Читать книгу MACHETE - Der Passat-Killer von Hawaii - Robert W. Walker - Страница 9

Kapitel 5

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Gleichmütigen Schritts pocht der fahle Tod an die Tür der ärmlichen Hütte

wie an die Paläste der Könige. Horaz. Oden

Paul Zanek rief sie aus Quantico an und sagte ihr mit Nachdruck, sie solle auf Oahu bleiben, umfassend mit Parry kooperieren, und ihn selbst und das psychologische Profiling-Team in Virginia informiert und auf dem neuesten Stand halten. Sie würden aus der Ferne alles in ihrer Macht Stehende tun, um den mutmaßlichen Killer zu schnappen.

»Ich sollte es hier eigentlich langsam angehen lassen, Urlaub machen, wissen Sie, wie buchstabiert man das gleich, R-u-h-e?«

»Sorry, Jess, aber Parry hat ziemlich Not am Mann, da sein Pathologe ausgefallen ist. Glauben Sie mir, niemand hat das geplant.«

»Sicher, Chief. Ich bin nur ein wenig erschöpft und bade in Selbstmitleid.«

»Denken Sie dran, wir unterstützten Sie auf jede erdenkliche Weise, Jess.«

»Kein Grund, sich schon in den nächsten Flieger zu setzen. Bisher habe ich noch nichts gefunden, was überhaupt belegt, dass wir es hier mit einem Serienkiller zu tun haben.«

»Parry ist ein erfahrener Stationschef, Jess, und ich …«

»Diesmal könnte er allerdings danebenliegen. Genaueres weiß ich morgen, Chief. Ich lasse es Sie wissen. Gruß an J.T. und das Team.«

»Thorpe ist in Detroit.«

»Wieso das denn?«

»Da geht was Schlimmes vor sich. Eine Serie von Morden in den Slums, größtenteils Obdachlose.«

»Na ja, wenn Sie was von ihm hören, sagen Sie ihm einen schönen Gruß.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, dachte sie einen Moment an John Thorpe, ihren Stellvertreter im Kriminallabor in Quantico in Sektor IV. Er hatte kürzlich eine komplizierte Operation über sich ergehen lassen müssen, und das auch noch zusätzlich zu einer harten Scheidung, die ihn von seinen Kindern getrennt hatte. Es schien, als sei J.T. ein Mann, der tat, was er sagte, und sich in seiner Arbeit vergrub.

Sie konnte jetzt entweder duschen gehen, den Zimmerservice anrufen, um sich das Dinner bringen zu lassen, oder die neun Aktenordner durchgehen, die sie vom Tisch auf der anderen Seite des Zimmers anstarrten. Am liebsten würde sie ins Bett gehen, aber ihre Gedanken wanderten zurück nach New York und zu Alan Rychman, dem sie immer noch nicht vergeben hatte, dass er sie hatte sitzen lassen. Er hatte ihr monatelang versprochen, dass er mit ihr nach Hawaii fliegen würde und alles schon vorbereitet war, aber jetzt, wo er sich um den Posten des Commissioners bemühte, hatte er nicht wirklich mehr viel Einfluss auf seinen eigenen Zeitplan oder sein Leben, wie es schien. Also hatten sie sich wieder gestritten. Wie es jetzt aussah, war es wohl am besten, dass Alan seinen Flug verpasst hatte, so wie die Dinge sich hier entwickelten. Bestimmt wäre er ziemlich wütend gewesen, wenn er mitbekommen hätte, wie sie in diesen Fall auf der Insel verwickelt wurde. Wäre er bei ihr gewesen, als das alles passierte, hätte er sich genauso darüber aufgeregt wie sie sich im Moment über ihn.

Vielleicht sollte sie Alan anrufen, da er keine Ahnung hatte, wo sie mittlerweile steckte. Wenn er versuchte anzurufen, würde er sie auf Maui vermuten. Wahrscheinlich hatte er eine Nachricht im dortigen Hotel hinterlassen. Hastig wählte sie die Nummer und erfuhr, dass es keinerlei Lebenszeichen von ihm gab. Vielleicht sollte sie ihn einfach schmoren lassen. Sie beschloss, eine Dusche zu nehmen, und stand kurz darauf unter dem entspannenden warmen Strahl. Erfrischt schlüpfte sie in einen Bademantel und trat auf den Balkon, um das brillante lavendel- und purpurfarbene Spiel der Sonne und der Wolken draußen über dem Ozean zu sehen, während sich die wunderschöne hawaiianische Nacht träge über die Stadt herabließ. Er war wunderschön und exotisch, dieser Ort, so viele tausend Meilen von Quantico, Virginia, entfernt, das sie seit ihrer Zeit in der FBI-Akademie ihr Zuhause genannt hatte.

So schön Hawaii auch war, sie fühlte sich niedergeschlagen. Einen verdammt weiten Weg hatte sie da zurückgelegt, nur um allein zu sein. Der Moment in San Francisco kam ihr ins Bewusstsein, als sie es endlich kapiert hatte: die Tatsache, dass Alan Rychman sich doch nicht dort mit ihr treffen würde, um mit ihr auf die hawaiianischen Inseln zu fliegen. Seine Stadt, New York, hatte wieder einmal gewonnen, genauso wie zu früheren Gelegenheiten. Sie war jedoch ehrlich genug, zuzugeben, dass ihr eigener Beruf sie auch mehr als einmal von ihm wegbeordert hatte.

