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EIN KOCH MUSS ZUM BUND

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»Oh, wir haben Sie ja ganz vergessen«, sagt mir die junge Frau im Einwohnermeldeamt. Eine interessante, gut bezahlte Anstellung als Küchenchef in einem renommierten norddeutschen Restaurant steht mir in Aussicht. Eine großartige Chance für einen gerade mal neunzehnjährigen Koch. Doch weil zuvor geklärt sein muss, wie lange ich dem Betrieb bis zu meiner Einberufung zum Wehrdienst zur Verfügung stehen kann, erkundige ich mich auf dem Amt nach deren Planung. Im gleichen Augenblick, in dem die Dame mir offenbart, dass ich gar nicht auf der Liste bin, ärgere ich mich über mein pflichtbewusstes Handeln. »Können wir es dann nicht dabei belassen?«, frage ich hoffnungsvoll. Doch es ist zu spät. Mit flinken Fingern ist mein Name bereits getippt. Der Computer hat mich als Wehrpflichtigen erfasst.

Seit diesem Tag gingen mir ständig Kindheitserinnerungen aus DDR-Zeiten an meinen Großvater durch den Kopf. Er war ein ranghoher Kommandeur der Kampfgruppen und hat mich oft zu Militärparaden mitgenommen. Stolz sah ich zu ihm auf, wenn er in seiner prächtigen Uniform mit ordenbehängter Brust von allen militärisch zackig und respektvoll gegrüßt wurde. Soldaten waren in der DDR grundsätzlich etwas ganz Besonderes. Seit der ersten Schulklasse sahen wir in unserer Fibel Geschichten und Bilder von Soldaten, die unser Land beschützten. Selbstverständlich schuldete das Volk ihnen dafür Dank und Anerkennung.

Einmal durfte ich meinen Opa am Tag der offenen Tür in eine russische Kaserne begleiten. Das war aufregender als Geburtstag und Weihnachten zusammen. Er zeigte mir alle Fahrzeuge und ich durfte sie anfassen, mich hineinsetzen und ihm Dutzende Fragen stellen. Mich ärgerte zwar, dass ich keines der Gewehre anfassen sollte, ebenso, dass mein Großvater abwinkte, als ein russischer Soldat mir eine Pistole zeigen wollte, aber es gelang ihm rasch, mich wieder aufzumuntern, indem er mich in einen Panzer setzte und aus der Deckelluke schauen ließ. Seit dem Besuch auf dem Meldeamt kamen mir auch wieder die langen Familienfahrten mit dem Trabant von Rostock nach Berlin in den Sinn. Dort überholten wir häufig Kolonnen von NVA-Transportern. Meine Schwester und ich winkten den Soldaten vom Auto aus zu. Bei den 80km/h Reisegeschwindigkeit der ostdeutschen Rennpappen hatte man reichlich Zeit dazu. Die Soldaten lachten dann und winkten uns zurück. Besondere Freude machte es uns, wenn sie uns mit dem Tatra oder Ural per Lichthupe antworteten. Die Bezeichnungen dieser aus sowjetischer Produktion stammenden Fahrzeuge der NVA hatte mir mein Opa schon früh beigebracht.

Zu meinem achten Geburtstag bekam ich von ihm ein Kinderbuch geschenkt, das ich seither sorgsam aufbewahre. Es heißt »Unsere Nationale Volksarmee« und informiert über Land, Luft-und Seestreitkräfte der Nationalen Volksarmee und über den Dienst bei den Grenztruppen der DDR. Zahlreiche farbige Zeichnungen und Fotos bilden die damals moderne Technologie der Streitkräfte der NVA ab. Schützenwaffen, Panzer, Kanonen, Jagdflugzeuge, Raketen; Schiffe und Boote der Volksmarine werden präsentiert und interessante, vielseitige militärische Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten in Aussicht gestellt. Stundenlang konnte ich mir das Buch ansehen. Die Panzer und die Fallschirmjäger der NVA malte ich besonders gerne ab. Diese Bilder hingen lange Zeit über meinem Bett oder bedeckten den Tisch in meinem Kinderzimmer.

