Читать книгу Schlafes Bruder - Robert Schneider - Страница 11
Das Wunder seines Hörens
ОглавлениеDen ganzen Nachmittag schwappte der Nebel vom Rheintalischen herauf und herein in den Weiler Hof, wo das Anwesen des Seff Alder lag. Der Nebel gefror in den Wäldern, zog eisige Fäden von den Zweigen und beschlug die Rinde der Tannen südseitig. An diesem Nachmittag lagen sich Mond und Sonne gegenüber. Der Mond eine zerbrochene Hostie, die Sonne die Wange der Mutter. Das Kind stand auf dem Schemel am Fenster des Bubengadens, das die Seffin jetzt doppelt verriegelte, indem sie zwischen Griff und Stock ein Holzscheit sperrte. Elias stand und stierte hinab zum Waldrand, dahinter die Emmer floß. Sein Gemüt wurde ihm elend. Er müsse hinunter.
In der Nacht erwachte das Kind vom bloßen Klang der niedergehenden Schneeflocken. Irr vor Freude sprang es zum Fenster, schob es auf und blieb dort unersättlich lauschend bis zum Morgengrauen. In jener Zeit schlief sein Bruder Fritz schon nicht mehr bei ihm. Die Eltern hatten den Fritz in ihre Kammer genommen, ihn vor dem verwunschenen Kind zu schützen. Als am Morgen die Seffin das Kind entdeckte, hatte es eine schweißglühende Stirn, und in der Folge lag es zehn Tage hochfiebrig zu Bett, jedoch von einer unerklärlichen Fröhlichkeit, denn es sang den halben Tag alle Lieder der Kirche im Jahreskreis.
Damals verstand das Kind wenig. Es begriff nicht, weshalb es schweigen mußte, wenn ein Fremder ins Haus trat, wo doch der Bruder immer dabei sein durfte. Begriff nicht, weshalb die Mutter nicht bei ihm wachen wollte, bis daß jener herrliche Klang der Schneeflocken wiederkäme. Begriff auch nicht, weshalb es ihre Ohrläppchen nicht greifen durfte, wenn es einschlafen wollte. Als sie ihm sogar das Singen verbieten wollte, begann das Kind so herzzerreißend zu flennen, daß sie schließlich doch einwilligte und es ihm wenigstens zur Nachtzeit erlaubte.
An dieser Stelle müssen wir das Geheimnis dieses Kindes eröffnen, weil das sonderbare Verhalten der Seffin sonst unerklärlich bliebe. Elias hatte die gläserne Stimme, das Wort stammte vom Onkel Oskar Alder, dem Organisten und Lehrer von Eschberg. Das Phänomen dieser eigentümlichen Stimme läßt sich medizinisch nicht erhellen, es rührt von Geburt her. Wenn das Kind zu reden anhob, tönte aus dem Mund ein einziges, hohes Pfeifen. Die Stimme verfügte über keine eigentliche Sprechmelodie, sie modulierte nicht, sondern pfiff als ewig gehaltener Ton. Dieser Umstand hatte bei der Taufe den Seff frösteln gemacht, denn er wähnte damals den Makel endgültig geworden. Er verlor darüber kein einziges Wort, wie sein Mund überhaupt wenig Worte verlor.
An diesem Nachmittag, an welchem sich Sonne und Mond gegenüberlagen, stahl sich der fünfjährige Elias aus dem Bubengaden. Etwas rief. Er mußte hinunter.
Niemand sorgte sich um Elias. Man sorgte sich in Eschberg überhaupt nicht um seine Kinder. Als bei einem fürchterlichen Wetterschlag ein Aldersches im braun stürzenden Wasser der Emmer ertrunken war, schlich sich die Mutter mit den Worten aus der Sache, daß bisher noch jedes den Weg von selbst heimgefunden, und daß halt der Herrgott dem armen Göblein die Stunde aufgesetzt habe. Einige Tage nach jenem Unwetter begann Seff das Schwemmholz der Emmer auszurichten. Dieses Recht stand den Bauern seit Jahrhunderten an. Was einer an Schwemmholz ausrichten konnte, gehörte ihm, war Freiholz. Das Ausrichten des Holzes war aber stetiger Anlaß zu Streitereien und blutigen Händeln, denn es mochte durchaus geschehen, daß mutwillig eine fette Tanne vom Waldstück des Nachbarn mitfiel und hartnäckig als Schwemmholz ausgegeben wurde.
