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Die Geburt
ОглавлениеZum dritten Mal an diesem Nachmittag Johannis 1803 wog Seff Alder die Tür in den Gaden, wo sein Weib lag, die zweite Niederkunft erbettelnd und erschreiend. Es schien, als ließe sich ihr Zweites nicht erpressen, als sperrte es sich gegen diese Welt, in die es aus freiem Willen nicht treten wollte. Sosehr sich die Bedauernswerte anstrengte, es zu gebären und schließlich unter gellendem Weh die Hände gegen den Bauch stemmte, das Kind kam nicht zur Welt.
Seff hob den Atem. Die Luft war satt vom Schweiß und Blut der Seffin. Er wandte sich zum Fenster und riß es so mächtig auf, daß davon das halbe Zimmer in Vibration geriet. Vom Fensterstock die Wand hinab vibrierte es, über die Dielen zur Bettstatt und hinauf in den fiebernden Kopf der Gebärenden. Das Fenster zu öffnen schien der einzige Trost, den er seinem Weib geben konnte. Seff war kein Redner. Die Luft spiegelte die Sonne, so schwül war es an diesem Junitag, und ihr Zug bewirkte keine Linderung. Seff spähte aus dem Fenster, hinab zur äußersten Biegung des Dorfwegs, woher doch endlich diese gottverreckte Hebamme kommen mußte. Zwei Stunden und mehr waren vergangen, seit er den Buben nach Götzberg geschickt hatte. Dann sah er sie ungläubig wirklich aus der Kurve treten, wie sie sich mit ihrem roten Lederkoffer und den geschulterten Gurten heraufplackte. Sein Bub, sah er, lief hinterdrein. Seff schob das Fenster zu, ging zu seinem Weib, blickte in den Wasserkrug auf dem Kästchen, goß das unberührte Glas randvoll, wog die Tür und erdachte seinem Weib ein In-Gottes-Namen. Er hätte ihr sagen mögen, daß die Ellensönin gekommen sei. Seff war kein Redner. Unten wartete er in der sperrweit geöffneten Tür, und als die Hebamme schwitzend und schnaufend eintrat, wies er ihr Most, die zwanzig Kreuzer Taggeld und die Stiege zum Elterngaden. Dann ging er mit seinem Buben in den angrenzenden Weiler hinüber, das Heu ein letztes Mal zu wenden.
Sein Weib oben im Gaden gellte vor Schmerzen.
Die Ellensönin machte sich freudlos und ohne die längst gebotene Eile ans Werk. Als sie auf der engtrittigen Stiege zum dritten Mal stolperte, war es beschlossene Sache, den Plan, den sie beim Heraufweg im geschwätzigen Kopf hin- und hergewälzt hatte, unwiderruflich in die Tat zu setzen.
Diese hier sei endgültig die letzte Geburt. Sie sei noch immer jung, trotz der einundzwanzig Jahre. Und ihre Stirn zog ungeduldige Falten. Außerdem habe sie zarte Hände, das habe ihr auch schon einer gesagt. Händ’, viel zu zart für die Hebammerei. Und sie runzelte die Stirn noch unzufriedener. Auf dem Waschtisch ordnete sie ihr Instrumentarium in der Reihenfolge, wie sie es auf der Hebammenschule zu Innsbruck gelernt hatte: Die Klistierspritze, daneben immer die Taufspritze, das Mutterrohr, die Wendungsschlinge, den Katheter und zum Schluß die Nabelschere. Dann fing sie an, die Gurte nach Länge und Funktion zu ordnen.
Die Seffin gellte vor Schmerzen.
Doch, sinnierte die Ellensönin, sie wolle jetzt das Angebot des Franz Hirsch aus Hötting annehmen und sich beim Beck verdingen. Das garantiere ihr Freibrot und ein höheres Taggeld, mindestens dreißig Kreuzer. Dann sei sie auch die leidigen Händel mit dem Gemeindediener für immer los. Das ewige Streiten ums weihnachtliche Wartgeld, das ihr doch der Herr Richter vom Civil- und Criminalgericht zu Feldberg persönlich zugesichert habe. Der Gemeindediener mit seiner bockigen Art wolle sie ja nur mürbe machen. Von ihretwegen. Es sollen das Geschäft in Zukunft ruhig die Freihebammen verrichten. Aber das wolle sie dann noch erleben, ob die dem Gemeindediener wirklich billiger zu stehen kommen. Nein, diesen Casus sei sie endgültig leid. Und überhaupt müsse ihr der Gemeindediener nichts vormachen. Nur weil sie ihn vor Jahren einmal beim Tanz abgewiesen, deshalb sei er jetzt so sekkant mit ihr. Was könne sie denn dafür, daß er ein Schwellmaul habe und Ziegenfüße.
Die Seffin gellte vor Schmerzen.
Außerdem stimme es nicht, daß ihr ein Mannsbild nie mehr einen Antrag machen werde, denn der Franz Hirsch aus Hötting habe ihr just vor zwei Wochen einen gemacht. Brieflich, jawohl brieflich. Und der Franz Hirsch aus Hötting sei in allem um vieles gebildeter als das Schwellmaul, dieser kleine aufgeblasene Gemeindediener. Zu guter Letzt sei der Franz Hirsch aus Hötting auch noch ein durchaus stattliches Mannsbild, wenn man von dem Buckel einmal absehe. Sie achte auf den Charakter, nur darauf achte sie. Und Innsbruck sei halt schon etwas ganz Großes. Was wolle ihr da ein Gemeindediener von der Welt erzählen, ist er doch in seinem Leben nicht weiter gekommen als bis nach Dornberg, drei Wegstunden von hier. Vielleicht werde sie aber gar nicht den Franz Hirsch aus Hötting nehmen. Sein Buckel sei halt recht bedacht doch ein böses Mallör, und sie sei eine liebliche Person mit zarten Händen. Händ’, viel zu schön für die Hebammerei. Das habe ihr der Feldwaibel Zenker bei seiner k. k. Soldatenehre geschworen, jawohl. Ein kurzes Lächeln nistete sich in ihre Mundwinkel, verflog aber, als sie erneut an den Krüppel aus Hötting denken mußte, dem sie sich zwar nicht versprochen, dem sie aber mit deutlichen Andeutungen die Hoffnung entzündet hatte.