An meiner Schule sah ich den älteren Schülern vom Klassenfenster aus neidisch bei ihren militärischen Übungen auf dem Pausenhof zu. Ich wollte auch im braunen Sportanzug und mit einem Holzgewehr, das dem AK47 nachempfunden war, Nahkampfübungen absolvieren, statt Mathe zu pauken. Im Unterricht wurde häufig über den Zweiten Weltkrieg geredet. Uns wurde vermittelt, dass der Kapitalismus ein schlimmes Übel sei, das mit jeglichem Krieg in direktem Zusammenhang stehe. Doch dank unserer Grenzsoldaten und der Soldaten der Nationalen Volksarmee sei unsere Heimat gut geschützt. Ich war zutiefst vom selbstlosen Edelmut der Soldaten überzeugt.

Etwa drei Monate nach meinem Termin im Meldeamt erfolgt die Musterung. T1– Tauglichkeitsstufe 1, das bedeutet, dass ich alle Tests der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit besonders gut bestanden habe und für jede Verwendung bei der Bundeswehr geeignet bin. Ich darf mir sogar aussuchen, zu welcher Truppengattung ich mich entsenden lasse. Man empfiehlt mir, mich für einige Jahre bei der Luftwaffe zu verpflichten, und stellt mir eine Ausbildung zum Hubschrauberpiloten in Aussicht. Mir kommen die ausgedehnten Gespräche über das Militär in den Sinn, die mein Großvater mit meinem Vater geführt hat. Auch er hat in der Nationalen Volksarmee gedient. In ihren Unterhaltungen zollten sie den Fallschirmjägern, die international als Eliteeinheit ausgebildet werden, immer sehr viel Respekt. Dort wären die besten Soldaten anzutreffen, denke ich. Wenn ich es mir also schon aussuchen kann, will ich selbstverständlich diesem besonderen Kreis angehören. Ich entscheide mich für eine Ausbildung zum Fallschirmjäger.

Am frühen Morgen des 4. Mai 1998, 21 Tage vor meinem zwanzigsten Geburtstag, ist es so weit. Der Kofferraum meines alten, silbernen Ford Sierra ist bis obenhin mit Kleidung und Dingen gefüllt, von denen ich denke, dass sie mir nützlich sein werden, denn meinem Vater zufolge würde ich die nächsten sechs Monate keine Gelegenheit haben, nach Hause zu fahren. Meine Mutter und meine beiden Schwestern umarmen und drücken mich, verabschieden sich tränenreich. Im Hintergrund läuft das Lied »Time to Say Goodbye«. So viel Dramatik ist zu viel für mich. Ich fühle mich schrecklich und steige ganz schnell in mein Auto. Bis zehn Uhr muss ich mich in der Kaserne in Varel einfinden. Nahe dem Ziel überhole ich einige Militär-Lkw. Auf der Ladefläche sitzen unglücklich dreinschauende junge Männer in Zivil unter der geöffneten Plane, die einen sehnsüchtigen Blick auf die hinter ihnen liegende Freiheit zu werfen scheinen. Acht Mann sitzen dort jeweils Rücken an Rücken auf einer schmalen, ungepolsterten Holzbank, die mittig längs der Ladefläche aufmontiert ist. Der Fahrtwind pfeift ihnen offensichtlich kalt unter die Plane. Wie einer von ihnen mir später erzählte, waren sie mit dem Zug angekommen und an dem kleinen Bahnhof nahe der Kaserne von grimmigen, wortkargen Soldaten des Fallschirmjägerbataillons 313 erwartet worden. Bei dem Anblick bin ich froh, noch in meinem warmen Auto sitzen zu können.

Am Kasernentor ist meine Schonzeit allerdings vorbei. Durch den hastigen Aufbruch bei meinen Eltern habe ich meinen Einberufungsbescheid auf dem Küchentisch liegen lassen. »Sie haben was …?«, ranzt mich der Wachsoldat an. »Sie haben Ihre Einberufung liegen lassen? Gewöhnen Sie sich so eine Scheiße hier ganz schnell ab, ansonsten kann ich Ihnen jetzt schon versprechen, dass Ihnen hier der Arsch hochgebunden wird!« Ich bin völlig perplex. Dass ich wegen des fehlenden Bescheids gleich so zusammengeschissen werde, hatte ich nicht erwartet. Eingeschüchtert und etwas betreten fahre ich über das Kasernengelände zum Parkplatz für die Neuankömmlinge. Auf keinen Fall will ich sofort den Ärger auf mich ziehen und wie in dem Film »Full Metal Jacket« zum »Private Paula« werden, der ständig schikaniert wird. Der Kasernenblock, in dem ich mich melden soll, liegt dem Parkplatz genau gegenüber. Es ist ein rotes Backsteingebäude, dem Erscheinungsbild nach zu urteilen wurde es zwischen den beiden Weltkriegen erbaut. Der Grundriss gleicht einem H. Die Gebäudeflügel umfassen somit zu beiden Seiten der Querverbindung eine freie Fläche U-förmig.