Anläßlich dieser Ausforstung der Emmer durfte Elias den Vater begleiten. Und dort entdeckte das Kind jenen Ort, genauer gesagt jenen wasserverschliffenen Stein, der ihn auf so unheimliche Art und Weise anzog. Seff war damals aufgefallen, wie das Kind beim Sanden und Schlammen plötzlich innehielt, das Köpfchen nervös von der einen auf die andere Seite warf, als müßte es angestrengt zuhören. Dann stieg und kletterte das Kind gehetzt durchs Unterholz, als würde es von einer unbekannten Macht gerufen. Wie es schließlich alles ihm Erreichbare an Mund und Ohren führte, Schlamm, Kiesel, Käfer, Salamander, Gräser und faulende Blätter, rief Seff es beim Namen, ihm zu bedeuten, daß es ja nicht allein in dieser Wildnis sei. Daraufhin erschrak das Kind so entsetzlich, daß es laut zu weinen anfing und sich lange nicht mehr trösten lassen wollte. Auch wich es keinen Fußbreit mehr von einem bestimmten Steinvorsprung, und Seff mußte den Jungen mit Gewalt vom Stein zerren und unter seinen Arm zwingen. Aufgrund dieser Beobachtung dürfen wir behaupten, daß das Wunder den Elias nicht wie ein Blitz aus offenem Himmel getroffen hat, sondern sich mählich, ja beinahe menschlich ankündigte.
Der Stein rief. Elias mußte hinunter. Er stahl sich die Stiege hinab und durch die Tenne hinaus in den dampfenden Kuhstall. Von dort nahm er den Pfad, den kein Fenster des Hauses zeigte. Trotzdem rannte er das erste Wegstück, rannte so lange, bis er wußte, daß man den Hof nicht mehr ausmachen konnte. Er tat einen Pfiff vor Freude, purzelte und schlug den Weiler hinab zum Bachbett der Emmer. Aber Seff, der im angrenzenden Weiler Mist austrieb, sah ihn. Sah das luftige Pünktchen Mensch im großen Weiß des Feldes. Sah, wie es im Zickzack hinterm Waldrand verschwand. Seff schremmte die Mistgabel in den gefrorenen Boden, trichterte die Hände an den Mund, wollte dem Sohn zujuchzen, ließ aber davon ab. Er wollte das Kind in seiner fröhlichen Einsamkeit nicht stören. Seff blickte glasig auf jenen Waldschatten, dahinter der Bub verschwunden war. Dann nahm er die Gabel wieder zur Hand und stieß sie kraftvoll, ja wütend in den rauchenden Misthaufen. »Gottverreckt mit dem Bub ist etwas falsch!« und die Klatter flog weiter hinab als alle anderen.
Da ging es, das sonderbare Kind, stapfte durch die nebelverfrorene Landschaft. Es wanderte eine halbe Stunde oder mehr, umkletterte geschickt den ersten Wasserfall, dann den zweiten. Auf seiner Wanderung mußte es oft innehalten, weil es sich nicht satt hören konnte am sirrenden Ton der Eisflocken, die allerorten von den Zweigen rieselten. Ausgelassen vor Übermut spitzte Elias die schweren, sperrigen Lederschuhe in den gefrorenen Schnee. Und der Harsch wirbelte in tausend Funken auseinander, wisperte und zirpte in so mannigfaltigen Klängen, wie solches Elias zuvor noch nie gehört hatte. Selbst der wunderliche Klang der Schneeflocken jener Nacht war nichts mehr im Vergleich mit diesem grandiosen Konzert.
