Читать книгу MACHETE - Der Passat-Killer von Hawaii - Robert W. Walker - Страница 10

Kapitel 6

Оглавление

Philosophie steht geschrieben in diesem großen Buch – ich meine das Universum – das ständig unserem neugierigen Starren offensteht, aber es kann nicht verstanden werden, wenn man nicht zuerst seine Sprache versteht und die Buchstaben interpretiert, in denen es geschrieben ist … Galileo

Jessica war wach geblieben und hatte sich über Satellit die Tonight Show mit Jay Leno angesehen, aber das war für sie nur Hintergrundrauschen, da sie sich auf die Akten konzentrierte, die ihr James Parry dagelassen hatte. Jedes Foto und die biografischen Informationen erzählten von einer jungen Frau, die eigentlich noch ihr ganzes Leben vor sich hatte. Jedes der Opfer hatte eine große Familie gehabt, manche hatten bereits selbst Kinder. Die typischen Prostituierten, die man in der Großstadt erwarten würde. Sie waren noch nicht verhärmt oder heruntergekommen und sahen nicht aus, als wurden sie verprügelt. Sie hatten auch kein Übergewicht oder waren magersüchtig. Keine gebrochenen Nasen, Narben oder Pickel und die meisten sahen nicht so aus, als hätten sie Drogen genommen, der Blick klar und lebhaft, zeugte von Seelen voller Leben und Interessen. Mehrere – wie Parry bereits gesagt hatte – hatten es nur nebenher gemacht, um ihr Einkommen aufzubessern, während sie an der Universität studierten, und andere waren keine Prostituierten und waren das letzte Mal an ihrem normalen Arbeitsplatz gesehen worden.

Linda Kahala, auch als Lina bekannt, halb Portugiesin und halb Hawaiianerin, war eine dunkelhäutige Schönheit gewesen, mit strahlenden runden Augen, die zumindest nach dem Foto zu urteilen mit der typischen Unschuld eines Mädchens von den Inseln erfüllt gewesen waren, die wahrscheinlich ihren Tod begünstigt hatte.

Sie fragte sich, ob dieses Mädchen, das als Letztes verschwunden war, nach Parrys Zählung zum neunten Opfer des Killers geworden war oder ob man sie im Haus eines Freundes finden würde oder sie vom Festland aus anrief und einfach nur weggelaufen war. Parry hatte ein paar steile Thesen aufgestellt und versucht eine Serie schon früher verschwundener Mädchen auf Maui, das weit weniger entwickelt und eher ländlich war, mit den Entführungen in Honolulu auf Oahu in Verbindung zu bringen.

Jessica fragte sich, ob die junge Kindfrau mit dem süßen Gesicht auf dem Foto so unschuldig war, wie sie erschien, oder ob sie vielleicht in die schmuddelige Unterwelt von Honolulu hineingerutscht war. Jede Stadt, egal wie schön sie nach außen hin wirkte und wie viele Naturwunder sie bot, nährte eine verführerische, erotisch anziehende Halbwelt, die besonders für die Armen attraktiv war, und es konnte durchaus sein, dass Linda Kahala in diesen Sumpf hineingezogen worden war, weil sie dringend Geld brauchte, um weiter an der Uni bleiben zu können … und wenn ihre Freundinnen sich für ihre Ausbildung prostituierten, wieso nicht auch sie?

Die Opfer hatten mehrere Gemeinsamkeiten, die Parry in den Akten markiert hatte. Zuerst einmal das Aussehen und die ethnische Herkunft, dann die Tatsache, dass sie alle in Dienstleistungsjobs gearbeitet hatten, meistens in der Tourismusindustrie, auch die, die als Prostituierte gekennzeichnet waren. Alle hatten zu irgendeiner Zeit in oder nahe Kahuiui auf Maui oder hier in Honolulu City gelebt, in oder in der Nähe eines eng abgegrenzten Stadtviertels rund um Chinatown, in einem alten Viertel, in dem sowohl hawaiianische als auch gemischtrassige Familien wohnten. Dort schmiegten sich Reihen kleiner Bungalows an den Ala-Wai-Kanal. Laut Chief James Parry war die kleine zierliche Linda Kahala das letzte Mal am Ala-Wai-Boulevard gesehen worden, genau in der Nacht, in der die Officer Hilani und Kaniola durch eine Schusswaffe und eine Machete gestorben waren. Zufall oder gab es einen Zusammenhang? Wenn die beiden Vorfälle miteinander zu tun hatten, so überlegte sie schon fast im Halbschlaf, dann konnte der verstümmelte Arm in Laus Kühlfach sehr wohl von Linda Kahala stammen.

Sie schlief ein, während Jay Lenos Band gerade spielte, um die Werbepause anzukündigen, ihr Unterbewusstsein schien dankbar für jedes Geräusch, das auf Leben hinwies. Sie rang mit ihren eigenen Gedanken, um ihre Träume zu beeinflussen, wild entschlossen, sie angenehm und entspannend zu halten, und bald war sie wieder unter Wasser vor der Küste Mauis am unglaublichen Unterwasserkrater des Molokini, wo sie Tauchen war, bevor sie nach Honolulu gerufen wurde. Der Anblick war atemberaubend, so als wäre sie tatsächlich da, aber noch großartiger war das absolute Gefühl der Freiheit unter Wasser. Die Schwerelosigkeit hatte positive Nebeneffekte, gab ihr ein Gefühl der Absolution. Es war dasselbe High, von dem sie Piloten hatte reden hören, wenn sie abhoben, der gleiche Adrenalinrausch, den Kletterer empfanden und den Fallschirmspringer liebten.

Sie sah sich um und war allein, abgesehen von dem brodelnden Leben um sie herum, das unter den fächerförmigen, wogenden Korallen alle Farben des Regenbogens widerspiegelte. Unter ihr befand sich ein Schwarm wunderschöner blausilberner Fische, die in einer Höhle verschwanden. Sie paddelte hinterher, fühlte sich ausgelassen und lebendig und schwamm ohne zu zögern in das schwarze Loch unter ihr, das von Schatten erfüllt war. Hier nahm die Schönheit dieses Ortes eine ganz andere Färbung an. Immer noch wunderschön, verwandelte sich das allgegenwärtige tiefe Blau im Innern der Höhle in ein Mitternachtschwarz. Es war eine mysteriöse und verlockende Nachtwelt, in der die Fische einfach verschwunden waren.

Mit diesem Bild hätte sie friedlich weiterschlafen können, aber plötzlich wurde die Strömung stärker, in der sie dahinglitt, und erfasste sie, riss sie vorwärts in die Schwärze vor ihr, zehnmal stärker als sie selbst. Auf dem Weg, auf dem sie hineingeschwommen war, konnte sie nicht entkommen, außer die Strömung kehrte sich um und trüge sie wieder hinaus, aber stattdessen wurde sie stärker und so turbulent, als wolle sie sie umbringen und gegen die zackigen Felsen schmettern, deren Umrisse sie in der Dunkelheit erkennen konnte.