Vielleicht war ihre Beziehung von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, wie es ihr Freund J.T. mit nicht wirklich tröstlicher Bestimmtheit gesagt hatte, als sie ihn angerufen hatte, um sich aus der Ferne an seiner Schulter auszuweinen. Sie hatte ihn eingeladen, sich ihr anzuschließen, und schon in dem Moment, als sie es sagte, war ihr bewusst, wie töricht sich das anhörte. So weit weg von zu Hause wollte sie einfach nicht allein sein. Es war nicht so, dass sie sich aufdrängen und ausnutzen wollte, dass J.T.s Beziehungsstatus sich zu Single geändert hatte, was nicht gerade sorgenfrei abgelaufen war. Nichts war sicher in einer Welt, in der selbst J.T.s nach außen hin perfekte Ehe auf den spitzen Felsen einer Scheidung auf Grund gelaufen war. Es hatte nicht das geringste Anzeichen dafür gegeben, so wenig hatte er von seiner Ehe erzählt.

»Das Leben als Mediziner und Cop«, murmelte sie bei sich und nippte an einem Wein, den sie in der Minibar gefunden hatte. Sie hatte einen Dr. vor ihrem Namen stehen und war FBI-Agentin, aber im Grunde war es doch Polizeiarbeit und da blieb wenig Platz für das, was andere ein normales Leben nennen würden.

»Das ist bestenfalls relativ«, versicherte sie sich selbst mit einem weiteren Lieblingssatz ihres Vaters. Ihrer Erinnerung nach hatte er das gesagt, als sie als Kind – damals waren sie von einem Army-Stützpunkt zum anderen gezogen – protestiert hatte, sein Lebensstil sei alles andere als normal, da sie wieder und wieder völlig entwurzelt wurden.

»Aber wann wirst du mal einen Gang runterschalten und das Leben genießen, Dad?«, hatte sie gefragt.

»Aber ich genieße das Leben, Jess. Ich liebe meine Arbeit.«

»Und was ist mit mir und Mom?«

»Euch liebe ich auch.«

Sie spürte, wie ihre Augen bei der Erinnerung feucht wurden. Nicht lange danach bedauerte ihr Vater, ihre Mutter nicht genug geliebt und nicht genügend Zeit mit ihnen beiden verbracht zu haben. Danach hatte sie ihm immer wieder bis zu seinem Tod bestätigen müssen, dass er ein toller Ehemann und Vater gewesen war, und das stimmte auch. Er hatte sie dazu erzogen, unabhängig zu sein, sich selbst anzutreiben, hart zu arbeiten, selbstständig zu denken und mit Leib und Seele dabei zu sein. Er hatte ihr die Taktiken und Methoden der Jagd beigebracht und was man mit der Beute macht, wenn man sie erwischt hat. Er hatte ihr Kraft und Sanftheit in derselben Lektion vermittelt.

Sie wischte die Tränen weg und sah hinaus auf die endlose Ausdehnung des Ozeans, betrachtete verschlafen das An- und Abschwellen der Brandung weit unter ihrem Balkon. Liebespaare liefen über die palmengesäumten Wege in der Ferne, wo der Strand von Waikiki mit den Fackeln des luau erleuchtet war, das gerade anfing. Der Passatwind brauste um die Balustrade und rüttelte an der spärlichen Möblierung des Balkons, drohte, ihren Bademantel hochzuwehen und ihre Nacktheit darunter zu entblößen, aber der Wind war warm und angenehm auf ihrer Haut, als wäre er lebendig und nur an ihr interessiert.

»Mehr als ich von Alan Rychman sagen kann.« Auf ihren traurigen kleinen Witz folgte ein Schmollmund.

Sie ließ ihre Gedanken mit dem Wind spielen, als er über sie und durch sie hindurch blies. Das Telefon, das beharrlich in ihrem Zimmer klingelte, hörte sie zuerst nicht.

Verärgert atmete sie aus, ging hinein, ließ den Wind hinter sich und hob den Hörer ab.

»Haben Sie schon was gegessen?« Es war Parry.

»Nein, ich meine, ja … ich meine, ich wollte gerade etwas beim Zimmerservice bestellen.«

»Ich bin unten … und wenn Sie mit jemandem zusammen essen wollen, na ja … ich hab nur gedacht …«

Er hörte sich wie ein nervöser Junge an. Sie räusperte sich. »Ich bin furchtbar müde.«

»Vielleicht hilft da ein Wein und etwas leckeres Opaka-paka …«

»Opaka-paka

»Das beste Fischgericht auf den Inseln, so wie sie es hier zubereiten.«

»Unten, sagen Sie …« Sie überlegte laut.

»Im Restaurant.«

Sie seufzte, ließ ihm einen Moment, sich Sorgen zu machen, und sagte dann: »Okay. Geben Sie mir einen Moment, um mich anzuziehen.«

»Leger.« Er betonte das Wort.