Weiter schuhte Elias, immer weiter. Er raffte sein Höschen, zog die Nase hoch und den Filzhut des Vaters tiefer ins Gesicht. Den Hut hatte er einst an sich genommen und wollte ihn nicht mehr wieder herausgeben. In schweren Nächten nahm er ihn dann aus dem Laubsack und roch so lange daran, bis er getröstet war. Er roch den kalten Schweiß, das Haupthaar, den Geruch des Viehs – es war der Stallhut des Vaters.
Je näher Elias zum wasserverschliffenen Stein kam, je unruhiger ging sein Herzschlagen. Es war ihm, als würde allmählich das Geräusch seiner Schritte, sein Atem, das Wispern des Harsches, das Ächzen im Waldholz, das Raunen des Wassers unter dem Eis der Emmer, ja als würde alles um ihn herum anschwellen und immer lauter und mächtiger tönen. Als Elias endlich den Steinvorsprung erklettert hatte, hörte er, daß von seinem Herzen ein Donner ausging. Er muß etwas von dem Kommenden geahnt haben, denn er fing plötzlich an zu singen. Dann geschah das Wunder. An diesem Nachmittag hörte der fünfjährige Elias das Universum tönen.
Weil ihn wieder am Kopf fror, langte er nach dem Hut, ihn noch tiefer ins Gesicht zu ziehen. Davon entstand ein so gewaltiger Knall in den Ohren, daß er verschockt vom Steinvorsprung rutschte und rücklings in den Schnee fiel. Was er als letztes von der Wirklichkeit sah, war ein Büschel blonder, blutiger Haare. Während er stürzte, vervielfachte sich sein Gehör.
Der kleine Körper fing an, sich zu verändern. Jäh traten die Augäpfel aus ihren Höhlen, ja stülpten sich über die Lider und dehnten sich bis unter die Augenbrauen. Und der Flaum seiner Brauen verklebte sich auf der tränenden Netzhaut. Die Pupillen flossen auseinander und quollen über das gesamte Weiß der Iris. Ihre natürliche Farbe, das melancholische Regengrün verschwand, und es trat ein gleißend ekelhaftes Gelb an ihre Stelle. Der Nacken des Kindes versteifte, und sein Hinterkopf bohrte sich schmerzlich in den harten Schnee. Dann bäumte sich das Rückgrat, der Bauch blähte auf, der Nabel wurde hart wie Horn, und Blut sickerte aus der längst verwachsenen Haut des Nabels. Das Gesicht des Kindes aber bot einen derart entsetzlichen Anblick, als lägen alle je gehörten Wehschreie des Menschen und der Kreatur in ihm eingegraben. Die Kiefer traten hervor, die Lippen verkümmerten auf zwei dünne, blutleere Striche. Nach der Reihe fielen dem Kind die Zähne ein, denn das Zahnfleisch schwand, und es ist unerklärlich, weshalb Elias nicht daran erstickt ist. Dann, ungeheuerlich, wurde ihm das Gliedchen stämmig, und das frühe Sperma rann mit Urin und dem Blut des Nabels in einem dünnen Rinnsal warm die Leistenbeugen hinab. Während des ganzen Geschehens verlor das Kind alle Exkremente des Körpers, vom Schweiß bis zum Kot in ungewöhnlich großen Mengen.
Was es dann hörte, war der schwarze Donner, der von seinem Herzen kam. Ein Donner heute, ein Donner morgen. Das will heißen, daß ihm die Empfindung der Zeit abhanden ging. Darum können wir nicht bestimmen, wie lange Elias wirklich im Schnee gelegen hat. Nach menschlichem Ermessen vielleicht einige Minuten, nach göttlichem wohl eine Zeit von Jahren, wie ein merkwürdiger Umstand noch erhellen wird.