Ihr wurde frostig kalt unter dem Taucheranzug, sie spürte, wie Gänsehaut ihren Körper bedeckte, hörte das teilweise menschliche, teilweise mechanische Geräusch ihres eigenen angestrengten Atems durch den Atemregler immer lauter, es klang gefährlich unregelmäßig, während sie verzweifelt das letzte bisschen Sauerstoff einatmete, das ihr blieb. Sie fühlte sich benommen, desorientiert, verwirrt. Das Wasser wirbelte in der nun blauschwarzen Höhle um sie herum, hielt sie gefangen wie eine kraftlose Stoffpuppe. Die scharfen, zerklüfteten Felsen trafen sie, zerfetzten ihren Anzug und ihre Haut, der Regler wurde aus ihrem Mund gerissen, ihre Atemlufttanks zerstört. Ihr Körper wurde gegen die Felsen über ihr gedrückt und sie konnte spüren, wie das Blut und ihr Atem langsam ihrem Körper entströmten.

An ihr vorbei schwebten Knochen und fleischige Leichenteile, die langhaarigen, abgetrennten Köpfe dunkelhäutiger Frauen. Einer wurde genau vor ihr ebenfalls gegen den Felsen in der vulkanischen Höhle unter dem Blow Hole gepresst – er hatte die Augen von Linda Kahala. Die weit aufgerissenen Augen des Mädchens schienen die ganze Höhle und Jessicas Geist zu füllen.

Sie richtete sich auf, kämpfte immer noch um Atem in der Phantomhöhle unter Wasser, versuchte das tote Mädchen abzuwehren, das ihr in ihrem Bett Gesellschaft leistete. »Verflucht!«, rief sie in den leeren Raum und sich selbst zu, wütend darüber, dass sie auch nur einen unterbewussten Moment der Angst zugelassen hatte. Sie hatte lange und hart gekämpft, um die Narben zu überwinden, die ihr ein Verrückter namens Matisak zugefügt hatte, der nun sicher weggesperrt in einem Hochsicherheitsgefängnis für psychisch kranke Schwerverbrecher saß, aber sie wusste, sie würde nie wieder ganz die Alte sein, die Jessica Coran, die existiert hatte, bevor er sie verstümmelte. Diese Schwäche und dieser Zweifel lagen wie ein Schatten über jedem Schritt, den sie in der Welt tat. Es war die Art Verletzlichkeit, die weder Parry noch irgendwer sonst jemals in ihr erkennen sollte.

Der bittersüße Geschmack von Schweiß erreichte ihre Lippen, während er wie Tränen von ihrer Stirn und auf ihre Wangen perlte. Sie musste noch einen Moment an Matisak denken, der es selbst hinter Gittern geschafft hatte, die Presse wissen zu lassen, dass er ein Jahr zuvor, aus seiner Zelle heraus, Jessica minutiös näher auf die Spur der kannibalistischen Klaue geführt hatte. In der Story, die in den übelsten Schmierblättchen abgedruckt worden war, wurde behauptet, sie habe »Professor« Matisaks beträchtliche deduktive Fähigkeiten bei ihrer bemerkenswerten Jagd genutzt, um die Klaue aufzuspüren und zu vernichten. Matisak, der einmal Lehrer gewesen und auch unter dem Spitznamen »Teach« bekannt war, besaß durch die Inkompetenz ihrer Vorgesetzten und die Klatschpresse ein sogar noch weiter aufgeblähtes Ego als ohnehin schon. Zwei Jahre Haft hatten sein übersteigertes Selbstbild und seinen Wahnsinn noch weiter anschwellen lassen.

Sie wollte nichts mehr mit diesem Irren zu tun haben, der Otto Boutine getötet hatte, und hatte das ihren Vorgesetzten deutlich gesagt, als der Klauen-Fall abgeschlossen gewesen war und dieser Bastard bekommen hatte, was er verdiente: Eine Kugel aus ihrer Waffe durch den Schädel, die ihn gelähmt hatte und ihm noch genügend Zeit gab, das Leid und den Schmerz nachzuempfinden, den er anderen zugefügt hatte, bevor er komplett katatonisch wurde und starb.

Nun, mit einem neuen Abteilungsleiter, ließen sie die Andeutungen des neuen Chief kalt, man könne erneut Informationen von Matisak erhalten. Sie hatte Zanek gesagt: Nie wieder!

Trotzdem, auch wenn sie auf rationaler Ebene wusste, dass Matisak Tausende und Abertausende Meilen entfernt war und im Gefängnis saß, war er irgendwie doch hier bei ihr, seine eiskalte astrale Präsenz senkte die Temperatur in dem Hotelzimmer. Er war hier bei ihr … zusammen mit Linda Kahala … heute Nacht in Honolulu.

Einige Tage später, 15. Juli 1995

Nach mehreren Nächten unruhiger Träume und Albträume, Heimsuchungen von Matisak, der Klaue und dem phantomartigen Bösen hier in Honolulu, dem Passat-Killer, waren die Spuren bei Jessica langsam sichtbar. Albträume um drei Uhr nachts und tagelange Schichten im Labor mit Lau hatten sie ausgelaugt. Trotzdem trieb sie sich härter an als irgendwen im Team, verzweifelt bemüht, für Parry und seine Leute so viele Lücken wie möglich zu schließen, da sie jeden Tag damit rechnete, von Zanek abgezogen zu werden. Sie machte erst jetzt wirkliche Fortschritte und schloss die Tests ab, die von Laus Leuten vorbereitet worden waren. Die Ergebnisse waren erstaunlich. Allein aus dieser Tatsache zog sie Stärke, und sie war stolz darauf.

Es war bereits früh klar geworden, dass Officer Kaniolas Schusswunde nicht tödlich gewesen und er noch am Leben und vielleicht bei Bewusstsein war, als der Killer mit großer Wucht eine Machete oder möglicherweise ein Zuckerrohrmesser in seinen Hals getrieben und den Kopf beinahe abgetrennt hatte. Tests hatten diese These bestätigt. Was vielleicht noch wichtiger war, sie hatte festgestellt, dass das Blut, das Alan Kaniolas rechte Handfläche bedeckte, von jemand anderem stammte. Während ein anderer Gerichtsmediziner vielleicht einfach angenommen hätte, es sei Kaniolas eigenes Blut, vermutete sie instinktiv, Kaniola könne in seinen Todeskrämpfen den Killer verletzt haben, vielleicht mit dessen eigenem Messer. Sie war erfreut über diese kleine lohnende Information. Das gab ihr zumindest ein wenig Hoffnung, denn nun konnte man das Blut des Killers untersuchen und sie waren ihrer Beute schon einen ganzen Schritt nähergekommen. Man konnte nie wissen, was bei einem Bluttest alles herauskam. So konnte man alles Mögliche über den Killer erfahren: Blutgruppe, Ethnie, Alter, Geschlecht.