Die Seffin gellte vor Schmerzen.
Er sei in Wort und Tat ein gehöriger Kerl, wenn er bloß nicht an dem störenden Buckel trüge. Und daß er oft auf der Lunge marod, sei ihr natürlich nicht unentdeckt geblieben. Was sie denn da für Sachen denke. Schließlich achte sie auf den Charakter, nur auf den achte sie. Ein bißchen gemütskrank sei er auch. Was man vom Feldwaibel Zenker nun wirklich nicht behaupten könne. Dafür besitze der bestimmt nicht einmal zwei Morgen Land, während hingegen der Franz Hirsch aus Hötting wohlhabend sei. Vielleicht könne sie sich als Dienstbotin in einem der noblen Bürgershäuser vorstellig machen, und den vielen Krankheiten in den Häusern sei sie dann auch nicht mehr ausgesetzt. Jedenfalls wolle sie, falls sie sich bis zum Abend noch immer nicht entschieden, an der Wallfahrt der Herz-Mariä-Bruderschaft auf den Udelberg teilnehmen und die Heilige Jungfrau inständig um Ratschlag bitten. Nach Innsbruck verziehen möchte sie auf jeden Fall. Bevor sie aber gehe, wolle sie dem Schwellmaul so unverschämt die Schande ins Gesicht sagen, daß ihm vor Schreck der Bart abfalle.
Die Seffin lag und weinte ruhig.
Das beste sei, sich an die Weisung der Mutter zu halten, die Menschen nicht nach ihrem Äußeren zu beurteilen, sondern auf den Charakter Obacht zu geben. Sie tue das ohnehin. Und es sei schon wahr, daß der Feldwaibel Zenker einfach zu viel Spott und Alfanzerei mit den Menschen treibe. Sogar gegen den Kaiser habe er schon Äußerungen gemacht, während der Franz Hirsch aus Hötting nun überhaupt kein Lächeln von den Lippen bringe und...
Als sie das blutbeklatschte Linnen aufhob, lag das Kind mit gerissener Nabelschnur auf dem Knie der Seffin. Erschrocken nahm die Hebamme das Kind auf, trug es zum Waschtisch und schnitt ihm die Nabelschnur mit zittriger Hand ab. Sie stierte auf das Kind, horchte ängstlich an ihm, schüttelte und schlug es zuletzt.
Es schrie nicht.
Sie hielt den Säugling in ihren tropfenden Händen, schlug abermals auf ihn ein, horchte, hob den Atem, um das kleine Herz endlich schlagen zu hören. In ihrer Verzweiflung stimmte sie das Tedeum an, sang flehentlich und schließlich laut aus heller Angst. Plötzlich spürte sie den Fleischklumpen zusammenzucken. Dann noch einmal. Sie hielt mit dem Singen inne, horchte wieder und wußte jetzt, daß der Klumpen lebte. Das Tedeum hatte dem Kind das Leben gerettet.
Die Ellensönin konnte sich hernach nicht mehr darauf besinnen, welchen Geschlechts das Kind wirklich war. Jedenfalls gab sie beim Gemeindediener an, daß dem Joseph und der Agathe Alder ein Söhnchen geschenkt worden war, womit sie die Sache trefflich erraten hatte.
Wir verlassen an dieser Stelle die Ellensönin und ihr schwatzhaftes Wesen. Sie wird uns nicht mehr begegnen. Darum möchten wir hinzufügen, daß die Geburt des Johannes Elias tatsächlich ihr letzter Hebammendienst war, daß sie nach Innsbruck verzog und dort den – man möchte denken Feldwaibel Zenker, nein – Franz Hirsch aus Hötting ehelichte. Sie hatte sich also zugunsten des Charakters entschieden. Der Verbindung waren keine Kinder gegönnt, und Franz Hirsch aus Hötting starb 1809 an der Schwindsucht. Die Witwe heiratete ein zweites und gar ein drittes Mal. Als letzten übrigens – es ist nicht zu glauben – das Schwellmaul mit Ziegenfüßen, den Gemeindediener von Götzberg. Ab etwa 1850 verliert sich ihre Spur. Noch ein Jahr zuvor läßt sie sich aktenkundlich im Zusammenhang einer Erbschlichtungssache feststellen. Aber wir können nichts darüber aussagen, auf welche Weise sie ihr Leben beendet hat. Jedenfalls war sie zugegen, als ein genialer Musiker geboren wurde.
Nun, wer wäre nicht stolz, in seiner bescheidenen Biographie auf ein derartiges Ereignis hinweisen zu dürfen? Gesetzt, man hätte der Ellensönin damals ins Gesicht schreien dürfen, daß sich an jenem Nachmittag Johannis 1803 unter ihren Augen ein doppeltes Wunder ereignet hatte, das der Mensch- und das der Geniewerdung, sie hätte nichts begriffen. Und die anderen, die Seffin im Kindbett, der Seff und sein Bub hätten es ebensowenig begriffen. Was aber das Schlimmste ist: Als die Begabung dieses Menschen längst offenkundig war, wollte es noch immer niemand begreifen.