»Wie im Urlaub?«

»Und ich verspreche, dass wir nicht von der Arbeit reden werden.«

Als sie aufgelegt hatte, fragte sie sich, ob das die richtige Entscheidung gewesen war, und ob er sich daran halten würde, nicht von der Arbeit zu reden, oder ob er es darauf angelegt hatte, so viel wie möglich von ihr über die Autopsien zu erfahren. Sie verschwendete dennoch keine Zeit und zog sich ein dünnes, regenbogenfarbiges Kleid im Muumuu-Stil an, das sie in einem Laden im Hotel auf Maui gekauft hatte. Sie föhnte sich schnell die Haare und benutzte ein bisschen Gel, um es zu stylen, lässig und einfach. Ihre kastanienfarbenen Locken ließ sie offen auf die Schultern fallen. Ob er wohl Hintergedanken hatte? Oder hatte sie selbst welche? Andererseits, wieso sollte sie nicht ein wenig Spaß haben, hier in der schönsten Küstenstadt der Welt? Wieso sollte sie nicht die Gelegenheit nutzen, um ihr neues Kleid zu tragen, und wieso sollte sie nicht dieses köstliche Opaka-paka kosten? Alan Rychman und Paul Zanek sollen zur Hölle fahren – aus unterschiedlichen Gründen. Und wieso sollte sie verdammt noch mal nicht die Gesellschaft eines anderen Mannes genießen? Sie holte ihren Stock und bewunderte sich einen Moment in dem großen Spiegel, bevor sie ihr Zimmer verließ. Gut, dass sie das inseltypische Kleid mit dem Gürtel um die Hüfte gekauft hatte und nicht das ohne. Sie erinnerte sich selbst daran, dass sie mit Parry vorsichtig sein sollte, schließlich waren Männer überall auf der Welt gleich und trotz seines guten Aussehens hatte sie nicht vor, irgendetwas mit einem weiteren Workaholic und Dienststellenleiter anzufangen, ob auf Hawaii oder nicht.

Das Dinner war sehr angenehm, es wurde im Freien am Strand des Pazifiks serviert. Bemerkenswerterweise hielt Parry sein Wort und erwähnte kein einziges Mal die beiden Autopsien oder den Fall des Phantomkillers, der das Waikiki-Urlaubsresort von Honolulu heimsuchte.

Nach einem köstlichen Dinner, bei dem sie ein dickes Stück frischen Opaka-paka verspeiste, zu dem sie einen Wein trank, machte sie mit ihm einen langen Spaziergang auf der belebtesten Straße Waikikis. Das Leben brodelte hier auf den Gassen und in den Hotels genauso intensiv, wie es das im Ozean tat, die Schwärme an Menschen schlängelten entspannt, aber zielstrebig durcheinander, kamen aus Geschäften oder gingen hinein und umrundeten die Betonpfeiler. Shoppen konnte man in der Kalakaua Avenue die ganze Nacht.

Parry hätte sie gar nicht auf die hell erleuchteten einzigartigen Geschäfte hinweisen müssen, die den Weg säumten. Weltweite Ketten konkurrierten mit kuriosen einheimischen Läden. Als Unbeteiligte kamen ihr die Leute leicht verrückt vor; immerhin waren sie um den halben Erdball geflogen, nur um sich dann verbissen einer Aktivität hinzugeben, die sie auch zu Hause in einer Shoppingmall in Upper Sandusky, Idaho oder Tokio hätten erledigen können. Die Menschen schienen sowohl erstaunt als auch erfreut, dass sie bekannte Markennamen neben unbekannten fanden, grelle Neonreklamen neben eher dezenten Fassaden verschiedener Geschäfte wie Endangered Species, The Wyland Art Gallery und exotische koreanische, japanische und hawaiianische Restaurants. Es gab auch Woolworthʼs, Burger King, Hilo Hattieʼs, ABC Liquor and Pharmacy, Thom McAn Shoes. Es gab dreistöckige Shoppingmalls auf dem International Market Place im Herzen Waikikis. Alles war berauschend, aufregend und zu einem Gutteil auch ernüchternd, dachte sie. Auf Maui gab es zwar ebenfalls hoch aufragende Hoteltürme, die die Küsten säumten, aber die Atmosphäre, die nur in einer großen Weltstadt herrschte, war einzigartig.

»Man könnte hier ein Vermögen ausgeben, bevor man auch nur den halben Block entlanggegangen ist«, sagte er in ihr Ohr, während sie entspannt die hell erleuchtete Straße entlangschlenderten.

Ihr nachdenkliches »Hmmm« klang wie ein Schnurren. Sie hatte ein bisschen mehr Wein getrunken, als gut für sie war. »Das sehe ich«, fügte sie noch rasch hinzu. »Aber deswegen bin ich nicht nach Hawaii gekommen.«

»Für viele andere ist das allerdings sicher reizvoll, Doktor. Die lassen ein Vermögen hier … nach Honolulu kommen jede Saison Millionen.«

Sie sah ihn von der Seite an, während sie weiter durch den Trubel schlenderten und geschickt durch den Menschenstrom manövrierten, in dem sie sich wiederfanden. Vor einem kleinen Laden, der vietnamesische Lebensmittel verkaufte, kamen sie zum Stehen. »Hier gibtʼs ein paar wirkliche Köstlichkeiten«, versicherte er ihr.

»Waren Sie in Vietnam? Eine Vorliebe für die örtliche Küche entwickelt?«

»Hat das nicht jeder?«

»In welcher Einheit waren Sie?«

»Ganz normaler Infanterist.«

»Infanterie, und Sie sind lebend da rausgekommen? Ich bin beeindruckt.«

Sie gingen weiter die Einkaufsmeile entlang, der sanfte Passat wehte durch das menschengemachte Asphalt-Tal, durch den Beton und Stahl, der sie umgab. Die Millionen Schaufenster erhellten ihren Weg, als ein Straßenhändler ihnen ein paar Papier-Halsketten anbot, um einen »Flitterwochen-Schnappschuss« zu machen.

