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Das letzte Kapitel

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Als 1912 Cosmas Alder, der letzte Bewohner von Eschberg, einem Bergdorf im mittleren Vorarlberg, auf seinem verwahrlosten Hof verhungert war – nicht einmal die Alten im nahen Götzberg ahnten einen noch lebenden Menschen dort oben –, beschloß auch die Natur endgültig, jeden Gedanken an dieses Dorf auszulöschen. Es schien, als hätte sie fast respektvoll den erbärmlichen Tod ihres letzten Bezwingers abgewartet, um dann mit Wucht und für immer in die lichten Weiler zu fallen. Was ihr vor Jahrhunderten der Mensch weggenommen hatte, holte sie jetzt zurück. Den einstigen Dorfweg und die Pfade zu den Gehöften hatte sie längst mit stachligem Gestrüpp in Beschlag genommen, die Reste der verkohlten Ställe und Häuser verrottet, ihre Grundmauern bemoost. Nach dem Tod des störrischen Greisen fiel sie immer bunter und launiger in die steilen Bergbündten, wo ihr ehemals die Äxte jeden Jungbaum hartnäckig abgeschlagen.

Und die Esche, ihr Lieblingsbaum, wuchs wieder in großer Zahl und stark.

Nach dem Dritten Feuer innerhalb eines einzigen Jahrhunderts – sein nächtlicher Widerschein wurde noch vom Appenzellischen her lärmend bestaunt –, begriffen auch die Lamparter und Alder, die einzigen Geschlechter in Eschberg, daß Gott dort den Menschen nie gewollt hatte. In der Nacht des Dritten Feuers, am 5. September 1892, verbrannten in ihren Betten zwölf Menschen, in den Ställen achtundvierzig Stück Vieh. Den ganzen Tag hatte ein höllischer Föhnwind im Gebälk der Häuser gewühlt, hatte in den Wäldern rumort und geächzt, daß man im nachhinein behaupten durfte, da habe einer im festen Wissen um die kommende Katastrophe ein tausendstimmiges Gelächter angehoben. In der Nacht des Dritten Feuers wagte niemand in Eschberg, seinen Herd anzuzünden, nicht einmal die Kerze zum Gebet. Jeder wußte – das Kind aus den drohenden Erzählungen und den plötzlich gespenstischen Augen der Alten –, was ein offenes Licht zur Föhnzeit anzurichten imstande war. Ein Lamparter, der das Zweite Feuer erlebt, sich dunkel des Ersten besinnen mochte, ging noch in derselben Nacht von Hof zu Hof, einem jeden, wenn nötig mit Gewalt, das Licht zu verbieten. Er schlich hin und spähte in Ställe, Stuben und Gaden und wurde nicht des geringsten Scheins gewahr. Er naste nach den Schornsteinen und roch nicht einmal die Prise kalten Rauchs. Gegen zwei legte er sich auf seinen Laubsack und schlief ruhiger.

Gegen drei verbrannte das ganze Dorf und der Wald um das Dorf in weniger als einer Stunde. Von der Kirche St. Wolfgang und die Hänge hinauf und über die Waldrücken bis zu den Berggraten trieb der Föhn das schreiende Feuer.

In der Nacht des Dritten Feuers flüchteten die Überlebenden im Bachlauf der Emmer brüllend, höhnend und weinend vor Zorn und Verzweiflung hinunter ins Rheintalische, wo sie in der Folge der Zeit entweder in Armut verkamen, oder als bloße Brotknechte bis zum Ende ihres Lebens das Land anderer bestellten. Cosmas Alder, der wie die restlichen zwölf verbrannt geglaubt wurde und für welchen man im nahen Götzberg schon das Dies-Irae gesungen hatte, verblieb als einziger Mensch auf seinem verkohlten Gehöft. Er hatte in den feuchten Mauern seines Kellers geschlafen, denn er pflegte nächtens mit seiner dort begrabenen Tochter Zwiesprache zu halten. Cosmas’ Tochter war eine Abtreiberin gewesen, und der Pfarrer von Götzberg hatte ein kirchliches Begräbnis nicht verantworten können. Als nun Cosmas Alder sah, was Gott angerichtet hatte, beschloß er, auf seinem Hof zu bleiben und untätig den Tag des Jüngsten Gerichts zu erwarten. Zwanzig Jahre hauste er in seinen Ruinen, unternahm nicht die geringste Anstrengung, den Hof wieder aufzubauen, verließ ihn nur, wenn der Hunger ihn immer tiefer in die fröhlichen Jungwälder trieb. Schließlich verhungerte er wirklich. Nicht weil es an Nahrung gefehlt hätte – ein Eschberger wußte alles zu verkochen –, sondern schlicht aus lebensmüdem Trotz.

So zeigte der letzte Alder und zugleich letzte Eschberger noch einmal jenen verhängnisvoll störrischen Charakter, welchen überhaupt das ganze Dorf jahrhundertelang an sich getragen und welchem es schließlich seine Auslöschung zu verdanken hatte.

Schlafes Bruder

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