Geräusche, Laute, Klänge und Töne taten sich auf, die er bis dahin in dieser Klarheit noch nie gehört hatte. Elias hörte nicht bloß, er sah das Tönen. Sah, wie sich die Luft unaufhörlich verdichtete und wieder dehnte. Sah in die Täler der Klänge und sah in ihre gigantischen Gebirge. Er sah das Summen seines eigenen Bluts, das Knistern der Haarbüschel in den Fäustchen. Und der Atem schnitt die Nasenflügel in derart gellenden Pfiffen, daß sich eine föhnartige Sturmesbö wie ein Säuseln dagegen ausgenommen hätte. Die Säfte des Magens glucksten und klackten schwer ineinander. Es gurrte in den Eingeweiden von einer unbeschreiblichen Vielfalt. Gase dehnten sich, zischten oder knallten auseinander, die Substanz seiner Knochen vibrierte, und selbst das Augenwasser zitterte vom dunklen Schlagen seines Herzens.
Und abermals vervielfältigte sich sein Gehörkreis, explodierte und stülpte sich gleichsam als ein riesenhaftes Ohr über den Flecken, auf dem er lag. Horchte hinunter in hundert Meilen tiefe Landschaften, horchte hinaus in hundert Meilen weite Gegenden. Über die Klangkulisse der eigenen Körpergeräusche zogen mit wachsender Geschwindigkeit um vieles gewaltigere Klangszenarien. Szenarien von ungehörter Pracht und Fürchterlichkeit. Klangwetter, Klangstürme, Klangmeere und Klangwüsten.
Mit einem Mal erkannte Elias in dieser unheimlichen Geräuschmasse das Herzschlagen seines Vaters. Doch das Herz des Vaters schlug so unrhythmisch, so ohne Abstimmung und Gleichklang in sein eigenes, daß Elias, hätte er alle Sinne beisammen gehabt, verzweifelt wäre. Aber Gott in seiner unendlichen Grausamkeit hörte nicht auf zu zeigen.
In Strömen unvorstellbaren Ausmaßes prasselten die Wetter des Klanges und der Geräusche auf die Ohren des Elias nieder. Ein irres Durcheinander von Hunderten von Herzen hub an, ein Splittern von Knochen, ein Singen und Summen vom Blut ungezählter Adern, ein trockenes sprödes Kratzen, wenn sich Lippen schlossen, ein Brechen und Krachen zwischen den Zähnen, ein unglaubliches Getöne vom Schlucken, Gurgeln, Husten, Speuzen, Rotzen und Rülpsen, ein Glucksen von gallertigen Magensäften, ein lautes Platschen von Urin, ein Rauschen von Haupthaar und das noch wildere Rauschen vom Haar der Tierfelle, ein dumpfes Schaben von Textilien auf Menschenhäuten, ein dünnes Singen, wenn Schweißtropfen verdampften, ein Gewetze von Muskeln, ein Geschrei von Blut, wenn Glieder von Tieren und Menschen stämmig wurden. Nicht zu reden vom wahnhaften Chaos der Stimmen und Laute des Menschen und aller Kreatur auf und unter der Erde.
Und tiefer ging sein Ohr, hinein in alles Geschrei, Geschwatze, Gekeife, in alles Reden und Flüstern, Singen und Stöhnen, Grölen und Johlen, Flennen und Schluchzen, Seufzen und Keuchen, Schlürfen und Schmatzen, ja hinein in das plötzliche Schweigen, wo in Wahrheit die Stimmbänder noch vom Klang der eben gesagten Worte heftig vibrierten. Ja selbst das Dröhnen der Gedanken blieb dem Kind nicht unerhört. Immerfort verpotenzierte sich sein Gehörkreis und wurde immer pittoreskerer Klänge ansichtig.
Dann das unbeschreibliche Konzert von Geräuschen und Lauten aller Tiere und aller Natur und die nicht enden wollende Zahl der Solisten darin. Das Muhen und Blöken, das Schnauben und Wiehern, das Gerassel von Halfterketten, das Lecken und Zungengewetze an Salzsteinen, das Klatschen der Schwänze, das Grunzen und Rollen, das Furzen und Blähen, das Quieken und Piepsen, das Miauen und das Gebell, das Gackern und Krähen, das Zwitschern und Flügelschlagen, das Nagen und Picken, das Grabschen und Scharren...