Parry bedeutete ihm zu verschwinden und sie schüttelte ein wenig verlegen den Kopf, beide lachten, sowohl amüsiert als auch peinlich berührt. Sie schüttelte es jedoch sofort wieder ab und fragte: »Sie haben sicher eine Menge Druck, den Ruf der Stadt auf Hochglanz zu halten, oder?«

»Das FBI sollte eigentlich über solchen Dingen stehen, aber ja … das ist noch gelinde ausgedrückt. Sie haben eine gute Beobachtungsgabe, Dr. Coran, aber wenn Sie sich erinnern, ich habe doch versprochen, nicht von der Arbeit zu reden, erinnern Sie sich?«

Sie ignorierte es. »Einige der jungen Frauen sind genau aus dieser Gegend hier verschleppt worden, oder nicht?«

»Ja, aber deswegen sind wir nicht hier.«

»Er hätte sie sich genauso gut am helllichten Tag schnappen können. Er wäre von Menschen umgeben und hier ist es so hell wie am Times Square zu Silvester.«

»Sind am Times Square zu Silvester noch keine Menschen verschwunden?« Er lachte gedämpft und schnaufte dann, schüttelte den Kopf, die sorgfältig gekämmten Haare vom Wind zerzaust. »Ich habe eigentlich Ihretwegen versprochen, nicht von der Arbeit zu reden, wollte Ihnen ein wenig die Stadt zeigen, und jetzt reden Sie genau …«

»Ein Psychiater würde es wohl besessen nennen, ich bin zu sehr auf meine Arbeit fixiert, Gift für jede Beziehung.«

»Ja, da sind bei mir auch Symptome vorhanden. Ich will Ihnen nicht zu nahetreten, aber von dem, was ich bisher gesehen habe, haben wir wohl Glück, Sie hier zu haben … inklusive der Besessenheit von der Arbeit. Ist ja nichts dran auszusetzen, wenn man Begeisterung für seine Pflichten aufbringt und so …«

»Oh je, Sie werden mir aber nicht gleich irgendeinen patriotischen Lee-Greenwood-Song vorträllern?«, sagte sie, während sie dachte: Was zur Hölle weiß er schon von meiner Besessenheit?

Er lachte herzlich und sang: »God bless America and the USA.« Ein paar Leute starrten ihn an, andere lachten.

Mit einem gewissen Ernst in der Stimme erwiderte sie: »Sie haben ja keine Ahnung, was mir wirklich wichtig ist, Chief Parry.«

Ihre kaum verhohlene Anspielung brachte ihn zum Schmunzeln und ihre Blicke trafen sich einen Moment, bevor er erwiderte. »Alle Cops sind fanatisch – zumindest, was den Job angeht. Das kann man nennen, wie man will.«

»Die meisten Menschen sind besessen von irgendetwas oder von irgendjemandem«, konterte sie. »Crazy ist doch eines der Schlüsselwörter in jedem Country-Song, oder nicht?«

»Jeden treibt irgendwas zum Wahnsinn, sicher«, stimmte er zu. »Bei manchen sind es die Lippen eines Filmstars …«

»… oder die Kurven …«

»… Comics, Baseballsammelkarten, Briefmarken …«

Sie hielt Schritt: »… Schundromane, Rasenmähen …«

»… Antiquitäten, Geld, Autos …«

Mit einem Salut an die Menge fügte sie hinzu: »Shoppen.«

»Genau.«

»Ganz zu schweigen von Sammlern von Teeservices, Sportverrückten, Hundeliebhabern oder Katzenfreunden und den Sammlern von allerlei Verrücktem und Obskurem.«

Er musste lauthals lachen.

»Von Streichholzbriefchen bis zu kleinen Steinfiguren mit riesigen Geschlechtsteilen«, fügte sie selbst unter Lachen hinzu. »Und manche Menschen kriegen einfach nicht genug von Feuer. Spielen Sie gern mit dem Feuer, Mr. Parry?«

»Sicher, mit bestimmtem Feuer schon, wer tut das nicht?«

»Feuer, das Sie kontrollieren können, meinen Sie. Na ja, vielleicht sollten Sie besser vorsichtig sein, denn bei dem Wind kann jedes Feuer außer Kontrolle geraten.«

Sie liefen weiter, bis sie vor einem ungewöhnlichen Laden standen, der Artikel aus Neuguinea verkaufte, die Wände und Schaufenster waren mit Kopfschmuck und Masken mit steinernen, hervortretenden Augen, Zähnen wie Fängen und riesigen Ohren gefüllt. Sie trat ein, um sich das einzigartige Geschäft anzusehen, und er folgte ihr. Die angebotenen Artikel hatten etwas Rohes und Ungezähmtes und schienen besser in einem Museum aufgehoben als in einem Laden, der damit Gewinn machen wollte. Speere und alte Werkzeuge zierten die eine Wand, rustikale Kunst die andere, und während sie von einer Verkaufsvitrine zur anderen gingen, schienen die Augen der uralten, handgemachten Masken, von denen jede ein Einzelstück war, ihren Schritten zu folgen. »Ein Archäologe würde sich hier wie zu Hause fühlen«, kommentierte sie.

»Noch eine Form des Fanatismus?«, fragte er. »Der Wunsch, in die Vergangenheit zu sehen, die Toten zu verstehen?«

»Nicht so verschieden von dem, was wir Forensiker tun, nur dass unsere Toten noch nicht ganz so gut abgelagert sind.«

»Ein guter Medizinmann, oder Medizinfrau, in Ihrem Fall, ist eben immer noch ihr Gewicht in Papayas wert, zumindest auf diesen Inseln«, sagte er mit einem breiten und ansteckenden Lächeln.

»Sind alle Opfer hier aus der Gegend verschwunden?«, fragte sie.