Eine dieser Flächen ist gepflastert. Dort stehen bereits einige junge Männer, die von vorbeikommenden Soldaten kritisch beobachtet werden. Wer mit einem freundlichen Empfang gerechnet hatte, sollte enttäuscht werden. Ein Soldat steht ihnen gegenüber und gibt mir die Anweisung, mich zu den anderen zu stellen. Wir stehen alle in einer Linie nebeneinander. Hinter jedem von uns liegt sauber abgelegt unser Gepäck. Der hünenhafte, muskelbepackte Soldat steht wie eine Statue da. Die Füße schulterbreit auseinandergestellt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Ein bordeauxrotes Barett bedeckt eng anliegend seinen kurz geschorenen Schädel. Die aufeinandergepressten Lippen sind von einem dünn ausrasierten Bart umschlossen. »Reufer« ist auf dem Namensschild auf seiner Brust zu lesen. Keine Sekunde lang lässt er uns aus den Augen, bereit, jeden, der sich rührt oder seinem Nebenmann etwas zuraunen will, in die Schranken zu weisen. In einer Hand hält er einen Zettel und als sich zwanzig Minuten später eine Gruppe von acht Neuankömmlingen vor ihm versammelt hat, sagt er ganz schlicht: »Wenn Sie Ihren Namen hören, dann antworten Sie laut und vernehmlich mit ›Hier!‹. Danach nehmen Sie Ihre Gepäckstücke auf und gehen ins Gebäude. Dort wird Ihnen vom UvD die Stube zugewiesen. Legen Sie Ihr Geraffel dort ab und finden Sie sich danach sofort wieder im Lichthof ein!«

Das ist also der Lichthof, denke ich. Und obwohl ich den Rest nicht so ganz verstanden habe, frage ich lieber nicht nach, sondern orientiere mich an den anderen. Im Gebäude sammeln wir uns in einer kleinen Halle. Wir bekommen stapelweise Zettel in die Hand gedrückt, sogenannte PEBA. Im Klartext sind das Personalerfassungsbögen, die wir schleunigst lesen, ausfüllen und unterschreiben sollen. Am Ende weiß ich gar nicht mehr, was ich da alles unterzeichnet habe, aber mir bleibt auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Wir werden in einen Hörsaal gescheucht, dort beginnt sofort der Unterricht. Uns wird im Eilverfahren eingetrichtert, wie wir uns zukünftig zu verhalten haben. »Zum Essen haben Sie zehn Minuten Zeit – inklusive Hinund Rückmarsch, Anstehen und Abräumen. Niemand geht selbstständig irgendwohin. Sie werden auf allen Wegen von einem Ausbilder geführt und absolvieren diese im Laufschritt. Wer zum WC, zum Arzt oder sonstwohin alleine geht, meldet sich auf jeden Fall bei seinem Vorgesetzten ab und anschließend auch wieder zurück.«

Dafür habe ich eine gut bezahlte Anstellung als Chefkoch sausen lassen? Um mir hier alles vorschreiben lassen zu müssen? Von der Art und Weise, wie und wann ich eine Kopfbedeckung aufzusetzen habe, bis zum Fußnagel, der nach irgendeiner Zentralen Dienstvorschrift gerade und ja nicht rund abzuschneiden ist. Statt mit meiner Freundin gemütlich in unserer Wohnung zu sitzen, muss ich mich auf eine massive Einschränkung meiner persönlichen Freiheit einstellen. Die nächsten zehn Monate soll ich mit fünf Kameraden, die mir bis dato völlig unbekannt sind, in einer kleinen, miefigen Stube hausen. Außer drei durchgelegenen Etagenbetten mit fleckigen Matratzen, sechs hässlich orangefarbenen oder grünen Spindschränken sowie zwei einfachen Tischen und sechs ungepolsterten Stühlen in derselben Farbauswahl ist der Raum kahl. Die Wände sind weiß getüncht und der Boden ist mit einem dunklen Parkett belegt, das seine glanzvollen Tage lange hinter sich hat. Ich frage mich, worauf ich mich hier eingelassen habe. Bis in die Abendstunden wird uns absolute Aufmerksamkeit abverlangt. Wem trotz der Kälte im Hörsaal die Augen zufallen, wird befohlen aufzustehen. Einer schläft allerdings sogar im Stehen ein, mein Stubenkamerad Limmann, direkt neben mir. All meine Bemühungen, ihn mit Ellbogenstößen in die Rippen wach zu halten, haben nicht gefruchtet. Mit Liegestützen soll er seinen Kreislauf wieder in Schwung bringen.

