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Kapitel 2

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Aber ich will sie erlösen aus der Hölle und vom Tod erretten …

Hosea 13,14

Am folgenden Tag vor der Küste von Maui, am Unterwasserkrater des Molokini …

Schulen dicker kalas und malolos schossen zwischen den blauen Feuer- und Fächerkorallen hindurch, und als Jessica einen Finger ausstreckte, schlüpfte der wunderschöne, sternförmige kihikihi unter die hellsilbernen und gelbgoldenen Korallen, die in dem durchs Wasser gebrochenen Licht wie in einem Unterwasserwald leuchteten. Es gab etwa 650 verschiedene Fischarten in den Gewässern um Hawaii, und Jessica hatte das Gefühl, sie hatte alle davon heute Morgen gesehen, als sie vom Auslegerboot Ku’s Vision in den berühmten Molokini-Krater getaucht war, direkt südwestlich vor der Wailea-Küste auf der Insel Maui. Hier tauchte Jessica mit der vor Ort geliehenen Taucherausrüstung und ihr Geist war frei, ihr Körper fühlte sich lebendig an. Es war das Gefühl völliger Schwerelosigkeit und absoluter Freiheit, das sie begeisterte, zusammen mit der psychologischen Distanz von ihrer normalerweise finsteren Arbeit als Forensikerin beim FBI. Sie brauchte und wollte diesen Abstand. Sie war schon auf den Bahamas, den Florida Keys und Aruba tauchen gewesen, aber es gab nicht viel Vergleichbares wie in einem sanft gerundeten alten Vulkankrater zu tauchen, der unter dem Ozean verborgen war, um ein wenig Abstand von sich selbst zu gewinnen und die enorme Vielfalt des Lebens auf der Erde wahrzunehmen.

An der Oberfläche bildete eine halbmondförmige Spitze des Kraters die Insel Molokini. Weniger als eine Meile lang, war sie ein maritimer Zufluchtsort und ein beliebter Hafen für Taucher. Niemand, nicht einmal der neue Chef der Abteilung IV, Paul Zanek, konnte sie hier erreichen. Sie hatte sogar Jack Westfall aus ihren Gedanken verbannt, einen hart arbeitenden FBI-Neuling, für den sie Gefühle entwickelt hatte, kurz bevor er sich umbrachte. Jacks letzte Unterhaltung mit ihr war ein Hilfeschrei gewesen, den sie nicht gehört hatte.

»Warst du je in den Smokeys?«

»Den Smokey Mountains?«, hatte sie gefragt.

»Da kann man verloren gehen, richtiggehend verschluckt werden.«

»Ich gehe gern jagen und tauchen, Jack, und wenn ich nicht weg kann, dann auf den Schießstand.«

»Ich versuche wenigstens einmal im Jahr dahin zu kommen, in die Berge, meine ich …«, hatte er gesagt. »Dort gibt es das blaueste Blau.«

»Nimm mich das nächste Mal mit«, hatte sie ihn aufgefordert.

»Da kann man lebendig verschluckt werden. Man muss den Weg kennen. Menschen gehen jedes Jahr in den Bergen dort verloren. Meistens Kinder. Sie werden einfach … verschluckt.«

»Ich bin ständig mit meinem Dad jagen gegangen«, hatte sie ihm versichert. »Ich würde mich nicht verlaufen.«

»Ich kenne die Gegend, Jess. Und ich sage dir, jeder – wirklich jeder – kann sich dort verlaufen.«

Er hatte nicht über die verdammten Berge geredet, sondern über etwas Dunkleres, etwas Beängstigenderes, aber sie hatte es nicht gehört. Dann war es zu spät gewesen.

Hier war es ihr gelungen, Jack Westfall und Chief Zanek und alle anderen zu vergessen, sie hatte den Blick einfach durch diese Welt des Lichts und der Dunkelheit unter Wasser schweifen lassen, eine Welt, die vom selben Überlebensinstinkt regiert wurde wie die der Landtiere. Aber hier wirkte sogar der Kampf zwischen Jäger und Beute auf Leben und Tod ein wenig weicher, sanfter.