Aber diesmal stiftete die genauere Untersuchung des Blutes eher Verwirrung. Es war das Blut einer jungen Frau, möglicherweise das von Linda Kahala, und wenn das stimmte, dann war Officer Kaniola irgendwie entweder mit der Leiche in Kontakt gekommen oder oben auf Koko Head mit ihrem Blut bespritzt worden. Jessica biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste angesichts dieser Wendung der Ereignisse direkt unter der Linse ihres Mikroskops. Diese Information verändert einiges – sie überlegte sich mögliche Szenarien.

Früher an diesem Tag hatte sie bereits Agent Tony Gagliano getroffen, der vorbeigekommen war, um all die medizinischen Unterlagen abzuliefern, die er in die Finger kriegen konnte. Eine angenehme Überraschung war, dass er tatsächlich nützliche medizinische Informationen über Linda Kahala aufgetrieben hatte, ihre gesamte medizinische Biografie seit ihrer Geburt. Jessica begann mit einem Routinevergleichstest des Blutes, das man auf Kaniolas Handfläche gefunden hatte, und dem, was man über Linda Kahalas Blut wusste, und das war eine Menge, denn sie hatte eine seltene Blutkrankheit gehabt und mehrere, leicht zu identifizierende Charakteristika. Der Test dauerte den Großteil des Vormittags, aber der schwierige Teil war, Blut aus der Schulter und dem Unterarm zu nehmen, die sie aus dem Kühlfach geholt hatte. Unterdessen unterzog man den Arm selbst einer ganzen Batterie an Tests, und bisher hatten alle Ergebnisse darauf hingedeutet, dass er zu einer jungen Frau zwischen 15 und 20 gehört hatte, näher konnte Jessica es nicht bestimmen. In dem Alter erreichte das Knochenmark die maximale Ausdehnung und seinen Höhepunkt des Wachstums und der Reife. Die Größe der Knochen passte ebenfalls zu einem Mädchen in Lindas Alter. Mithilfe einer forensischen Anthropologin, die an der Universität von Hawaii arbeitete, eine Dr. Katherine Smits, wurde zunehmend klar, dass die Gliedmaße von einer jungen Frau stammte, die noch keine 20 und hawaiianischer Abstammung war – zumindest teilweise. Hätte man eine Röntgenaufnahme von Lindas Arm in ihrer Krankenakte oder irgendwelche DNA-Proben gehabt, um sie zu vergleichen, dann hätte man, da war Jessica sicher, zweifellos das Körperteil Linda Kahala zuordnen können. So wie die Dinge lagen, musste die Blutprobe genügen.

Sie machte sich wieder an ihren Blutvergleichstest und bis Mitte des Nachmittags war sie völlig überzeugt, dass nicht nur der verstümmelte Arm zu Linda Kahala gehörte, sondern auch das Blut auf der Hand von Officer Kaniola.

Bei dieser nun sicheren Erkenntnis setzte sie sich und lehnte sich in die Polster des Sessels zurück, der in dem Büro stand, das man ihr zeitweilig überlassen hatte. Alleine Lau schien von all den Assistenten etwas zu vermuten oder zu wissen. Schließlich hatte er ihr geholfen, das Blut abzugleichen. Er kam herein und sah, dass sie angesichts ihrer Entdeckung durcheinander war.

»Seltsam, oder?«, sagte er. »Ich meine, das mit dem Arm und Kaniolas Hand.«

»Ziehen Sie keine verrückten Schlüsse, Mr. Lau«, beschwichtigte sie. »Das ist genau die Art Information, die in den falschen Händen für jede Menge Verwirrung sorgen und das Ansehen Ihres Labors sowie unser beider Ruf beschädigen könnte, gar nicht zu reden von der, wie ich gehört habe, angespannten Lage in der Stadt. Wir wollen nicht, dass die falschen Leute davon erfahren, verstanden?«

Er sah aus, als haben ihn das schwer getroffen. »Vertrauen Sie mir als Profi nicht, dass ich darüber schweige, was hier in meinem Labor ermittelt wird? Ich war schon lange hier, bevor Sie kamen, Doktor, und ich werde hier sein, lange, nachdem Sie wieder gegangen sind. Nein, machen Sie sich da mal keine Sorgen, dass ich irgendjemandem außerhalb dieses Labors erzähle, was wir hier machen … nein.«

Sie war sofort beschwichtigend. »Ich meinte ja nur, dass die Presse sehr gut darin sein kann, aus Leuten wie Ihnen und mir Informationen herauszukitzeln, Mr. Lau. Das war nur eine Anmerkung, vorsichtig zu sein, das ist alles. Chief Parry will bestimmt, dass wir kein Sterbenswörtchen sagen, dass alles Top Secret bleibt, da bin ich sicher. Zumindest im Moment.«

»Ich verstehe. Die Schlagzeile der haole-Presse: Kanaka-Cop ist Passat-Killer. Er hat all die hawaiianischen Mädchen getötet. Ein Hawaiianer hat also die Mädchen getötet, das ist dann klar, und was passiert dann?«

»Eben«, stimmte sie zu. Auch wenn sie selbst es sich nicht genau so vorgestellt hätte, wusste sie, während er redete, dass er absolut recht hatte. Die Weißen, besonders die an der Macht, hätten sicher nichts lieber gesehen, als die Morde der hawaiianischen Frauen einem Hawaiianer anzuhängen und damit alle Spekulationen zu beenden, dass das Monster ein Weißer war – das glaubte auch Jim Parry. Sie hatte sein Profil über das vermutliche Alter, Geschlecht, die Rasse und Herkunft und den Lebensstil dieses Phantoms gelesen. Und das Profil machte absolut Sinn, wenn man bedachte, dass es auf statistischen Mittelwerten basierte. Aber Statistiken erwiesen sich nicht immer als wahr; deswegen war es ja auch nur ein Mittelwert.

»Machen Sie sich mal keine Sorgen«, versicherte ihr Lau. »Also, was machen wir als Nächstes?«

»Mittagessen gehen«, sagte sie monoton und barg den Kopf in den Händen. Die Müdigkeit war zu ihrem ständigen Begleiter geworden.