Und er sah noch tiefer und noch weiter. Sah das Getier des Meeres, den Gesang von Delphinen, den gigantischen Wehklang sterbender Wale, die Akkorde riesiger Fischschwärme, das Klicken des Planktons, das Zirbeln, wenn Fische ihren Laich absetzen, sah das Hallen von Wasserfluten, das Zerschellen unterirdischen Gebirgs, das gleißende Gellen der Lavaströme, den Gesang der Gezeiten, die Meeresgischt, das Surren der tausend Zentner Wassers, das die Sonne aufsog, das Raunen, Krachen und Bersten gigantischer Wolkenchöre, den Schall des Lichtes... Was sind Worte!
Von einem letzten Klang ist zu berichten, einem Klang von so filigraner Gestalt, daß er doch in all dem Rumor des Universums hätte untergehen müssen. Aber der Klang blieb und ging nicht unter. Er drang her von Eschberg. Es war das weiche Herzschlagen eines ungeborenen Kindes, eines Fötus, eines weiblichen Menschen. Was Elias gehört und geschaut hatte, vergaß er, aber den Klang des ungeborenen Herzens nicht mehr. Denn es war das Herzschlagen jenes Menschen, der ihm seit Ewigkeit vorbestimmt war. Es war das Herz seiner Geliebten. Unglaublich ist es, daß Elias diesen Gewaltakt überlebt hat und unglaublich, daß er nicht irrsinnig geworden ist davon.
Nach menschlichem Ermessen hätte das Kind auf der Stelle ertauben müssen. Es ist drum ungeheuerlich, daß sein Gehör nicht den geringsten Schaden gelitten hat, jedenfalls finden wir keine späteren Anzeichen, die darauf hindeuten möchten. Gott, wie es schien, war noch nicht fertig mit ihm. Gott war noch lange nicht fertig mit ihm.
Nach dem furchtbaren Hörerlebnis traten die Deformationen am Leib des Kindes zurück. Die Augäpfel schwanden auf ihre ursprüngliche Größe, das Rückgrat glättete sich, die Verkrampfungen der Glieder entspannten. Desgleichen schrumpften die so schrecklich ausgetretenen Kiefer. Aber das gleißende Gelb der Pupillen färbte sich nicht mehr in jenes melancholische Regengrün. Vom Hinterkopf war das Haar in großen Büscheln abgefallen, und die Zähne hatte es allesamt verloren. Der Makel währte aber nicht lang, denn bald zahnte der Mund, und die Zweiten wuchsen dem Kind überfrüh. Neben dem gespenstischen Gelb der Pupillen zeigten sich weitere, nicht minder gespenstische Veränderungen.
Die gläserne Stimme hatte mutiert. Sie war angeschwollen, hatte an Umfang und Volumen gleichermaßen zugenommen. Das Organ des Kindes hatte sich zu einer volltönigen Baßstimme entwickelt. Diese merkwürdige Stimme erregte im Dorf ein so breites Aufsehen, daß die Eltern vor lauter Scham beschlossen, den Elias im Gaden einzusperren und ihn hinkünftig zu halten wie einen Fallsüchtigen. Eine andere Veränderung zeigte sich darin, daß ihm an den Schläfen, auf der Oberlippe, am Kinn, in den Achselgruben und auf dem Geschlecht ein dünner Haarflaum gewachsen war. Der Körper des Elias Alder hatte pubertiert.
Unerklärlich bleibt ferner, wie das Kind überhaupt noch heimgefunden hat. Die Haintzin, die an diesem Dezembernachmittag auf ein Schwätzchen in das Haus des Alder Seff gekommen war, sah es zuerst. In der Küche dampfte es vom Grieß, den die Seffin zum Nachtmahl vorkochte. Sie stand beim Herd und störte mit der Kelle den Brei. Ja, auf diesem Buben liege Gottes Fluch, das leuchte ihr von Tag zu Tag klarer. Die Haintzin nickte den klotzigen Kopf und wischte gelangweilt mit ihrer gichtigen Hand den Beschlag von der Fensterscheibe. Zwar habe sie, fuhr die Seffin fort, etwas Unbestimmtes geahnt, als sie das Kind ausgetragen, habe jedoch gemeint, es seien nur Hirngespinste.