»Nein, nicht alle. Es wurden auch mehrere aus Chinatown entführt.«

»Chinatown?«

»Einer der ältesten Distrikte hier, wo das älteste Gewerbe der Welt immer noch dasselbe ist wie eh und je.«

»Verstehe. Waren alle Frauen Prostituierte?«

»Sie hatten noch keine Zeit, sich die Akten anzusehen, nehme ich an?«

Sie schüttelte den Kopf.

Er führte sie wieder auf die Straße und sagte dann: »Einige waren Studentinnen, die möglicherweise dem Gewerbe nachgingen, um ihr Studium zu finanzieren, andere schienen einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Ein paar derjenigen, die im letzten Jahr verschwunden sind, haben irgendwo Nachtschicht gearbeitet und waren vermutlich gerade auf dem Heimweg, als sie verschwunden sind.«

»Und alle fielen in eine bestimmte Altersgruppe?«

»Die Jüngste war 16 und die Älteste 19.«

»Ziemlich schmaler Bereich.«

Er nickte und fügte hinzu: »Er scheint auf offene, lange schwarze Haare zu stehen und offensichtlich bevorzugt er Mädchen von den Inseln, nie eine haole – eine Weiße.«

Er begleitete sie zurück zur Lobby ihres Hotels, wo ein kleiner, gedrungener Mann in einem grellbunten Hawaiihemd auf Jim Parry zueilte, ihn zur Seite nahm und im Flüsterton hastig auf ihn einredete. Der Mann hatte einmal pechschwarze Haare gehabt, aber jetzt waren sie von weißen Strähnen durchzogen. Seine Haare wurden vom Wind zerzaust und umwehten seine zerfurchte Stirn und seine besorgten Augen. Sie hörte, wie Jim ihn Tony nannte. Er hatte Parry irgendeine wichtige Botschaft überbracht, der sein Bestes gab, den übergewichtigen Mann loszuwerden.

Es schien aber, als hätte Parry damit keinen Erfolg, also steuerte Jessica schon mal auf den Hoteleingang zu, um auf ihr Zimmer zu gehen, doch das brachte Parry dazu, zu ihr zu eilen. Er stoppte sie, indem er die Hand auf ihre Schulter legte, der ältere Mann stand neben ihm und runzelte die Stirn, sein von Natur aus grimmiger Blick verzerrte seine Gesichtszüge.

»Das ist Special Agent Anthony Gagliano, Dr. Coran.« Gagliano war so braungebrannt, dass er weniger wie ein Italiener und eher wie ein Latino aussah. Fast schwarz, dachte sie.

»Gagliano«, sagte sie, »hätte ich mir denken können.« Sie versuchte zu lächeln, fühlte sich aber erschöpft.

»Wir haben da was, wegen des vermissten Mädchens«, sagte Parry. »Die Abteilung für vermisste Personen in Honolulu hat Tony benachrichtigt, nachdem die beiden hawaiianischen Cops gestorben sind, aber erst vor ein paar Stunden hat er die Familie dazu gebracht, einem Treffen mit mir zuzustimmen. Es sind 24 Stunden vergangen und die Beschreibung des Mädchens passt auf das Opferprofil.«

»Dann haben Sie schon ein Opferprofil ausgearbeitet?«

»Ist in den Akten, die ich Ihnen gegeben habe, erinnern Sie sich?«

»Ein Opferprofil ohne Leichen. Das hat vermutlich vorher noch keiner gemacht, Inspektor. Ich bin beeindruckt.«

»Sollten Sie nicht. So schwer war es auch nicht. Sie hätten alle Schwestern sein können, so ähnlich sehen – haben sie sich gesehen.«

Sie seufzte und nickte. Ihr war klar, dass das ein weiterer Beleg war, der Parry zur Überzeugung gebracht hatte, dass ein sehr krankes Hirn hinter den Fällen der verschwundenen Mädchen stehen musste.

»Ich muss los. Tony und ich werden die Verwandten befragen und so viel wie möglich herausfinden.«

»Versuchen Sie so viele medizinische Informationen wie möglich zu kriegen«, sagte sie mit Nachdruck.

»Sicher, sicher«, erwiderte Gagliano und hörte sich beinahe ein wenig beleidigt an.

»Und nicht nur die Zahnarztunterlagen, sondern sämtliche medizinischen Informationen«, beharrte sie, während Gagliano ihr seinen besten Wir-wissen-schon-was-wir-tun-Blick zuwarf. »Alles, was wir haben, ist dieser schreckliche Arm im Kühlfach von Lau, und das ist nicht viel, womit man arbeiten kann. Wir brauchen jedes Fitzelchen Information vom Hausarzt des Mädchens, angefangen mit der ersten Masernimpfung. Wäre schön, wenn wir ein paar Krankenakten und Röntgenaufnahmen von den Knochen hätten.«

Gagliano hatte trotz seiner Korpulenz die Augen eines Lausbuben. Er sah Jessica einen Moment an, bevor er antwortete. »Gibt nicht so viel abzulesen aus dem Stück Haxe, das wir da gefunden haben, was, Doc? Sicher, wir werden die Familie ausquetschen, ob es irgendwelche medizinischen Unterlagen gibt.«

»Schlafen Sie sich gut aus. Sie werden es morgen brauchen«, sagte Parry, während Gagliano in Richtung seines Autos verschwand. »Hat Spaß gemacht, mit Ihnen zum Dinner und spazieren zu gehen«, sagte er.