Beim Aufstehen streckte sie sich und sah einen Moment aus dem riesigen Fenster, ohne ein Wort zu sagen. Lau wurde hinter ihr langsam unruhig. Sie blickte konzentriert auf den westlichen Rand von Oahu. Die prächtige Flut der grünen Hügel ergoss sich vom vulkanischen Rand der gewaltigen Waianae-Bergkette. Wenn sie nicht aus dem Fenster schauen und diesen Anblick genießen könnte, würde sie fast glauben, sie sei wieder in ihrem Labor in Quantico, von dem aus man auf das Gelände der Akademie und das Trainingsareal sehen konnte. Sie hatte erfahren, dass das satte Grün Hawaiis tatsächlich von Menschen geschaffen worden war, durch die vielen Kanäle, die in die Berge gegraben wurden, um das Wasser von den höchsten Höhen nach unten zu befördern und eine ansonsten kahle Landschaft zu bewässern, die ohne diese Bewässerung wohl eher die Farbe von Teakholz hätte. Sie wünschte sich nun, dass ihr das niemand gesagt hätte, damit die Illusion heil geblieben wäre.

»Essen wäre eine gute Idee«, sagte Lau und durchbrach die Stille. »Sie arbeiten zu hart, Dr. Coran. Das ist für niemanden gut.«

»Essen! Genau, was ich auch eben dachte«, sagte James Parry, der so lautlos in der Tür erschienen war, dass selbst Lau erschrak.

»Wie ein richtiger James Bond, Chief Parry … sich an einen Mann so anzuschleichen«, sagte Lau.

»Sorry, ich wollte Sie nicht erschrecken, Mr. Lau.«

»Macht nichts«, log Lau und wollte gehen. »Ich glaube, Sie beide haben einiges zu besprechen.«

»Unser Mr. Lau hier scheint Gedanken lesen zu können«, sagte Parry, als er es sich ihr gegenüber in einem Bürostuhl bequem machte.

»Was meinen Sie mit Gedanken lesen?«

»Wir müssen etwas besprechen.«

»Oh, hat sich etwas ergeben, von dem ich wissen sollte?«

»Ich habe die ganze Sache, alles, was wir wissen und vermuten – jede Einzelheit – Dave Scanlon präsentiert, dem Polizeipräsidenten von Honolulu, und der war nicht besonders erfreut.«

»Nicht erfreut? Wieso?«

»Sagen wir mal, der Commissioner ist ein guter Politiker und möchte sich in alle Richtungen absichern. Auf jeden Fall gehen gerade alle verschiedenen Distrikte des HPD ihre Fälle vermisster Personen der letzten paar Jahre durch. Keine Ahnung, wie lange die Sache schon läuft, verstehen Sie?«

»Sie glauben, es könnten schon länger Frauen verschwunden sein, als wir das bisher bereits vermutet haben?«

»Das kann in diesem Moment niemand sagen.«

»Aber Sie haben ein paar alte Fälle ausgegraben, die denen im letzten Jahr hier und vor zwei Jahren auf Maui verdächtig ähnlich sehen?«

Er nickte. »Schuldig im Sinne der Anklage.«

Ihr wurde klar, dass Parry die Sorte Mann war, der einen anderen Blick auf die Dinge hatte, die unter seine Zuständigkeit fielen. Während zahllose andere Cops auf der Insel über dieselben Informationen verfügten, war es Parry, der alle Einzelteile zusammengefügt hatte. All das Material war auch von anderen intensiv untersucht worden, aber Parry und sein Team hatten es in neuem, wenn auch krankem Licht betrachtet, dem dunklen Lichtschein, der von einem eiskalten Killer geworfen wurde. Parry war genau das, worauf es beim FBI ankam. Für ihn war ein Tatort nicht einfach nur die Stelle, an der man die Beweise einsammelte, eintütete, verglich und beschriftete, sondern der giftige Widerschein der Finsternis im Geiste eines Killers. Wieso hatte der Killer diesen Ort gewählt, diese Zeit, diese Person? Es war dieser Ansatz, bei dem der verstorbene Otto Boutine Pionierarbeit geleistet hatte, den sie sowohl bewundert als auch sehr geliebt hatte, ein Mann, der gestorben war, um sie vor einem grausamen Tod unter den Händen des berüchtigten Vampirkillers, Matt Matisak, zu retten.

Parry arbeitete an einem Tatort nicht rückwärts, um ein Verbrechen zu rekonstruieren, wie es der typische Streifenpolizist tun würde, der sich überlegt, was passiert sein könnte, und dann seine Ermittlungen schön ordentlich entlang seiner Annahmen abarbeitet. Parry wusste, genau wie Jessica, dass es einige Indizien an einem Tatort gibt, die von ihrer Natur her nicht immer auf vernünftiges Handeln schließen lassen. Natürlich hatte Parry Interesse an den greifbaren Beweisen, die von dem Killer hinterlassen wurden, wenn es denn welche gab, aber selbst wenn es sie gab, war er mehr daran interessiert, welche indirekten Schlüsse man daraus am Tatort ziehen konnte, von denen jeder ein kleiner Teil des Schlüssels zum Denken des Killers war. In diesem Fall des Passat-Killers, den die Leute im Labor mittlerweile den Macheten-Mörder nannten, gab es keine greifbaren Indizien – nicht ein Fitzelchen, solange, bis der verstümmelte Arm von Linda Kahala aufgetaucht war. Außerdem gab es bisher auch keinen Tatort an sich, nur einen Ablageort, und selbst der war nicht gewöhnlich, denn er war unzugänglich. James Parry wollte Sicherheit haben: »Gibt es irgendwelche Anzeichen, die auf ritualistische, sadistische oder pseudosexuelle Handlungen am Opfer hinweisen?«

»Wofür halten Sie mich denn bitte, Parry? Eine Magierin? Bei dem wenigen, womit ich arbeite, kann ich unmöglich all diese Fragen beantworten. Finden Sie mehr von Linda Kahalas Leiche, dann vielleicht … nur vielleicht …«

Sie verstand natürlich sein brennendes Interesse, all diese Fragen beantwortet zu bekommen: Nahm sich der Mörder Zeit oder beeilte er sich? Welche Einsichten in den Geist des Killers könnte man am Tatort gewinnen? Was dachte er vorher, währenddessen, hinterher?

Wie es ihr Vater einmal ausgedrückt hatte: »Um den Künstler zu verstehen, muss man sich zuerst sein Werk ansehen.« Otto Boutines Profiling-Team hatte ihr beigebracht, dass der Killer zuerst in die Kategorien »organisiert« und »unorganisiert« eingeteilt wurde, und dass diese Eigenschaften Symptome des ordentlichen oder unordentlichen Verhaltens an den Tatorten waren und einen Straftäter viel eher definierten als die Art von Waffe, die er verwendete, oder das Kaliber an Patronen, das er bevorzugte. Zuckerrohrmesser gab es auf dieser Insel wie Sand am Meer.