Plötzlich schrie die Haintzin kehlig auf: »Mein Gott und mein Herr! Der nackige Bub, der nackige Bub liegt draußen im Schnee!«
Die Pfanne schepperte zu Boden, die Tür riß auf, ein Holzschlapfen blieb auf der Schwelle liegen. Die Seffin stolperte über den Schnee hinunter und barg ihr Kind mit entsetzten Armen, drückte es so fest an ihren Körper, daß es kaum mehr zu Atem kam. Sie trug es in die Küche zurück, legte es auf den blanken Holztisch, es dort anzukleiden. Als die beiden Weiber den Elias so daliegen sahen, stieg ihnen die Schamesröte ins Angesicht, denn sie gewahrten, daß sein Gliedchen angeschwollen war. Erschrocken stürzte die Seffin nach dem Waschzuber, zog eine Windel hervor, wandte den Buben eiligst ab vom glasigen Blick der Haintzin, wollte ihn wickeln, aber drückte ihm das Geschlecht so fest vom Bauch weg, daß Elias irr vor Schmerzen aufheulte.
»Mein Gott und mein Herr! Was ist das für eine Stimm’! Wie das Röhren eines Hirsches!« bekreuzigte sich die Haintzin und hub sich entgeistert davon.
Freilich, sie verließ den Hof nicht ohne das hochheilige Versprechen, keinem ein Sterbenswörtchen von dem Vorfall zu erzählen, weshalb denn auch am Sonntag jedermann neugierig auf die Alderschen Eheleute schielte. Einige Weiber mochten in Gedanken fast hoffärtig werden, hatten sie ihren Gatten ja nur ein Mongoloides geboren und nicht einen Teufel mit Augen gelb wie Kuhseiche.
Ein anderes Weib aber, die Nulfin, die im fünften Monat schwanger ging, legte ihr Gebetbüchlein auf den Bauch und tat ein Gelübde. Wenn es ein an Leib und Seele Gesundes würde, schwur sie der Muttergottes, wolle sie an ihrem Altar monatlich einen Blumenstrauß aufstellen, solange sie, Virgina Alder, lebe.
Die Seffin hat sich später bittere Vorwürfe gemacht, hat sich laut vor ihrem Mann angeklagt, wie es nur geschehen konnte, daß ihr die unzüchtige Gebärde am Körper des Buben nicht schon im Schnee aufgefallen war. So hätte niemand davon erfahren, und das Haar und die Zähne seien ihm ja schnell nachgekommen. Aber es nützte nichts. Elias wurde zum vielbetuschelten Rätsel von Eschberg.
In den ersten Nächten schliefen Seff und sein Weib nicht im Elterngaden, sondern in der Tenne, droben auf dem Heustock. Den Fritz betteten sie zwischen sich. In dieser Zeit lag die Seffin wach bis in den frühen Morgen, und ihre Gedanken scharten sich immer beengender um das vermeintlich besessene Kind. Als sie ihrem Seff riet, es möchte durchaus eine Pfette vom morschen Dachgebälk zufällig auf den Jungen niederstürzen, oder das Kind könnte unglücklicherweise in der Emmer ertrinken, oder eine läufige Kuh möchte es zu Tode hornen, da schlug Seff ihr die Faust so gewaltig ins gottverreckte Maul, daß die Kinnlade auskegelte. Von da an wurde zwangsläufig nichts mehr über den Jungen geredet, und als die Seffin wieder sprechen konnte, hatte sie den Mut am Leben verloren. Doch sie gab die Hoffnung auf eine Besserung der Zustände nicht auf, wovon im kommenden Kapitel zu erzählen ist.