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Die Stimme, die Tiere und die Orgel

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Zehn Jahre gelebt und zum Mann gereift. Sein Haar wurde schütter, in den Stirnecken fraß die beginnende Glatze. Weil er aussehen wollte wie alle Jungen seines Alters, versengte er sich die Bartstoppeln mit einer brennenden Kerze in dem Glauben, der Bart möchte nicht wieder sprießen. Das gewaltige Erlebnis im Bachbett der Emmer hatte sein Wachstum durcheinandergebracht. Er hatte das Aussehen und die Stimme eines Mannes, aber die Größe eines zehnjährigen Kindes. Er wollte ein Kind sein, wollte reden können wie ein Kind. Was die Merkwürdigkeit seines äußeren Erscheinens anlangte, so waren ihm Dinge zu Ohren gekommen, die der Verstand nicht begreifen konnte. Daß Elias unverdorben blieb in all dem dörflichen Schmutz von Mutmaßungen, Lügen und Verleumdungen ist allein dem Wesen seines Herzens zuzuschreiben. Es war gut. Es hatte die Kraft zu hoffen.

Doch wird das Sonderliche, wenn es jeden Tag gesehen, zum Alltäglichen, und bald gewöhnte man sich an den Anblick dieses Mannkindes. In der Schulstube fiel es nicht auf, daß zwischen Wasserköpfen, Blatterngesichtern, Mongoloiden und Inzüchtigen ein schmächtiger Mensch mit gelbleuchtenden Augen hockte. In jener Zeit bemerkte der Dorflehrer Oskar Alder, wie elend und mager die Seffschen Buben geworden waren. Ihre Gesichtchen waren eingefallen, das Kinn überspitz geworden, unter den Augen hatten sich schwarzblaue Ringe gebildet. Denn seit Jahr und Tag kochte die Seffin ja nichts anderes als eben ihr liebloses, wäßriges Grießmus. Darum hieß Oskar Alder die Buben eine Zeit in fremde Kost gehen. Als dann die Seffin zur Besinnung gefunden hatte, gediehen auch die Söhne wieder.

Und es geschah, daß den Elias etliche Weiber plötzlich mit lüsternen Augen zu betrachten pflegten; nicht länger nach den gelben Pupillen schielten, sondern nach dem Ort seines übermäßig entwickelten Geschlechts. Elias begriff den Sinn ihrer hellen Worte nicht, begriff nicht das hämmernde Herzschlagen zwischen ihren Brüsten. Er trachtete, diesen Weibern hinfort nicht mehr zu begegnen. Ein Weib vor allen bemühte sich um den kleinen Mann. Es hieß Burga, hauste allein, ihr Versprochener war in einem Franzosen-Scharmützel umgekommen. Die Burga liebte die Menschen und das Leben, darum hatte man sie zur Dorfhure gemacht. Sie stand in übler Nachrede, weil sie am Sonntag nicht zum Amt ging. Die Burga wäre aber gern zum Amt gegangen, hätte sie nicht in der vordersten Kirchenbank, der Ledigenbank, knien müssen. Die Ledigenbank war eine von den übrigen Weiberbänken abgesetzte Prangerbank, ein bloßer Balken ohne Rückenlehne. Dort mußten all jene Mädchen und Weiber knien, welche ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hatten. Die Burga aber war eine Abtreiberin, das war dorfbekannt.

Zu jener Zeit beschloß Elias, öffentlich kein lautes Wort mehr zu sprechen. Das furchtbare Erlebnis am Festo Trinitatis verfolgte ihn noch bis hinein in die tiefsten Träume. Er fing an, sich und seine Baßstimme zu hassen. Wenn er aber reden mußte, in der Schule, bei der Christenlehre, dann sprach er ohne Stimmton, hauchte und flüsterte, als litte er an stetiger Heiserkeit. Diese Art zu reden strengte ihn so sehr an, daß er schließlich Kopfgrimmen bekam davon. Darum wurde er nur noch einsilbiger.