»Bisher kann ich Ihnen sicher sagen, allein angesichts der Verstümmelung am Arm selbst, der ritualistischen Natur der Hiebe und den Schnittspuren an den Knochen, dass er definitiv auf sie einhackt, solange sie noch leben. Wir sind auch davon überzeugt, solche Brutalität bedeutet, dass er sicher weitermacht. Er genießt es.«

»Das ist also der Grund für den gleichbleibenden Opfertyp. Er sucht nach Opfern, die diesen besonderen Look haben.« Parry sagte das wie als Bestätigung dessen, was er sowieso schon glaubte.

»Wenn das Töten ein solches Gemetzel ist, dann ist es entweder ein Verbrechen aus Leidenschaft oder aus psychosexueller Leidenschaft.«

»Psychosexuelle Leidenschaft?«

»Ein Begriff, den wir gerade beim FBI eingeführt haben, für all die Soziopathen, die Menschen zerstören aufgrund der Anziehungskraft eines Ideals oder einer Fantasie, die untrennbar mit ihrer emotionalen Krise verwoben ist.«

»Leidenschaft klingt bei diesem Bastard fast wie ein Schimpfwort.«

»Es gibt zwei Seiten jeder Leidenschaft, Inspector.«

»Ja, das stimmt wohl.«

»Wir müssen seinen Unterschlupf finden, den Ort, an dem er tötet, wo er seine Fantasien auslebt.« Sie fuhr mit der rechten Hand ihren steif gewordenen Hals entlang.

»Machen Sie sich da mal nicht allzu viele Hoffnungen.«

Sie sah ihn erstaunt an.

»Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Chancen für unseren Serienkiller nicht schlecht stehen, wie so viele andere niemals geschnappt zu werden«, sagte Parry. »Noch wahrscheinlicher als eine Verhaftung ist, dass er einen kompletten mentalen Zusammenbruch erleidet.«

»Und heimlich, still und leise in eine Anstalt wandert«, stimmte sie leise zu.

»Die meisten glauben, das sei mit Jack the Ripper passiert, der ebenfalls Prostituierte getötet hat.«

Sie biss sich nachdenklich auf die Lippe, stützte den Kopf auf die Hände und fragte: »Glauben Sie, dass sie alle Prostituierte waren? Inklusive Linda Kahala?«

»Wenn nicht, dann wurde sie fälschlich für eine gehalten. Schwer zu sagen, ob sie bereits in die Szene abgeglitten war.«

Sie zeigte ihm die Belege, dass die verwaiste Gliedmaße einmal zu Linda gehört hatte, und erzählte ihm dann von Kahalas Blut auf Kaniolas Hand. Die Information schien ihn zu schockieren und löste eine ungewöhnliche Stille aus.

»Dann hatte der alte Joe Kaniola recht, dass sein Sohn der Einzige war, der diesen Bastard jemals aus der Nähe gesehen hat. Wenn es ihr Arm ist, dann muss der Killer gerade dabei gewesen sein, ihre Leiche loszuwerden, als Kaniola und Hilani ihn überrascht haben.«

»Scheint so.«

Parry überlegte weiter. »Aber wie hat Kaniola ihr Blut auf seine Hand gekriegt?«

»Das sollten wohl Sie herausfinden. Er folgte einem verdächtig aussehenden Wagen, richtig?«

Parry dachte an die Aufnahmen des Gesprächs über Funk, die er sich mittlerweile endlos oft angehört hatte. Hilani und Kaniola hatten sich gegenseitig ein wenig aufgezogen und ihr freundliches Geplänkel hatte mit ihren letzten Worten auf dieser Erde geendet.

»Ja, der Wagen, dem sie gefolgt sind.«

»Der Wagen, die Kleidung des toten Mädchens, die Leiche des toten Mädchens – das sind alles Möglichkeiten«, schlug sie vor.

»Also greift Kaniola in den Wagen, berührt das tote Mädchen oder ihre Kleidung, natürlich … natürlich.«

»Scheint mir eine sehr wahrscheinliche Einschätzung.« Sie hatte ein Glitzern in den Augen, wie ein kleines Mädchen, und einen beschwingten Tonfall.

»Sie haben noch was anderes gefunden, oder nicht?«

»Es waren ein paar Stofffasern auf seiner Uniform und an seiner linken Hand, in dem geronnenen Blut. Alle Fasern stimmen überein. Jetzt müssen wir nur Linda Kahalas Kleidung finden, sie von den Verwandten identifizieren lassen und sie miteinander vergleichen.«

»Ist das alles?«

»Lassen Sie Scanlons Leute die Gegend um den Koko Head durchsuchen, mal sehen, ob die irgendwas finden.«

»Wieso hätte er die Kleidung nicht einfach mit den Körperteilen zusammen ins Blow Hole werfen sollen?«

»Das Risiko ist zu groß, dass was schiefgeht, dass sie vom Wind davongetragen werden, neben dem Loch landen. Außerdem, wenn er ein Purist ist, dann schickt er seine Opfer nackt auf die andere Seite.«

»Purist?«

»Der Typ lebt in einer durchgeknallten Fantasiewelt – ich will gar nicht behaupten, ich würde sie verstehen, aber man kann wohl sagen, dass er auf Opferungen steht. Normalerweise werden Menschenopfer auf dieselbe Weise aus der Welt geschickt, in der sie sie betreten haben: nackt.«

»Das ist Ihre Sicht der Dinge?«

»Kaniola kommt vorbei, findet die Kleidung im Auto und während er und Hilani sie untersuchen und zu spät merken, was sie da in Händen halten, überrascht er sie. So sehe ich das.«

»Ziemlich ausgeklügelt.«

»Mit Sicherheit der erste verdammte verräterische Hinweis von diesem Kerl in all der Zeit, und völlig unbeabsichtigt. Er ist kühl und berechnend, ziemlich organisiert, wenn es darum geht, die beiden Cops vom HPD auszuschalten, und hat in all den Jahren keinerlei Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er ist anscheinend ziemlich intelligent.«

»Das hatte ich mir schon gedacht.« Parry ging im Büro auf und ab, sein Verstand raste, jetzt wo er die ersten forensischen Fakten hatte, um sein bisher eher fragiles Netz an Vermutungen zu stützen.