Es ist seit Langem dunkel, als der Unterricht endlich beendet wird. Ins Bett dürfen wir allerdings nicht, wir müssen noch zur Einkleidung nach Wilhelmshaven fahren. In kalter Nachtluft steige ich auf die Ladefläche eines dieser gut dreißig Jahre alten Militärtransporter, die mir auf dem Weg zur Kaserne begegnet sind. Nun sitze ich also selbst auf dieser schmalen Holzbank und schnalle mich und drei Leidensgenossen mit einem Gemeinschaftsgurt über die Hüften an. Das ist nötig, denn dem Fahrer scheint es völlig egal zu sein, ob er Personen oder Sandsäcke an Bord hat. Als wir die Kleiderkammer betreten, sind wir froh, uns in dem gut beheizten Gebäude etwas aufwärmen zu können. Wer jedoch seine Ausrüstung für die nächsten zehn Monate entgegengenommen hat, muss mit einem randvoll gepackten Seesack und einer genauso voluminösen sogenannten Kampftragetasche sofort wieder vor die Tür und dort auf die Abholung warten. Die Raucher nutzen die Gelegenheit, um sich gierig die erste Zigarette seit Stunden anzuzünden. Wir wuchten unsere neue Garderobe auf die eintreffenden Fahrzeuge und fahren zurück zur Kaserne, wo wir todmüde ins Bett fallen.

Keine vier Stunden später müssen wir wieder aufspringen. Um 05:00 Uhr hallt die Stimme des UvD durch das Gebäude: »Fünfte Kompanie!«, gefolgt von einem langgezogenen »Aufstehen!« Einhundertzwanzig blaue Plastikbadelatschen klappern eilig über die blassgelben Bodenfliesen zu den Gemeinschaftswaschräumen. Wir tragen alle nur die schlabberige, hellblaue Schlafanzughose und haben außer einem olivgrünen Handtuch einen Waschzeugbeutel gleicher Farbe in den Händen. Die Waschbecken an der Wand sind zuerst belegt, denn über ihnen hängt ein Spiegel, in dem man wenigstens sehen kann, ob man sich bei der flinken Rasur die Wangen zerschneidet. Wer zu spät auf die Beine kommt, muss sich mit einem der beiden Waschbecken zufriedengeben, die den Raum auf der ganzen Länge mittig teilen. Sie erinnern mich an die langen Futtertröge in einem Rinderstall. Diejenigen, die nur noch dort einen Platz finden, schauen statt in einen Spiegel in das verschlafene Gesicht eines Kameraden, der sich die Zähne putzt oder blind rasiert. Das geschieht natürlich alles unter den Augen eines Ausbilders. Jeder, der gegen den Befehl verstößt, den Waschraum nur mit freiem Oberkörper zu betreten, wird rigoros aufgefordert, das Schlafanzugoberteil auf die Stube zu bringen. Die acht Minuten, die einem für die komplette Morgentoilette zugestanden werden, verknappen sich dadurch merklich.

Kaum ist die Zeit abgelaufen, werden wir auf den Flur gerufen: »Zwoter Zug – vor den Stuben antreten!« Das ist das Signal, um die Stubentür, an der wir alle bereits mit blank geputzten Stiefeln und tadellos sitzender Uniform leise und lauschend warten, aufzureißen und in affenartiger Geschwindigkeit Aufstellung zu nehmen. Das hat man uns am Abend zuvor eingeschärft, ebenso, dass man beim Militär nicht »zwei« sagt, sondern immer nur »zwo«, um eine Verwechslung mit der ähnlich klingenden Zahl Drei auszuschließen. Wir werden mit strengem Blick begutachtet und wer noch einen Bartschatten hat, wird zum Nachrasieren geschickt. Einige müssen einen Knopf am Feldhemd schließen oder ihren Stiefelputz verbessern, weil die Sohle nicht mit Schuhcreme geschwärzt wurde. Als dem Ausbilder ein paar lose aus dem Stiefel hängende Schnürsenkel auffallen, verliert er die Geduld: »Sie haben eine Minute, um sich ordentlich anzuziehen! Auf die Stuben wegtreten!« Aber auch beim nächsten Antreten erregt etwas sein Missfallen und genauso bei den darauf folgenden, sodass wir wie ein aufgeregter Vogelschwarm zwischen Stube und Flur hinund herfliegen. Spätestens als wir nach dieser Flugschau auf dem Flur Liegestütze und Situps machen, sind wir alle schweißgebadet.