»Mir auch. Wir sehen uns dann irgendwann morgen, Chief Parry.«

»Sie können mich auch Jim nennen. Wir werden ja sehr eng zusammenarbeiten.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob wir so eng zusammenarbeiten, Jim, und ich weiß nicht, wann mich Zanek abberuft. Vielleicht ist Chief erstmal besser.«

Ein Stirnrunzeln, das schnell wieder verschwand und durch ein dezentes Lächeln ersetzt wurde. »Okay, Doktor. Ganz wie Sie wollen.«

»So ist es meistens.«

»Das glaube ich auf Anhieb.«

Er gönnte sich den Moment, ihr hinterherzusehen, und ihm war egal, was Gagliano wohl darüber dachte. Selbst mit dem Stock, oder vielleicht auch gerade deswegen, war sie eine einzigartige und faszinierende Mischung aus Schönheit und Intelligenz, Weiblichkeit und Stärke. Ihm war bereits klar, dass er sie mochte und sie näher kennenlernen wollte.

Gagliano stieß wieder zu ihm und sagte: »Ziemlich hübsch für eine Forensikerin, Jim. Hab mich schon gewundert, als man mir gesagt hat, du bist im Rainbow zum Dinner mit einer Gerichtsmedizinerin, aber mir hat ja verflucht noch mal auch keiner gesagt, was das für eine heiße Braut ist. Ich hätte mir da eher die Schwester aus Einer flog über das Kuckucksnest vorgestellt, du weißt schon. Trotzdem hätte ich nicht gedacht, dass du auf so ʼne Leichenaufschlitzerin stehst.«

»Tony, heute Abend ging es nur um die Arbeit.«

»Hey, wenn man schon arbeiten muss, ist es doch eine ganze Ecke leichter, wenn die Dame, die einem gegenübersitzt, aussieht wie eine Mischung aus Marilyn Monroe und Lauren Bacall!«

Parry lachte. »Halt die Klappe und ab in den Wagen. Ich stehe bei der Bushaltestelle und fahre dir dann nach. Besorgen wir mal, was immer Frau Doktor haben will.«

»Rein geschäftlich, was?«

»Los!«

Parry hatte immer mal wieder mit Tony Gagliano zusammengearbeitet in den acht Jahren, seitdem er auf Hawaii war. Tony war ein guter Mann, ein tougher Cop und ein echter Freund, der schon mehrmals versucht hatte, Jim mit einer seiner vielen Verwandten zu verkuppeln, die ab und zu vom Festland zu Besuch kamen. Der Großteil von Tonys Familie lebte weiter in der Nähe der Bucht von San Francisco. Tony, der in seinem Leben zumeist das schwarze Schaf der Familie gewesen war, war zufällig in die Polizeiarbeit gestolpert, nachdem er eigentlich nach Hawaii abgehauen war, um sein Leben am Strand zu vergammeln. Das war vor fast 20 Jahren gewesen. Er hatte sich in Honolulu durch die Ränge vom Streifenpolizisten nach oben gearbeitet, hatte so gut wie jeden denkbaren Job bei der Polizei gemacht, bis er seine Marke als Detective erhalten und sich schließlich im reifen Alter von 25 beim FBI beworben hatte. Jetzt, mit 38, vorzeitig gealtert und mit beginnender Glatze, hatte er mit Parry schon eine Menge durchgemacht und sie vertrauten einander instinktiv, so wie niemand anderem im HPD oder FBI. Abgesehen von der gemeinsamen Arbeit hatten sie auch so manches Mal zusammen gegrillt oder waren bei einem Footballspiel gewesen. Und Tony hatte mit ansehen müssen, wie James Parry in all den Jahren jede Beziehung mit einer Frau in den Sand setzte. In mancher Hinsicht wusste Tony einfach zu viel über ihn, dachte Jim Parry, als er sich hinter das Steuer seines zivilen Wagens setzte.

Parrys Wagen fuhr los, bog scharf von der Bushaltestelle am Rainbow Tower ab und fädelte sich in den Verkehr auf dem Ala-Noana-Boulevard. Er versuchte sich auf die vor ihm liegende Arbeit zu konzentrieren. Vom letzten mutmaßlichen Opfer des Passat-Killers hatte er ein Foto gesehen, eine wunderschöne, zierliche junge Frau mit glänzend schwarzen Haaren, die in Wellen fast bis zu ihrer Hüfte fielen. Auch wenn die anderen nicht ganz so lange Haare gehabt hatten, so hatten sie doch alle eine ähnliche Frisur gehabt. Linda, oder Lina, wie ihr engster Familienkreis sie nannte, war 19 Jahre alt und hatte nicht gerade eine dicke Akte, nur ein Foto und die Einzelheiten ihrer häuslichen Situation und wo sie arbeitete. Ihr Arbeitgeber war ohne Ergebnis befragt worden. Er hatte Linda als Letzter gesehen, bevor sie vermutlich auf dem Ala-Wai-Boulevard zu einer dunklen Gestalt in den Wagen gestiegen war. Das war auf dem Weg von der Arbeit nach Hause gewesen, auf der anderen Seite des Kanals. Sie hatte in Nachtschichten gearbeitet, um ihre Semesterbeiträge an der Universität bezahlen zu können. »Verdammte Schande«, murmelte er, während er in die schmale Einfahrt einbog und Tony vor ihm auf der steilen Straße parkte. Lindas Vater kam den beiden Cops entgegen, ein kleiner, mürrische Vollbluthawaiianer mit den charakteristischen breiten Gesichtszügen und einer Menge dicker Falten, Zeichen des Alters und seiner Abstammung. Seine kleine portugiesische Frau saß auf der Veranda und starrte wie betäubt vor sich hin, während sie ein Lied summte, das von einer anderen Zeit und einem anderen Ort erzählte. Das Haus schien sowohl außen als auch innen in undurchdringliche Schwärze gehüllt zu sein.