Sie sah die lebenden dünnen Polypen, die in ganzer Länge ausgestreckt nach Nahrung suchten und sich zwischen den Korallen eingenistet hatten. Die unglaublich vielen Farben, die von so vielen verschiedenen Meereslebewesen stammten, blendeten sie beinahe.

Zwischen den Hirnkorallen und den roten Korallen flitzten die Fische hindurch, tauchten hinab, stiegen wieder auf und fielen erneut, wie Vögel im Flug, in ihren vertrauten Korallenwald. Ein röhrenförmiger, schlanker Trompetenfisch – ein Einzelgänger – schwebte knapp über dem Grund, also näherte sich Jessica, um einen genaueren Blick auf ihn zu erhaschen. Neben einer Gruppe von Seefächern erhob sich eine vorher unsichtbar im Sand vergrabene Flunder und schwamm davon, aufgescheucht von dem Trompetenfisch oder von ihrer Gegenwart, das konnte sie nicht genau sagen. Wie ein Blatt in der Strömung des Ozeans fand die Flunder einen neuen Platz auf dem Meeresboden, bohrte sich in den Sand und verschwand wieder.

Ein Paar Meeresschildkröten schwebten vorbei und sie wandte ihre Aufmerksamkeit diesen verspielten Kreaturen zu. Sie schwammen wie in einem Ballett in perfekter Harmonie umeinander, ihre Bewegungen synchron wie bei einem Paar Delfinen.

Jessica wurde ein Teil des Lebens in dieser neuen Umgebung und ließ sich sanft von der Brandung hin- und herwiegen, die in das Kraterriff strömte und wieder hinaus.

Der Ozean war hier eine sonnendurchflutete Welt, selbst in zwölf Metern Tiefe, wo die Korallen das Licht einfingen und einem Regenbogen warmer Farbtöne reflektierten. Der große Krater, dessen Umrisse in Sonnenlicht und Schatten unter ihr erkennbar waren, wirkte wie ein kosmisches Symbol des nie endenden Kreislaufs des Lebens, ein Kreis ohne Anfang oder Ende, und doch gab es immer einen neuen Anfang und ein neues Ende, unablässig und für immer.

Wenn Jack Taucher statt Wanderer gewesen wäre. Wenn er nicht so viele ungelöste Fälle von verschwundenen Kindern in sich hineingefressen hätte. Eine Welt voller Wenns wartete auf sie an der Oberfläche.

Die Welt schloss wieder zu ihr auf, in dem Moment, als Dr. Jessica Coran in ihr Hotelzimmer im Wailea Elua Inn zurückgekehrt war, wo der Rezeptionist ihr eine kryptische Nachricht übergab, die folgendermaßen lautete: Dringend. 1-555-1411 anrufen.

Sie sah, dass es die Nummer des örtlichen FBI-Büros war. Sofort war ihr klar, irgendetwas musste vorgefallen sein. Sie hatte absichtlich kein Fernsehen geschaut oder Radio gehört. Was die Nachricht bedeuten mochte, wusste sie nicht, aber sie vermutete, irgendwie steckte Paul Zanek dahinter. Sie nahm sich Zeit beim Duschen und trocknete sich gemächlich die Haare. Dann zog sie legere weiße Hosen und einen babyblauen Pullover an, bevor sie zurückrief. Zanek, das FBI und der Rest der verdammten Welt konnten ruhig eine Stunde warten. Sie hatte noch mehrere Tage Urlaub, wieso also ließ man sie verflucht noch mal nicht einfach in Ruhe? Außer es war nicht Paul Zanek, sondern Alan Rychman, der versucht hatte, sie zu erreichen, um ihr zu sagen, dass er in einem Flieger saß und zu ihr unterwegs war. Konnte das sein?