Nun werden wir zum Essen geführt und laufen wie junge Gänse in einer Reihe hintereinander her, verzweifelt um Gleichschritt bemüht, um dem Vordermann nicht ständig in die Hacken zu treten. In der Kantine wird das Frühstück hastig auf ein Tablett gerissen und an einem der ungedeckten weißen Tische verschlungen. Da wir nach Größe gestaffelt marschiert sind und so den Mannschaftsspeisesaal betreten haben, bleibt denjenigen, die unterhalb des Gardemaßes liegen, am wenigsten Zeit zum Essen. Den Rest des Tages hetzen wir von einer Ausbildungsstation zur nächsten und werden mit Dingen und Begriffen überhäuft, die völliges Neuland für uns sind. Als am Wochenende eine zweistündige Dienstunterbrechung ausgerufen wird und wir zum ersten Mal die Gelegenheit erhalten, im Mannschaftsheim ein Bier zu trinken, hält es niemanden auf seiner Stube.

Während der gesamten Grundausbildung werden wir im Laufschritt von einer Station zur nächsten gescheucht. Trotz der Anstrengungen gewöhne ich mich schneller als erwartet an den militärischen Drill und die gemeinsam mit meinen Kameraden durchgestandenen Abschnitte der Ausbildung. Zur Verblüffung meines Vaters lässt man uns am Wochenende nach Hause fahren. Lediglich drei Leute müssen in den sauren Apfel beißen und dem jeweiligen Unteroffizier vom Dienst, in der bundeswehrtypischen Art zu UvD abgekürzt, bei der unbeliebten, 24 Stunden dauernden Bewachung des Kompanieblocks helfend zur Seite stehen. Daher wird die Abkürzung GvD, für Gefreiter vom Dienst, auch gerne etwas derber interpretiert. Für alle anderen beginnt im Anschluss an den Stubendurchgang am Freitagmittag die sogenannte NATO-Rallye. Jeder versucht als Erster auf die Autobahn zu kommen, um dem folgenden Stau eine Nasenlänge voraus zu sein. Wer allerdings beim Stubendurchgang dabei ertappt wird, seine Ausrüstung schlampig gereinigt oder im Spind verstaut zu haben, kann sich auf eine späte Heimfahrt einstellen.

Die Rekrutenbesichtigung erlebe ich nach dieser Schinderei als krönenden Abschluss. Diese 36Stunden dauernde Prüfung alles dessen, was wir beigebracht bekamen, ist meine bislang größte körperliche Herausforderung. Durch das tägliche Training bin ich aber so gut vorbereitet, dass ich eine Leistung abrufen kann, die ich mir zuvor niemals zugetraut hätte.

Nach drei Monaten ist die Grundausbildung endlich überstanden. Die alten, olivgrünen Uniformen werden in der Kleiderkammer gegen neue in Flecktarnmuster eingetauscht. Es ist ein erhabenes Gefühl, den Feldanzug zum ersten Mal anzuziehen. Endlich ist man nicht mehr als Neuling zu erkennen, der kritisch beäugt und ständig korrigiert wird. Mit stolzgeschwellter Brust genieße ich das Privileg, die Kaserne nun in diesem Anzug verlassen zu dürfen. An den freien Wochenenden trete ich die Heimfahrt grundsätzlich als »Staatsbürger in Uniform« an. Ich identifiziere mich so sehr mit meiner neuen Aufgabe, dass ich mich selbst beim Autokauf für einen Citroën BX in Olivgrün entscheide. Jeder soll es sehen, jeder soll wissen, dass ich Soldat, mehr noch, dass ich Fallschirmjäger bin.