Parry stellte sich vor und schüttelte dem Mann die Hand, aber seine Blicke wanderten über die Veranda und in das dunkle Innere des Hauses.

»So ist es ihr gerade am liebsten, kein Licht und niemand im Haus. Sie will nicht, dass Sie reingehen und die Sachen unserer Tochter durchwühlen, verstehen Sie?« Er hörte sich fast entschuldigend an, anscheinend daran gewöhnt, sich Autoritäten nicht zu widersetzen.

Parry nickte und fragte den Vater unvermittelt, ob es irgendwelche medizinischen Unterlagen über Linda gebe. »Das könnte nützlich sein«, versicherte er Mr. Kahala.

»Wenn Sie nach Medizinakten und Zahnarztunterlagen fragen, dann bedeutet das normalerweise was Schlimmes«, erwiderte der Vater mit traurigem Blick. »Das weiß ich. Meine Frau, Miya, weiß am ehesten, wo die Unterlagen sein könnten, lassen Sie mich kurz mit ihr reden.« Er verstummte einen Moment und sah Gagliano und Parry an. »Haben Sie sonst noch Fragen?«

»Ja, einige.«

»Und es würde wirklich helfen, Sir, wenn wir in das Zimmer Ihrer Tochter dürften«, fügte Gagliano hinzu. »Man weiß nie, welcher kleinste Gegenstand bei Ermittlungen weiterhelfen könnte.«

»Wir haben den Cops schon alles gesagt, was wir wissen.«

»Aber Sie haben die Polizei nicht reingelassen. Wir haben einen Durchsuchungsbefehl, aber wir würden es bevorzugen, wenn Sie kooperieren.«

Parry entschuldigte sich für seinen Partner und spielte die Rolle des guten Bullen, während Gagliano den Mann unverblümt ansah und weiterredete: »Wir müssen das direkt von Ihnen hören, Sir. Wir haben unsere Infos nur zweiter Hand vom HPD, wer weiß … wir könnten etwas übersehen.« Der alte Mann nickte und begann einen eintönigen Monolog, bis er erwähnte, dass seine Tochter auf die Universität ging. Dabei schienen seine Augen einen Moment zu leuchten und seine Stimme wurde kräftiger. Aber seine Frau rief aus den Schatten auf der Veranda: »Und deswegen wurde sie umgebracht! Hat versucht, was Besseres zu werden und für diese Schule zu bezahlen. Wäre meine Lina nur zu Hause geblieben …«

»Sei still! Du weißt ja nicht, ob Linda getötet wurde!« Während er sie noch ermahnte, ging er zu ihr und nahm sie in die Arme. Die Tränen glitzerten im reflektierten Licht der Straßenlaterne und es war für einen Moment das Einzige, was sie vom Gesicht des kleinen Mannes mit den breiten Schultern sehen konnten. »Gehen Sie rein. Tun Sie, was Sie tun müssen«, sagte er zu Parry und Gagliano.

Parry knallte mit dem Schienbein in dem beengten Inneren des Bungalows gegen einen Kaffeetisch, bevor Gagliano den Lichtschalter fand und sie etwas sehen konnten. Das Licht erhellte ein komfortables, sauberes Haus mit Teppichen auf einem Parkettboden, zahllosen Kissen, die schon so viele Küchengerüche aufgesaugt zu haben schienen, dass es ihnen nichts mehr ausmachte. Eine große Couch, ein kleineres Sofa und ein Lesesessel für den alten Mann, zusammen mit einem Fernsehschrank, in dem auch ein Videorekorder und eine Stereoanlage standen, füllten den Raum – der amerikanische Traum.

Bilder zierten Wände, Schränke, jede freie Fläche. Fotos von der Familie beim Picknick, bei Ausflügen, mit Freunden auf Partys, die meisten davon zeigten Linda, ein hübsches, lächelndes Mädchen, die unschuldigen braunen Augen waren groß, so vertrauensvoll und neugierig.

Um das Wohnzimmer lagen einige andere Räume. Eine Küche, die gleichzeitig als Esszimmer diente, das Schlafzimmer der Eltern und ein kleineres Schlafzimmer. Lindas Zimmer war einfach zu finden. Das Deckenlicht erhellte die typische Höhle eines Teenagers, gefüllt mit Postern von Rockstars. Sting, Guns & Roses und Ice-T kämpften um den Platz mit einer albernen Nachbildung eines hawaiianischen Kriegers, dem Maskottchen der Universität von Hawaii, zusammen mit ein paar Postern der wunderschönen Küste, einem Rettet-die-Wale-Poster, Bildern von Delfinen und Ähnlichem. Ein großes Bücherregal war vollgestopft mit Paperbacks aller Größen, Formen und Farben, mindestens so viele Science-Fiction-Romane wie Liebesgeschichten, und es schien, dass sie auch Horrorbücher mochte, ihre offensichtlichen Favoriten waren Dean Koontz, Geoffrey Caine und Stephen Robertson.

Parry hatte sich in solchen Momenten immer wie ein Eindringling gefühlt, wie ein blutgieriger Geier, der daran interessiert war, den Kadaver eines Lebens zu verspeisen. Auf dem Nachtkästchen des Mädchens war ein Gedichtband, eine Seite war markiert und ein paar Gedichtzeilen mit rotem Textmarker hervorgehoben, vermutlich etwas, das sie auf der Universität studierte. Bei dem Buch handelte es sich um Shakespeares Sonette, die Zeilen waren aus dem Sonett Nummer 84, und als Parry sie vorlas, fühlte er sich davon sofort ergriffen:

Die Sommerblum’ erfreut die Sommerwelt,

Und müßt’ auch einsam sie für sich verblühn:

Doch wenn die Blum’ ein gift’ger Tau befällt,

Wär’ ihr das ärmste Unkraut vorzuziehn.