Zwischen Freude und Ärger hin- und hergerissen wählte sie endlich die Nummer und landete in der Warteschleife. Sie fluchte und hätte fast aufgelegt, als sie eine Reihe von Klicks hörte. Man stellte sie zum Hauptgebäude des FBI auf Oahu in Honolulu durch und eine grummelige Stimme durchbrach die lange Stille und stellte sich als Chief Inspector James Kenneth Parry vor.

Chief, dachte sie, und war beeindruckt, dass sie der Leiter des Büros persönlich angerufen hatte. »Also, was kann ich für Sie tun, Inspector Parry? Sie haben ja mich angerufen, wenn Sie sich erinnern.«

»Wir wurden vor einiger Zeit informiert, dass Sie hier bei uns auf den Inseln sind, und als Sie nicht reagiert hatten …«

»Ich habe die Nachricht erst heute erhalten.«

»Wie auch immer, wir hatten schon nicht mehr mit Ihnen gerechnet.«

»Gut, dann lege ich jetzt auf und widme mich wieder meinem friedlichen und dringend nötigen Urlaub, wenn Sie nichts dagegen haben, Inspector?«

»Gestern wurden auf Honolulu zwei Cops ermordet«, sagte er mit Nachdruck.

Sie holte tief Luft. »Gab es einen Grund dafür oder war das ein Zufall?«

»Es schien auf den ersten Blick wahllos, aber es gibt Anhaltspunkte, die etwas anderes nahelegen.«

»Ach?«

»Zwei Officer, die ein verdächtiges Fahrzeug verfolgten, hatten sich über Funk gemeldet. Beide Officer wurden vor ihren Fahrzeugen erschossen und Reifenspuren wiesen auf einen dritten Wagen hin. Auf jeden Fall ist unser erfahrenster Forensiker wegen eines dreifachen Bypasses im Krankenhaus, und als wir die Akten durchgingen und in Washington um Hilfe baten, na ja, da gaben die uns Ihren Namen. Die sagten, Sie wären in der Nähe.«

»Haben Sie nicht eben gesagt, Sie hätten seit Tagen Nachrichten für mich hinterlassen. Was denn nun, Inspector?« Zanek, dachte sie, wütend darüber, dass er Parry gesagt hatte, wo sie war.

»Sorry«, sagte er. »Ich hab mich nicht deutlich ausgedrückt. Ich habe schon seit geraumer Zeit versucht, Ihre Unterstützung zu bekommen, Dr. Coran.«

»Egal«, sagte sie und atmete tief durch. »Sehen Sie, es wird einige Zeit brauchen, bis ich dort sein kann. Zwei Stunden Fahrt bis zum Flughafen auf der anderen Seite der Insel und Gott weiß, wann die Flüge gehen, aber mit meiner Dienstmarke komme ich vermutlich in einen Flieger nach Oahu. Schicken Sie jemanden zum Flughafen, der mich abholt?«

»Das kriegen wir besser hin. Wir können Ihnen ein Flugzeug zum Kahului-Airport schicken, das dort auf Sie wartet.«

»Nein, hören Sie. Ich hab sowieso einen Rückflug nach Honolulu gebucht und kann den genauso gut dafür verwenden. Das wird auch nicht viel länger dauern und so sparen wir den Steuerzahlern ein bisschen Kerosin.«

»Wenn Sie wollen. Auf jeden Fall wird Sie jemand in Honolulu am Flughafen treffen, und danke, Dr. Coran.«

»In der Zwischenzeit fasst niemand die Leichen an. Verstanden?«

»Sie sind im Leichenschauhaus unter Bewachung.«

»Dann sehen wir uns, wenn ich ankomme.«

»Es tut mir leid, dass ich Sie in Ihrem Urlaub störe, Dr. Coran, aber wir haben niemand anderes, an den wir uns wenden können.«

»In ganz Oahu und Honolulu? Was ist mit der Navy?«

»Niemand, der Ihre Spezialkenntnisse hat, Doktor, nein.«

»Was ist mit der Bundespolizei? Die müssen doch einen guten Forensiker haben.«

»Wir versuchen, das um jeden Preis im eigenen Haus zu halten.«

»Verstehe.«

Sie fand ihn ein wenig geheimnistuerisch, bis er sagte: »Und Polizistenmörder hasse ich wie die Pest.«