In seiner Not ging er eines Tages hinab zur Emmer, wo er wußte, daß ihn kein Ohr hören konnte. Wie das Wasser seinen Lieblingsstein geschliffen hatte, so schliff er jetzt an seiner Stimme. Erst schrie er stundenlang alles hinaus, was es hinauszuschreien galt. Er schrie sich bis zum Rand der Erschöpfung, weil er glaubte, auf diese Weise würde der Baßton von seiner Stimme weggehen, würde letztlich ein heller Knabensopran übrigbleiben. Elias täuschte sich, denn es blieb nur Heiserkeit. Da fing er an zu weinen, ließ die Beine leblos ins Wasser hängen und glarte stumpf hinauf zum Wasserfall. Glarte stumpf in die weiße, lärmende Fontäne, in den unerschöpflich herabstürzenden Bergbach.

Eines Juniabends, zwei Tage vor seinem elften Geburtstag, saß er wiederum schwermütig auf seinem Stein, glarte in den Wasserfall, und plötzlich ging ihm ein Licht auf. Er entdeckte, daß Wasser immer von oben nach unten fließt, daß ein Stein herabfällt und nicht bergauf, daß auch die Regentropfen fallen, ja selbst eine Heublume mit der Zeit doch zu Boden sinkt. Er hatte das Gesetz der Schwerkraft entdeckt. Also suchte er seine Stimme auf diese Ordnung zu bringen, ließ sie von der Höhe in die Tiefe gleiten, von der Tiefe in den Kopf. Nach einigen Stunden war er in der Lage, mit Kopfstimme zu reden.

Da ereignete sich etwas Sonderbares: Er war gerade damit befaßt, die Kopfstimme in die obersten Register zu treiben, als ein Fuchsenjunges aus dem Unterholz schlüpfte, ihm respektlos ins Gesicht blinzelte, die Schnauze in die Luft hob, einen Satz machte und just vor seinen Füßen zu stehen kam. Elias erschrak heftig und mit ihm das Füchslein, und er sah den rostbraunen Schweif im Hag verschwinden. Dann kam es wieder, hielt sich aber in fast beleidigter Distanz. In die feucht-dunklen Spalten beim Wasserfall kam flattriges Leben. Fledermäuse waren vor der Zeit erwacht, schossen erregt hin und her und fanden sich nicht mehr zurecht. Als eine Fledermaus plötzlich auf das Haupt des Elias zustürzte, auf die Steinplatte schnellte und als grau-blutiger Patzen klebenblieb, wurde ihm allmählich angst. Zur selben Zeit schlugen die Hunde von Eschberg an, und ihr vielstimmiges Gebell wollte nicht enden. Nicht lange, und es krabbelten zwei Feuersalamander auf den Stein in der irrigen Meinung, daß die Sonne aufgegangen sei.

Elias hatte – wir finden keine andere Erklärung – die Hörfrequenzen der Tiere getroffen, hatte im Ultraschall der Fledermäuse gesungen, in den Frequenzen der Füchse und Hunde gepfiffen. Er hatte zu den Tieren geredet, ohne daß er es ahnte.

In jenen Tagen bemerkte der Lehrer Oskar Alder eine Veränderung an dem Mannkind. In der Schulbank mochte es nicht mehr stillhalten, wetzte ungeduldig den Hosenboden auf und ab, und einmal brach ihm gar die Schiefertafel entzwei. Wenn der Lehrer um Auskunft bat, weil kein Kind mehr Auskunft wußte, schien der Junge vollkommen abwesend. Das ließ den Lehrer stutzen, war Elias doch niemals um eine Antwort verlegen gewesen. Oskar hatte nämlich oft über das Gedächtnis dieses Kindes gestaunt, und auch dem langnasigen Kuraten Beuerlein war es gleich ergangen. Das Kind war in den Dingen der Christenlehre derart beschlagen, wußte so trefflich alle Namen und Geschichten der beiden Testamente herauszusagen, daß sich der Kurat sehr zusammennehmen mußte, um den perlenden Gedanken folgen zu können. Nach der Christenlehre sah man den Kuraten oft die Bibel studieren, die eine oder andere Stelle nachlesen. Gerne hätte Kurat Beuerlein den Elias in die Jünglingskongregation nach Feldberg gegeben, aber das scheiterte am Willen des Vaters. Melken und Mistausführen könne man auch ohne Studiertheit, sagte Seff. Womit er recht hatte, leider.

Schlafes Bruder

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