In Sauerstes kehrt Süßestes sein Wesen.

Unkraut riecht lieblicher als Lilien, die verwesen.

Parry blätterte durch das Buch und sah, dass noch andere Zeilen unterstrichen waren. »Keine Zeit für eine Lesung, Chief«, sagte Gagliano. »Die Leute hier werden uns vermutlich gleich rauswerfen.«

Parry steckte das Buch in die Tasche und durchsuchte weiter das Zimmer des Mädchens. Er fand nichts Ungewöhnliches, Erhellendes oder Hilfreiches. Gagliano wühlte die Schublade mit der Unterwäsche durch, als der Vater in der Tür erschien.

Parry trat zwischen sie und fragte: »Traf sich Ihre Tochter mit jemandem? Ich meine, hatte sie einen Freund?«

»Sie war zu ernst für die meisten Jungen. Sie wollte zuerst das College beenden. Keine Jungs, abgesehen von George, aber sie hat sich von ihm getrennt.«

Beide Männer vom FBI machten sich sofort Gedanken über diesen George und ob das Ganze vielleicht nur ein Streit unter Liebenden war und Linda morgen wieder daheim auftauchen würde.

»Hat dieser George auch einen Nachnamen, Sir?«, fragte Gagliano.

Der Vater sah verwirrt aus und rief nach seiner Frau wegen des Namens.

»Oniiwah, George Oniiwah«, stöhnte sie durch das Fenster von der Veranda aus, auf der sie sitzen geblieben war.

Der Vater wiegelte ab. »Aber sie waren nicht lange zusammen.«

Parry dachte sofort, dass der Junge ein Hawaiianer war, als er Georges Nachnamen hörte, da es ein gebräuchlicher Name auf der Insel war. Viele aus das Oniiwah-Familie waren durchaus wohlhabend. »Wissen Sie, wo dieser George Oniiwah wohnt?«

Der Vater rief nach seiner Frau, die etwas auf Portugiesisch murmelte, bevor er den Straßennamen und die Hausnummer sagte. Die Adresse war in einer weit besseren Gegend der Stadt. Die beiden hatten sich in ihrem ersten Jahr an der Universität kennengelernt, sagte er. »Aber Lina hat es beendet, als er was Ernsteres wollte.«

»Was Ernsteres?«

»Sie wissen schon, heiraten, ein Haus, Kinder.«

Die Mutter kam herein und stand im Zimmer ihrer vermissten Tochter. In den Händen hatte sie einen Stapel Papier und ein kleines Buch, die medizinischen Unterlagen. Parry nahm sie mit einem ehrlich gemeinten Dankeschön entgegen und Gagliano nutzte den Moment, um zu sagen, dass sie ein anderes Mal wiederkommen würden. Der Vater wollte protestieren, verstummte jedoch. Parry und Gagliano wünschten den aufgelösten Eltern eine gute Nacht. Nachbarn standen mittlerweile vor dem Bungalow und dem zivilen Wagen des FBI, um ihre Unterstützung für die trauernde Familie zum Ausdruck zu bringen. Parry fragte sich, wo George war, und er fragte Lindas Vater, ob der Junge sich seit dem Verschwinden gemeldet hatte. Die Antwort war Nein.

Gagliano sah Parry an, der wusste, was Sache war. »Wir werden Georgie-Boy wohl vorladen müssen und ihm ein paar Fragen stellen.«

»Morgen, Tony«, entgegnete Jim Parry, dem schon die Augen schwer wurden und der angestrengt auf das Ziffernblatt seiner Uhr starrte und blinzelte – es war bereits ein Uhr morgens. Es war ein vollgepackter Tag gewesen. Er klopfte auf das Buch in seiner Tasche und sagte: »Ich gehe heim, muss ein wenig lesen und schlafen. Wir sehen uns morgen.«

Plötzlich rief eine der besorgten Nachbarinnen, eine dicke hawaiianische Frau, die auf Parry zukam wie ein Rhinozeros, mit dröhnender Stimme, die selbst Gagliano beeindruckte: »Ihr Bastarde findet besser die kleine süße Lina und bringt sie ihrer Mama zurück, verstanden, Mr. FBI-Mann? Wenn nicht, dann wird es hier in Oahu für euch sehr ungemütlich werden.«

»Drohen Sie gerade Chief Parry, Lady?«, entgegnete Gagliano, aber Parry hielt die Hand beschwichtigend hoch und rief der Menge zu: »Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um das Mädchen zu finden, aber wir haben keine Zauberkräfte. Wir können keine Wunder wirken.«

Im Grunde hatte er ihnen damit mitgeteilt, dass das Mädchen tot war. Parry und Gagliano stiegen jeder in sein Auto und verschwendeten keine Zeit, von dort wegzukommen, fuhren jedoch im Schneckentempo an, um zu sehen, ob die Menge ihnen Steine hinterherwerfen oder jemand mit einer Waffe auf sie schießen würde. Beide Männer waren erleichtert, als nichts weiter passierte. Parry sah noch bis zur nächsten Kreuzung immer wieder in den Rückspiegel, er war genauso frustriert und wütend wie müde.

MACHETE - Der Passat-Killer von Hawaii

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