»Geht mir auch so. Dann sehen wir uns vermutlich irgendwann im Morgengrauen.«

Sie wollte gerade auflegen, als er noch hinzufügte: »Wir haben noch ein Problem, das die Stadt und die Insel heimsucht, falls Sie vielleicht davon gehört haben?«

»Nein, ich habe nichts gehört. Ich habe versucht, ein wenig abzuschalten: Kein Fernsehen, kein Radio, keine Zeitung … ich war meistens nur tauchen und shoppen und habe mich entspannt.«

»Na ja, Doktor, es gab einige Entführungen. Niemand ist wieder aufgetaucht.«

»Entführungen? Was für Entführungen? Meinen Sie Kinder?«

»Könnte man sagen … einige waren zumindest noch halbe Kinder.«

»Mädchen?«

»Die örtliche Presse nennt ihn den Passat-Entführer. Auch wenn niemand glaubt, dass er sie irgendwo sammelt, einige sind jedenfalls der Ansicht, dass er eigentlich der Passat-Killer ist.«

»Unmöglich, so etwas geheimzuhalten, auch wenn es um die Ermittlungen geht, ich weiß.«

»Das ist schon früher passiert, auf die gleiche Art. Das Komische ist, dass wir keine einzige Leiche gefunden haben.«

»Dann wissen Sie nicht sicher, ob sie wirklich tot sind, und selbst wenn Sie den Kerl schnappen, brauchen Sie ein paar verdammt gute Indizien, damit man ihn ohne Leiche verurteilen kann.« Er schwieg einen Moment und ihr wurde klar, dass sie ihm gerade genau das erzählt hatte, was er schon wusste.

»Ich glaube, man kann wohl davon ausgehen, dass die Vermissten in dem Fall auch tot sind, Doktor. Auf jeden Fall ist der Mann sehr gründlich. Lässt keine Spuren von sich oder seinen Opfern zurück, überhaupt keine … bis vor kurzem.«

»Dann haben Sie etwas, womit man arbeiten kann, gut.«

»Wir denken, dass der Tod von Hilani und Kaniola damit zu tun haben könnte.«

»Ihre beiden Cops? Wieso glauben Sie das?«

»Das sage ich lieber nicht auf einer unverschlüsselten Leitung.«

»Okay, verstanden. Also was soll das heißen, dass er bisher keine Spuren hinterlassen hat? Haben Sie irgendwelche Hinweise?«

»Wie gesagt, will ich das lieber nicht über eine ungesicherte Leitung besprechen, Dr. Coran.«

Ein wenig paranoid, dachte sie. »Dann bis bald, Inspector Parry.«

Die Überfahrten von einer Insel zur nächsten zogen sich endlos hin, und Gepäck durch die Gegend zu schleifen und stundenlang zu reisen, statt die kostbaren Urlaubstage zu genießen, war nicht gerade ihre Vorstellung von Spaß, aber andererseits war sie ja nicht mehr im Urlaub. Zum Glück liebte sie das Fliegen und die alten Vögel von Aloha Airlines, wie die 737, in der Jessica nun saß, ratterten und hüpften durch die Aufwinde, dass man wusste – und zwar die ganze Zeit –, man war in der Luft. Parrys Jet war vermutlich ein Lear-Jet, und auch wenn sie die nicht schlecht fand, bevorzugte sie doch etwas, das eher der holprigen Fahrt auf einem Heuwagen entsprach, als sich zu fühlen wie eine Sardine in einem Greyhound-Bus am Himmel.