Einige Tage später wird meine Euphorie jäh gebremst, denn Kompaniefeldwebel Kams, der Spieß der Ausbildungskompanie, teilt mir mit: »Gefreiter Müller, ich habe Sie für die Truppenküche eingeplant.« Genau davor hatte mich mein damaliger Küchenchef gewarnt. Zum Abschied hatte er mir noch den Rat gegeben, so ein Vorhaben unbedingt abzuwenden: »In der Großküche einer Bundeswehrkantine verlierst du deine Reputation für die Haute Cuisine! Da kochen doch nur Maurer und Fliesenleger, bestenfalls Bäcker!« Also antworte ich: »Herr Hauptfeldwebel, ich möchte bitte nicht als Koch eingesetzt werden.« – »Was!? Warum denn nicht? Sie sind doch gelernter Koch!« Noch während ich ihm meine Gründe erkläre, zeigt sich ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen. »Gefreiter Einstedt hat mir vorhin dasselbe erzählt.« Einstedt hatte mit mir die Grundausbildung absolviert. Vor seiner Einberufung war er Koch in einem bekannten Münchner Gourmettempel. »Ihn habe ich jetzt als Mkf für die 3. Kompanie eingeplant. Sie können sich auf das Gleiche einstellen. Sie bleiben hier in der 5. und kommen in den Zugtrupp.« Mkf – Militärkraftfahrer – mehr konnte ich mir nicht wünschen. Ein guter Posten für einen Wehrdienstleistenden. Während andere sich bei Wind und Wetter, in voller Gefechtsmontur aufgerödelt, Blasen liefen, konnte man gemütlich Lkw fahren. Das hatte ich schnell begriffen, als ich während der kalten Tage meiner Grundausbildung jemandem als Beifahrer zugeteilt wurde und mir schon beim Öffnen der Kabinentür warme Heizungsluft entgegenkam. Ich freue mich über das Verständnis vom Spieß. »Jawohl, Herr Hauptfeldwebel!«, schmettere ich heraus, bevor ich die Dienststube verlasse. Er nickt mir nur kurz zu und vertieft sich wieder in den Papierwust, den er vor sich liegen hat.

Die folgenden drei Wochen an der Bundeswehrfahrschule in Oldenburg genieße ich, sie sind eine willkommene Abwechslung. Im Gegensatz zur Fallschirmjägertruppe geht man hier sehr viel lockerer und entspannter miteinander um, die Ausbilder blaffen einen nicht sofort wegen der kleinsten Verfehlung an. Hier werden alle Truppen des Heeres, der Luftwaffe und der Marine ausgebildet, die in der näheren Umgebung stationiert sind. Den meisten von ihnen ist es völlig fremd, zur Steigerung der Motivation und Leistungsbereitschaft Liegestütze und Klimmzüge zu machen oder die Kaserne mit vollem Marschgepäck im Laufschritt zu umrunden.

Den hierherbeorderten Soldaten, die mindestens einen zivilen Führerschein Klasse 3haben müssen, bringt man an der Fahrschule sehr umfassend die besonderen Anforderungen an einen Militärkraftfahrer bei. Das umfasst zu einem großen Teil auch die Technik, um Mängel selber erkennen zu können, weil man für die Verkehrssicherheit der Fahrzeuge Verantwortung trägt. Da ich mich seit Langem für Autos interessiere und für mein junges Alter über sehr viel Fahrpraxis verfüge, fällt mir der Unterricht leicht. Mir bleibt also genug Zeit, um nach Dienstschluss in der ehemaligen Garnisons und jetzigen Studentenstadt Oldenburg den Sommer zu genießen. Es macht Spaß, mal wieder ausgehen zu können und in einem der vielen Cafés oder Biergärten in der Flaniermeile, der Wallstraße, mit den Mädchen zu flirten. Die Nächte verbringe ich weiterhin mit meinen Kameraden auf der Stube, denn bis 22:00Uhr müssen wir uns zurückmelden. Zumindest wurde uns erlaubt, einen Fernseher in die Stube zu stellen. Nach Monaten der Fremdbestimmung ist es schon ein Privileg, abends entspannt vom Bett aus fernsehen zu dürfen. Wer erst nach dem Zapfenstreich in die Kompanie zurückkehrt, kann sich auf ein einseitiges »Jawohl-Gespräch« mit dem Vorgesetzten gleich am nächsten Morgen einstellen.