Weil der Killer unter die Kategorie organisiert fiel, konnten sie mit einiger Sicherheit vorhersagen, dass er zumindest teilweise auf das Profil passen würde, wenn er geschnappt wurde. Anders als Hellseher behaupteten sie nicht, in das Herz und den Verstand eines Killers blicken zu können, sondern sie nutzten bekannte Fakten und Informationen von Serienkillern in Haft wie John Wayne Gacey, Jeffrey Dahmer, Gerald Ray Sims, bevor er sich in der Haft umgebracht hatte, dem hingerichteten Ted Bundy – alles Serienkiller, die weit offener und kooperativer waren als ›Mad‹ Matthew Matisak es je war. Auch wenn Jessica davon ausging, dass Ted Bundy nicht mehr getan hatte, als die Leerstellen in vorgefertigten Fragebögen auszufüllen, die man ihm im Büro des Staatsanwalts vorgelegt hatte, und wenig mehr geliefert hatte als das, was sie hören wollten.

Der Passat-Killer stammte vermutlich aus einer dysfunktionalen Familie. Sein Vater hatte wohl einen festen Job gehabt, aber die elterliche Disziplin wäre bestenfalls wechselhaft gewesen. Kindesmissbrauch in einer seiner vielen Formen war wahrscheinlich fester Bestandteil des Familienlebens gewesen. Er hatte einen durchschnittlichen oder überdurchschnittlichen IQ, aber die Chance war groß, dass er in einem Hilfsarbeiterjob arbeitete, der seiner Meinung nach weit unter seiner erhofften Stellung, seiner Berufung oder seinen Fähigkeiten lag. Sein beruflicher Lebenslauf war vermutlich lückenhaft, wenn nicht chaotisch.

»Er könnte ein Student an der Universität von Hawaii sein, sehr wahrscheinlich mit eher durchwachsenen Leistungen«, schlug sie vor.

»Vielleicht, aber vielleicht auch nicht.«

»Mehrere der Mädchen gingen auf die Universität«, erinnerte sie ihn.

»Eine der wenigen Verbindungen, die wir zwischen einigen der Mädchen herstellen konnten«, stimmte er zu. Er erzählte ihr kurz von George Oniiwah, Lindas Freund, der zufällig auch Student am Manoa Campus der Universität von Hawaii war.

»Es scheint wahrscheinlich, dass der Killer einige Verbindungen mit der Universität hat, zumindest auf Basis der wenigen Informationen, die wir haben.« Jessica nahm eine warme Dose Coca-Cola vom Schreibtisch und goss den Rest in den Abfluss im Labor, spülte die Dose aus und warf sie in einen Recycling-Mülleimer unter dem Tisch. Lau beobachtete sie von einem Raum, der drei Türen weiter lag, durch eine Reihe an Glastrennwänden, die das Labor und die Büros trennte. Sie war ein wenig nervös, weil Lau so interessiert an ihr und Parry war, und fragte sich, was hinter seinen schwarzen Augen vorging. Ist es so schwer, im Labor an guten Klatsch und Tratsch heranzukommen?, fragte sie sich.

»Ja und das wären dann 64 Prozent der Studenten«, sagte Jim Parry, während er ihr folgte.

»Wie bitte?«

»Die genaue Zahl von männlichen Studenten auf dem Manoa Campus liegt um die 5.980.«

»Konzentrieren Sie sich zuerst auf die Teilzeitstudenten«, warf sie ein.

»Das wären dann um die 2.250.«

»Nein«, korrigierte sie ihn. »Abzüglich der Frauen, sagen wir mal 40 Prozent, zwischen 1.250 und 1.300.«

»Hey, nicht schlecht. Das ist doch mal eine Zahl, mit der sich arbeiten lässt«, sagte er mit einem leichten Anflug von Sarkasmus. »Ich werde Tony drauf ansetzen.«

»Denken Sie daran, unser Mann – wenn er überhaupt Student ist und nicht Tellerwäscher – ist vielleicht schon abgegangen oder wurde rausgeworfen. Sie sollten sich auch die Einschreibungen früherer Semester ansehen, zusammen mit den aktuellen.«

Er nickte, sagte ihr, dass sie recht hatte, und fügte dann leise ein Detail zu ihrem Wissen über den Killer hinzu: »Der Irre hat vermutlich den Großteil seines Lebens mit einer Freundin oder Ehefrau zusammengelebt oder tut es noch.«

»Oder den Eltern«, entgegnete sie.

»Vielleicht mit einem Elternteil.«

»Stress könnte bei seinen Gewaltausbrüchen eine Rolle spielen.«

»Möglicherweise kommt der Stress mit dem Passat?«

Sie stimmte ihm umgehend zu. »Vielleicht etwas Symbolisches, das mit dem Wind zu tun hat? Vielleicht wurde unser Mann bei einem schlimmen Sturm als Kind draußen gelassen, wer weiß?«

»Der hört wahrscheinlich Stimmen in dem verdammten Wind.«

Sie nickte anerkennend und führte wie automatisch den Gedankengang fort. »Gewalt kann auch durch ein plötzlich auftretendes Problem ausgelöst werden – finanziell, beruflich, in der Ehe oder Beziehung.«

»Alkohol und/oder Drogen könnten eine Rolle spielen«, fügte Parry hinzu und stellte sich dem kleinen Wettstreit ihrer Überlegungen. »Eine Person, die normalerweise keine Bedrohung ist, die man kein zweites Mal ansieht, sozial integriert, äußerlich unauffällig, sticht nicht aus der Menge hervor.«

»Er nähert sich seinen Opfern im Freien, auf nicht bedrohliche Art und an einem freundlichen, vertrauten Ort.«

»Sammelt sie in Einkaufszentren, in Geschäften oder an Bushaltestellen ein.«

»Bevorzugt Manipulation mit Worten im Gegensatz zu körperlicher Gewalt, während er seine Beute jagt. Laut dem Polizeibericht hört es sich so an, als könnte Linda ihn von früher gekannt haben, wollte nicht mit ihm gehen, also musste er physische Gewalt anwenden, um sie von der Straße in seinen Wagen zu bekommen.«

»Genau … sie kannte ihn, und vielleicht kannten ihn auch einige der anderen.«

»Kontrolle über sein Opfer ist ein wichtiger Teil dessen, was er tut, und seiner Fantasie …«

»Etwas Rituelles bestimmt seine Handlungen. Beim Mord selbst lebt er eine lange gehegte Fantasie aus, ich weiß.«

»Er hat Linda verstümmelt. Das war kein reiner Zufall, dass der Geysir ihren Arm aus der Brandung spuckte.«

Parry sah verwundert aus. »Was meinen Sie?«

»Eine genauere Untersuchung der Stelle, wo er abgetrennt wurde, hat gezeigt, dass er an der Schulter abgeschnitten wurde, nicht von natürlichen Kräften abgerissen. Es gibt Schnittspuren am Knochen.«

»Bastard …«, sagte er.

»Er transportiert die Leichen in einem Fahrzeug«, warf sie ein und setzte ihr gemeinsames inoffizielles Profiling fort.

