leidens hingeordnet zu sein und ihn zugleich als die Quelle seines Leidens zu erleben.