Die Abschlussprüfung absolviere ich, obwohl ich sie lässig angehe, in allen Bereichen mit Bestnoten. Die Zeit an der Fahrschule erschien mir wie ein schöner Urlaub, aber jetzt freue ich mich, zu meiner Kompanie zurückzukehren und neue Aufgaben zu erhalten. Abgesehen von meiner Tätigkeit als Fahrer bin ich im Trupp der Ausbildungskompanie beim Drill der Rekruten aktiv. Das, was mir selbst erst wenige Monate zuvor eingetrichtert wurde, gebe ich nun also an die nächsten Frischlinge weiter. Ein geschicktes System, denn so muss das vor Kurzem Erlernte erinnert und umso mehr verinnerlicht werden. Mir fällt auf, dass ich nicht anders mit den Rekruten umgehe, als ich es selbst erlebt habe. Die Notwendigkeit, einen unangenehmen Druck auszuüben, der eine schnelle Anpassung und Lernfähigkeit bewirkt, leuchtet mir in der neuen Rolle schnell ein. Ich erkenne an der Haltung der erfahrenen Ausbilder, dass es nicht um reine Schikane, sondern um einen erzieherischen Kniff geht. Terror und Angst bewirken eine erhöhte Lern- und Anpassungsbereitschaft. Anders ließe sich die Ausbildung, die bei vielen Jugendlichen mit einer Umerziehung einhergeht, in der kurzen Zeit nicht bewerkstelligen.

Da ich meine Aufgaben gut und zuverlässig erledige, gewinne ich schnell an Ansehen in meiner Einheit. Von einem Anschiss bleibe ich verschont – bis auf ein Mal. Da benötigt die 4. Kompanie für eine Gefechtsübung ein zusätzliches Transportfahrzeug samt Fahrer. Ich bekomme also den Auftrag, mich um 11:00 Uhr vormittags mit einem unserer Lkw beim Kompanieblock der 4. einzufinden, Hauptfeldwebel Strenz erwartet mich. Obwohl ich eine Viertelstunde eher ankomme, stehen die etwa hundert Männer der Kompanie bereits in voller Gefechtsmontur angetreten vor dem Block. Im rechten Winkel zueinander stehen der I., der II. und der III. Zug regungslos auf dem gepflasterten Platz. Ein Soldat steht am offenen Ende dieser Hufeisenformation den Männern gegenüber. Es ist Hauptfeldwebel Strenz. Jeder Zug besteht aus etwa dreißig Mann. Diese sind in drei bis vier Gruppen, bestehend aus jeweils acht Soldaten, unterteilt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass ihre Koppel mit der daran befestigten Trinkflasche, den Munitionstaschen, der Gasmaskentasche samt Zubehör und der Mehrzwecktasche, in die ein kleiner Kocher, Kochtopf, Essbesteck, Regenzeug und sonstiger nützlicher Kleinkram gestopft sind, schwer auf den Hüften liegt. Die Rucksäcke reißen an ihren Schultern und der Schlafsack obendrauf wird ihnen bei jedem Schritt in den Nacken wippen. Die Helme, griffbereit vor die Brust geschnallt, werden dazu im gleichen Takt auf die Rippen schlagen. Sicherlich wünschen sich die Maschinengewehrschützen in diesem Moment, das G3Sturmgewehr auf der Schulter zu haben, das ganze 7 Kilo leichter ist als ihr MG3. Dazu kommen noch die Munitionskästen. Jede Gruppe hat einen Maschinengewehrschützen, dem jeweils ein Kamerad aus der Gruppe als sogenannter MG-Zwo zugeteilt ist. Dieser hilft beim Schleppen der Munitionskästen und hat auf Befehl auch noch eine Lafette für das MG mit.

Den Männern ist anzusehen, dass sie nicht erst seit wenigen Minuten dort stehen. Ich bin etwas verwundert, lasse mir jedoch nichts anmerken und melde mich bei Hauptfeldwebel Strenz, der den Männern gegenübersteht. Ich habe kaum ausgeredet, da herrscht er mich an, weshalb ich erst jetzt da sei. Ich bin mir keiner Schuld bewusst und sage ihm, dass ich den Auftrag erhalten habe, mich um 11:00 Uhr bei ihm zu melden und wir es 10 vor 11 haben. »Zulu!!!«, brüllt er mich an, dass man es sicherlich noch vor meinem 400Meter entfernten Kompanieblock deutlich vernehmen kann. »Zulu!!! Kennen Sie denn nicht den Unterschied zwischen Bravo- und Zuluzeit?« Ich verstehe gar nichts und sage schlichtweg: »Nein.« – »Wie blöd sind Sie eigentlich? Sie sind zwei Stunden zu spät!« Wutentbrannt schreit er mich vor versammelter Mannschaft weiter an. Dabei steht er so dicht vor mir, dass er mich bei jedem Wort anspuckt. Mit betretenen Gesichtern und versteinerter Miene sehen die Männer dem Spektakel zu. »Wir brauchen Sie jetzt nicht mehr!«, brüllt er abschließend. »Melden Sie sich in Ihrer Einheit zurück und lassen Sie sich eine Einweisung in die NATO-Zeiten geben!«