Das Flugzeug flog niedrig aus Richtung Osten auf Oahu zu, derselbe Kurs, den ihrer Vorstellung nach die japanischen Bomber genommen hatten, die die Schofield Barracks und Pearl Harbor bombardiert hatten. Lange bevor sie den Flickenteppich Pearl Harbor mit seinen Reihen von Kriegsschiffen weit unter sich sah, erblickte sie die riesige und weit ausgedehnte Metropole Honolulu, die Reihen protziger Hotels an den Stränden. Sie bemerkte winzige Surfbretter, Jachten und Segelboote vor der Küstenlinie von Waikiki. Diamond Head sah aus diesem steilen Winkel nicht anders aus als irgendein anderer Bergkrater. Es gab riesige Gebirgszüge auf beiden Seiten der Insel, dazwischen ein üppiges, tropisches Tal, und die Küstenlinie war – wie auf Maui – der teuerste Landstrich, auf dem sich alle Investments von außerhalb versammelt hatten.

Zwei Millionen Jahre bevor Oahu zur Perle des Pazifiks und Tummelplatz der Millionäre der Welt geworden war, bestand es aus zwei getrennten Inseln, mit dem Kooalu-Vulkan im Osten und dem Waianae-Vulkan im Westen. Jetzt waren diese beiden einst sehr aktiven Vulkane zwei stille Berggipfel, die nur die Mitarbeiter der US-Forstbehörde, eine Handvoll Wanderer, ein paar Soldaten und Angehörige der Luftwaffe bei Manövern zu Gesicht bekamen, und vielleicht der Passat-Killer.

Wie all die hawaiianischen Inseln war Oahu vor über tausend Jahren von den Marquesanern besiedelt worden, die den Pazifik in großen Ausleger-Kanus mit Strohdächern befuhren. Es folgten tahitische Immigranten, und als sie sich mit den Marquesanern vermischten, entstand eine eigene hawaiianische Kultur mit eigener Sprache, eigenen Traditionen und Ritualen.

Wie in allen Kulturen gab es finstere Götter, die einen Großteil des dörflichen Lebens und Sterbens kontrollierten. Es gab ein kompliziertes System von kapus oder Tabus, mit aufwendig gefertigten kahillis – aus Bambusstangen mit kreisförmig angeordneten Federn an der Spitze, die zu besonderen Gelegenheiten herumgetragen wurden – und kunstvoll gefertigte leis, deren Aussehen strikte Abgrenzung in der Gesellschaft symbolisierten, genau wie der elegante, mit Federn geschmückte Kopfschmuck der Aliʼi oder des Adels, die Monarchien jeder Insel symbolisierte. Ständig gab es kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Insulanern, Scharmützel und Menschenopfer, während die verschiedenen Häuptlinge versuchten, ihre Macht auszudehnen.

Seitdem sie auf den Inseln angekommen war, hatte Jessica eine Menge über die reichhaltige Geschichte gelernt, die stets als abwechslungsreich und außerordentlich bezeichnet wurde, ob vom Busfahrer, Portier, dem Kellner oder Fremdenführern. Sie hatte erfahren, dass im 18. Jahrhundert König Kamehameha, ein Häuptling der großen Insel Hawaii, einen ehrgeizigen Kriegszug gestartet hatte, um all die Inseln zu erobern. Er nahm Oahu 1795 ein, in einer der letzten und blutigsten Schlachten. Der Häuptling hatte lange Zeit einen schwunghaften Feuerwaffenhandel mit den westlichen Schiffen betrieben, die in Hawaii anlegten. Schießpulver und Steinschlossgewehre waren die neue schwarze Magie des Königs gewesen.

Als die Inseln unter einer Knute vereint waren, witterten die Händler reiche Erträge in Honolulu Bay, dem größten Tiefwasserhafen der Inselgruppe. Schiffe kamen von überall auf der Welt, besonders aus Europa und Amerika, und 1820 landeten Missionare aus Neuengland, begierig, die Eingeborenen zu zivilisieren und zum Christentum zu bekehren. Bald danach folgten die großen Walfangschiffe, gefüllt mit raubeinigen, streitlustigen Seeleuten. 1840 verfügte König Kamehameha III., dass Honolulu auf Oahu – der Versammlungsplatz – die dauerhafte Residenz des bis dahin nomadischen Königshofes sein sollte.