Parry, der wieder hin und her lief, nickte und erwiderte: »Ja, und sein Wagen ist in ziemlich gutem Zustand. Er wird es nicht riskieren, angehalten zu werden oder mit dem Wagen liegenzubleiben, weil er nicht mehr anspringt, besonders nach dem, was am Koko Head passiert ist.«

»Trotzdem hat etwas an dem Wagen in dieser Nacht die Cops vom HPD aufmerksam gemacht.«

»Kaniola.«

»Was?«

»Alan Kaniola hat den Wagen als Erster bemerkt … hat ihn ein verdächtig aussehendes Fahrzeug genannt. Ich hab mir die Aufnahme von der Nacht tausendmal angehört.« Parry nahm der Fall offensichtlich mit und man merkte es. »Sonst ist da nichts. Sie haben kein Kennzeichen durchgegeben. Hatten nie Gelegenheit dazu.«

»Sehen Sie, ich glaube, der Killer behält Souvenirs von seinen Opfern, möglicherweise Kleidung und Schmuck, aber ziemlich sicher die Hände.«

»Am Handgelenk abgetrennt?«, wollte er wissen.

Sie nickte und sah ihn durchdringend an. »Er … er holt seine Trophäen später wieder hervor … zählt sie, durchlebt die Fantasie wieder und wieder, solange, bis er es erneut tut. Und noch etwas. Er genießt es vermutlich, die Berichte über die vermissten Mädchen zu lesen und alles in den Nachrichten, was mit ihrem Verschwinden zu tun hat.«

Parry nickte. »Er ist ständig da draußen und sucht nach Opfern, nach einem Mädchen, das wie Linda Kahala aussieht.«

»Er weiß, was er mag … was er will, und er fühlt sich wohl, das hier zu tun. Das ist sein Revier. Er kennt die Gegend genau.«

Parry stimmte zu. »Und wenn er ein Opfer findet, das genauso aussieht, dann schlägt er wieder zu.«

»Er lockt sie, vielleicht zuerst mit Worten.« Parry dachte an die Sonette von Shakespeare, die er aus Lindas Zimmer mitgenommen und zu Hause durchgeblättert hatte.

»Dann sorgt er dafür, dass sich sein Opfer nicht mehr wehren kann«, fuhr sie fort. »Wie eine Schlange, die eine Maus mit Gift lähmt. Wir haben Spuren eines Giftes namens Curare gefunden, das normalerweise nicht in Drogen enthalten ist, die auf der Straße verkauft werden.«

»Verstehe.«

»Dann attackiert, tötet und entsorgt er seine Opfer.«

»Und er jagt nachts, während der Passatwind weht, und sucht nach möglichen Opfern.«

»Genau«, stimmte sie zu. »Und wenn er keines findet, dann geht er nach Hause und öffnet seine Kiste mit den wertvollen Sammelstücken – eine Sammlung an Schlüsseln, Lippenstiften, Unterwäsche, Ohrringen, Halsketten und Körperteilen.«

»Das HPD hat eine Menge übernächtigter Detectives da draußen auf den Straßen, besonders entlang der Ala Moana, Kalakaua, Kuhio und der Ala Wai. Die befragen Zuhälter, Freier, Taxifahrer, Angestellte in den Geschäften und Restaurants in der Nähe, jeden, der einem so einfällt. Meine eigenen Leute haben schon 300 Stunden da draußen runtergerissen und das hat nichts ergeben. Es ist, als sei der Typ ein Magier, lässt sie einfach vor aller Augen verschwinden.«

»Ja, ich hab gesehen, wie voll die Straßen waren, in der Nacht, als wir spazieren gegangen sind. Er trifft sie an einer Bushaltestelle oder in einem Supermarkt, überzeugt sie, dass er etwas hat, was sie braucht, und sie zu seinem Haus gehen müssen, um es zu holen.«

Parry entgegnete düster. »Er hat diese tödliche Kombination aus Verlangen, Leidenschaft, Lust und einer Unfähigkeit, dieses Verlangen auf normale Weise zu befriedigen.«

»Impotenz«, stimmt sie zu. »Dysfunktional und ein Weichei, wenn es um Leid und Schmerz geht – solange es ihn betrifft – und er kann kein Blut sehen – also nicht sein eigenes. Aber beim ersten Anblick des Blutes, als er das erste Mal zuschlug und bei seinem ersten Opfer die Kontrolle verlor, lernte er, dass Leid und Schmerz und der Anblick von Blut, das am Körper eines hilflosen Opfers hinabrinnt, ihm eine Epiphanie reinen Vergnügens bescheren, einen Orgasmus, wie er ihn noch nie zuvor erlebt hat, dass er zum ersten Mal in seinem erbärmlichen Leben sexuell befriedigt ist.«

»Ja, verstanden … es verschafft ihm nicht nur eine Erektion, wenn er eine hilflose Frau überwältigt, er ejakuliert dabei auch.«

»Blut und Schmerz … darauf steht er, und wer immer dieser Kerl ist, er kam langsam zu der Schlussfolgerung, dass Mord nicht nur einfach ist, sondern auch sexuell befriedigend«, fuhr sie fort. »Der Anblick des Blutes, der Widerstand gegen ihn, die ultimative Macht, die er verspürt, seine gottverdammte Erektion, das alles kommt zusammen, wenn er auf seine Opfer einhackt und ihr Leben in den Händen hält.«

»Ihr Leben und ihr Tod allein in seinen Händen. Dadurch fühlt er sich wie Gott, da bin ich sicher.«

»Einmal in seinem Leben hat er die Kontrolle. Das ist es, was für ihn zählt.«

Parry schluckte schwer, dachte an die junge Linda Kahala, an ihren Vater und ihre Mutter, wie er ihnen die Nachricht überbringen musste, dass ihre Tochter mittlerweile mit absoluter Sicherheit die erste identifizierte junge Frau der vielen vermissten und mit größter Wahrscheinlichkeit toten Frauen war. Da das letzte vermisste Mädchen ermordet worden war, folgte daraus, dass die anderen höchstwahrscheinlich ebenso tot waren. Man konnte nicht sagen, wie viele Leichen dieser Verrückte schon unter der Wasseroberfläche des Blow Hole angesammelt hatte.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich jetzt was essen kann«, gestand Jessica.

»Wie wäre es mit einem starken Drink?«, schlug er vor.

»Das kann ich nicht ausschlagen.«

»Vielleicht haben Sie nach einem Drink eher Hunger, vielleicht auf ein Sandwich. Ich kenne da einen Laden in der Nähe.«

Sie stand auf, nahm ihren Stock und kam um den Schreibtisch herum zu ihm. »Sie kümmern sich ja gut um mich.«

»Befehl von Zanek«, bemerkte er beiläufig.