Von der 4. Kompanie hatte ich bereits einige Horrorgeschichten gehört. Zum Beispiel, dass Hauptfeldwebel Strenz seine Untergebenen früher gerne mal mit einem alten Stahlhelm im Stillgestanden auf seiner Dienststube antreten ließ, um seinen Worten mit kräftigen Stockschlägen auf den Helm Nachdruck zu verleihen. Den Stahlhelm und den dazugehörenden »Disziplinator« hatte er noch als Insignien seiner Macht auf seiner Schreibstube, allerdings solle ihn eine für zwei Jahre verhängte Beförderungssperre davon abhalten, erneut zu ihnen zu greifen, heißt es. Ich will es nicht herausfinden. Der Anschiss hat mir auch so schon gereicht. Nie zuvor bin ich derart angeschrien und niedergemacht worden. Selbst mein alter Küchenchef, der fluchend mit Pfannen um sich schmiss, hat es niemals geschafft, dieses Gefühl der völligen Wertlosigkeit und Unfähigkeit, das ich jetzt empfinde, in mir auszulösen.

Komplett durch den Wind fahre ich den Lkw zurück und melde mich sofort bei meinem direkten Vorgesetzten, Leutnant Bleske. Ich sage ihm, was passiert ist, zittrig, verunsichert und innerlich bereit, die nächste Zurechtweisung zu erhalten. Leutnant Bleske aber reagiert völlig unverhofft. Ich solle mich erst mal wieder beruhigen und setzen. Dann greift er zum Telefon und lässt sich in meiner Gegenwart mit Hauptfeldwebel Strenz verbinden: »Herr Hauptfeldwebel, hier Leutnant Bleske am Apparat!«, sagt er und betont dabei die Dienstgrade in einer Art, dass sofort klar wird, wer das Sagen hat. »Was fällt Ihnen ein, einen meiner Soldaten vor der Front zusammenzuschreien? Wenn Ihnen irgendwas nicht passt, dann wenden Sie sich gefälligst an mich. Wir lesen hier keine Gedanken. Wenn Sie nicht klar sagen, was Sie wollen, dann ist das Ihr Problem! Mich brauchen Sie in Zukunft nicht mehr um einen Gefallen zu bitten. Ende.« Ein riesiger Stein fällt mir vom Herzen, als mir klar wird, dass mein Zugführer sich vollkommen auf meine Seite stellt und die Konfrontation mit einem altgedienten Hauptfeldwebel nicht scheut. Die meisten jungen Offiziere haben noch nicht den Schneid, den alteingesessenen Unteroffizieren entgegenzutreten. Sie sind die grauen Eminenzen jeder Kompanie. Wenn ein unerfahrener, junger Offizier, der gerade vom Studium kommt, versucht, alte Strukturen umzukrempeln und sein theoretisches Wissen in die Praxis umzusetzen, lassen ihn die alten Hasen einfach ins offene Messer laufen. Mit ihrer Erfahrung verfügen sie über ein Wissen, das in keinem Lehrbuch zu finden ist. Vieles von dem, was den Offizieren in der Theorie vermittelt wurde, funktioniert in der Praxis schlichtweg nicht. Sie merken dann schnell, dass sie ohne die Hilfe und Unterweisung der alten Unterführer aufgeschmissen sind.

Leutnant Bleske blickt mich an und sagt: »Gefreiter Müller, Sie haben sich nichts vorzuwerfen.« Er erklärt mir, dass bei NATO-Übungen einheitlich die Zuluzeit gilt. Sie entspricht der Greenwich Mean Time, früher auch Weltzeit genannt. Die Alphazeit ist die in unserem Breitengrad normale Zeit und die Bravozeit ist unsere Sommerzeit. »Vergessen Sie den Vorfall und machen Sie Ihren Dienst weiterhin so ordentlich wie bisher«, sagt er mir abschließend. Ich verlasse das Dienstzimmer mit einem Gefühl der Dankbarkeit. Ich begreife, dass ich mit meinem Vorgesetzten Glück habe und es einen jederzeit ganz anders treffen kann.

Soldatenglück

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