Es dauerte nicht lange, bis die adligen Damen von Hawaii Reifröcke trugen und die Männer Schulterstücke. Paläste und Sommerwohnsitze, in der Größe eines Herrenhauses in Georgia wurden in der feuchten Hauptstadt der Insel errichtet. Auf den Rasen spielten dieselben Hawaiianer Cricket und veranstalteten Abendkonzerte.

Wie immer bei einer solchen Vergangenheit hatte die Zeit alles bis auf ein paar wenige Überreste dieses Lebens ausgelöscht, sodass der Reichtum von Honolulu heute auf ganz andere Weise zur Schau gestellt wurde. Es sah für die meisten eher wie Miami in Florida aus, wenn man die grandiose Kulisse der vulkanischen Bergketten ignorierte, die es einrahmten. Das Flugzeug drehte bei und flog Richtung Osten, es hatte eine Kurve von 180 Grad beschrieben. Sie befanden sich im Landeanflug.

Jessicas Knöchel pochten, als das Flugzeug so schnell an Höhe verlor. Das Gefühl erinnerte sie an die Narben, die sie dort trug, da beide Achillessehnen von einem irren Killer durchtrennt worden waren, den sie hier hatte vergessen wollen. Ein Jahr lang hatte sie nun schon einen Stock benutzen müssen, aber dank der bemerkenswerten rekonstruktiven Chirurgie musste sie sich immer weniger auf das verdammte Ding stützen. Sie glaubte sogar insgeheim, dass es langsam an der Zeit war, den Stock loszuwerden.

Trotzdem hatte sie ihn als eine Art Krücke auf ihre Reise mitgenommen, weil sie damit gerechnet hatte, dass die alten Wunden noch schmerzen würden. Außerdem hing sie irgendwie an dem Stock, denn sie wusste, dass er ihr die Männer ein wenig vom Hals hielt, ein Vorteil, wenn man es mit einer neuen unbekannten Situation zu tun hatte, wie heute. Der Stock verlieh ihr ein etwas doktorhafteres Aussehen und sie fühlte sich ein wenig mehr so, wie andere Menschen sie sahen, wenn sie von ihren Leistungen bei früheren Fällen von Serienkillern erfuhren. Viele erwarteten so eine Art Medium, was sie sicher nicht war. Eigentlich brauchte sie keine Krücke, versicherte sie sich, aber ansonsten sahen die Menschen nur das Oberflächliche: Eine große, schlanke Frau mit wallenden kastanienbraunen Haaren und einer Figur wie eine Sanduhr statt eine ausgezeichnete Gerichtsmedizinerin, deren Ermittlungserfolge beim FBI bereits in den Lehrbüchern der Akademie aufgeführt waren. Außerdem wirkte der Stock fast schon tröstlich für sie, wie ein alter Freund. Er hatte einen eigenen Charakter entwickelt und war ein Geschenk von den Menschen gewesen, die sie am meisten schätzte und die alle im Labor in Quantico arbeiteten.

Das Flugzeug landete mit mehreren Hüpfern, die es durchschüttelten. Ein ständiger Wind wehte hier über der Rollbahn, aber sie waren kurz darauf mit einiger Geschwindigkeit auf dem Weg zum Terminal. Jessica wartete, bis all die anderen Passagiere ausgestiegen waren, bevor sie aufstand und sich auf den Weg in Richtung Ausgang machte.

Sie fragte sich, was wohl König Kamehameha von Reisen durch die Luft gehalten hätte. Gerade als sie mit ihrem Handgepäck und dem Stock, der auf den Boden klopfte, an der Kabinentür angekommen war, trat der Pilot aus dem Cockpit und lächelte sie freundlich an.

»Entschuldigen Sie die harte Landung.«

»Reden Sie keinen Unsinn«, erwiderte sie. »Ich habe jede Sekunde davon genossen.«

Der Pilot sah ihr leicht verdutzt hinterher, als sie mit ihrem Stock die Gangway hinab verschwand.

MACHETE - Der Passat-Killer von Hawaii

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