»Tatsächlich? Und was hat Ihnen Paul über mich erzählt?«

»Nur, dass Sie die Beste sind, und jetzt verstehe ich auch, warum er das gesagt hat.«

Sie zog den Laborkittel aus, legte die Jacke über die Schultern und ging mit dem Stock vor ihm her, insgeheim erfreut über seine Aufmerksamkeit. In D.C. hatte sie ein wenig den Ruf einer eiskalten Schlitzerin, eine typische Kategorie der Gerichtsmediziner. Manche nannten sie immer noch die Leichenfledderin – immer auf der Jagd nach dem nächsten Indiz. Andere Menschen, besonders Männer, hielten normalerweise Distanz, waren unsicher in ihrer Gegenwart, fühlten sich oft von ihr eingeschüchtert. Die Ironie daran war, dass sie sich trotz ihrer Ausbildung, ihrer medizinischen Fachkenntnisse und ihrer Zeit an der Akademie für die am wenigsten furchteinflößende Person hielt, die sie kannte. Zumindest schreckte sie die Männer nicht absichtlich ab. Trotzdem sah man sie – als wäre sie mit einer bestimmten Aura geboren – meist nur als »Dr. Jessica Coran, Gerichtsmedizinerin vom FBI«. Es hatte nur eine Handvoll Männer gegeben, die ihre Vorbehalte angesichts ihrer Qualifikationen und ihres Doktortitels überwunden hatten, und selbst das erforderte normalerweise eine enge Zusammenarbeit und viel gemeinsam verbrachte Zeit, um auf den Level zu kommen, der eigentlich einfach zu erreichen sein sollte.

Interessanterweise war das bei Inspector James Parry nicht der Fall gewesen. Von ihm hatte sie sich von Anfang an wie eine Lady behandelt gefühlt.

»Sie scheinen ja mit dem Stock ganz gut zurechtzukommen«, kommentierte er, als sie im Aufzug standen. »Ich hab schon vorher mal nach Ihnen gesehen, aber Sie waren gerade im Labor beschäftigt gewesen, also …«

»Manchmal brauche ich ihn mehr … kommt drauf an, wie lange ich schon auf den Füßen bin«, entgegnete sie.

Es war ein wunderschön gefertigter Stock mit einem silbernen Knauf, der ihr als Willkommensgeschenk von J.T. und den anderen in ihrem Labor in Quantico überreicht worden war, als sie nach ihrer langen Reha nach Hause kam. Der Prozess, nach dem ein Verrückter in die Abteilung für geistig Kranke in einer staatlichen Hochsicherheitseinrichtung gelandet war, hatte ebenfalls seine Tücken gehabt. Bis heute hatte ›Mad‹ Matthew Matisak Einfluss auf einige ihrer Emotionen. Wie Donna, ihre gut bezahlte Psychologin, mit der sie mittlerweile per du war, ihr gesagt hatte: »Wenn du in den Abgrund starrst, dann starrt er manchmal auch in dich.«

Der Heilungsprozess nach dem Leid, das ihr Matisak zugefügt hatte, dauerte Jahre, und selbst jetzt war sie noch weit von einer vollständigen Genesung entfernt und trug immer noch die Narben, besonders die unsichtbaren. Matisak hatte sie aus ähnlichen Gründen wie der Passat-Killer mit einer Klinge verstümmelt und hier war sie nun und starrte erneut in den Abgrund, suchte nach Antworten auf Fragen, die die meisten Leute gar nicht hören wollten … wühlte durch den Unrat der hässlichsten Abgründe der menschlichen Natur, zu der Vergewaltigung, Blutvergießen, Folter, Verstümmelung und Lustmord gehörten.

Sie fragte sich, ob Jim Parrys Sorge um ihr Wohlergehen auf dem beruhte, was ihr zugestoßen war, weil er von ihrer Begegnung mit ›Teach‹ Matisak erfahren hatte. Sie wusste, dass sie noch tiefer in den Abgrund gestarrt hatte als er, und für sie starrten Matisaks Augen, in denen der Wahnsinn loderte, aus dem Abgrund zurück. Parry war intelligent, beflissen und sensibel. War er an ihr interessiert, fragte sie sich, oder an dem, was sie aus erster Hand über Serienkiller wusste?

Wie alle anderen im FBI war Jim sicher gut informiert über das, was sie durchgemacht hatte, wusste von ihrer Nahtoderfahrung unter den Händen von Matisak. Wie sie Otto an Matisak verloren hatte …

Bei seinem Wagen angekommen, nahm er ihren Stock und hielt ihr seine Hand hin, während sie auf den Sitz rutschte. Einen Moment betrachtete er den wunderschön gefertigten Stock und machte eine Bemerkung über die hervorragende Handwerkskunst. Es war zwar keine Rolex, aber er hatte sicher eine Stange Geld gekostet … und er wusste bestimmt, dass es derselbe Stock war, der zum Ende der dämonischen Mordserie von Simon Archer, auch bekannt als die Klaue, beigetragen hatte. Sie konnte es an seinem Blick ablesen. »Sie wollen sicher etwas über Simon Archer und Matthew Matisak wissen, stimmtʼs?«, fragte sie.

»Nein, nein.«

Sie glaubte ihm nicht. Sie wusste schließlich, wie faktenbesessen Parry war, und dass es manchmal für einen gewissenhaften Ermittler nicht genügte, nur über Fallakten zu brüten. Das war seine Stärke und was ihn anziehend machte, und sie wusste auch, dass er vor Neugier nach den kleinsten Details fast umkam.

»Wenn ich dadurch in Ihrer Gunst steige«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. »Dann könnte ich Ihnen wohl von Matisak und Archer erzählen.« Das könnte sogar therapeutisch wirken, hörte sie Donna Lemonte in ihrem Kopf flüstern.

Er ging auf die Fahrerseite, den Stock immer noch in der Hand, legte ihn auf den Rücksitz und stieg ein. »Jessica, Sie müssen nicht darüber reden.«

Seine Aufrichtigkeit war mit einer kräftigen Dosis der üblichen Neugier eines Polizisten gefärbt, was sie verstand und respektierte. »Nein, nein«, begann sie, »es ist ja ziemlich offensichtlich, was Ihnen im Kopf herumspukt.«

»Wirklich«, beharrte er, »wir können auch über etwas anderes reden.«

»Ja, vielleicht«, entgegnete sie, »wenn das mal aus dem Weg ist.«

»Jess!«, sagte er und tat, als wäre er verärgert.

Sie begann von ›Mad‹ Matisak zu erzählen, indem sie die Autopsie schilderte und zwei Exhumierungen, die sie auf einer langen verwickelten Spur schließlich zu Matisaks Unterschlupf geführt hatte.

MACHETE - Der Passat-Killer von Hawaii

Подняться наверх