Читать книгу MACHETE - Der Passat-Killer von Hawaii - Robert W. Walker - Страница 7

Kapitel 3

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… denn nimmer ist Weibern zu trauen.

Homer, Die Odyssee

Der Flughafen von Honolulu war riesig und es herrschte Hochbetrieb. Reisende aus allen Teilen der Welt machten Hawaiis Ruf als Umschlagplatz des Pazifik alle Ehre. Abgesehen von den leis, die den Touristen vom Festland um den Hals gelegt wurden, und den vielen »alohas«, die sie um sich herum hörte, hätte man auch im OʼHare-Flughafen in Chicago sein können, aber ein kurzer Blick durch die Fenster auf die sich auftürmenden, stufenförmigen grünen Berge erinnerte sie an das Inselparadies vor den Türen des Flughafens. Ein großer Korridor des Terminals, durch den sie ging, verlief an der frischen Luft, sodass man nach draußen ging, um zur Gepäckhalle zu kommen. Aus diesem Grund war es ein sehr angenehmer Flughafen. Sie kam unterwegs an einem McDonaldʼs vorbei und überlegte, ob sie Zeit für einen schnellen Happen hatte, als sie eine männliche Stimme ihren Namen rufen hörte: »Dr. Coran! Dr. Jessica Coran?«

Sie drehte sich um und rechnete damit, den Leiter des FBI-Büros, Jim Parry, in Anzug und Krawatte dastehen zu sehen. Stattdessen trug der Mann, der ihren Namen gerufen hatte, ein buntes Hawaiihemd. Sein Gesicht war tiefbraun, die Gesichtszüge des Hawaiianers mit Sorgenfalten durchzogen, die für diesen Volksstamm eher uncharakteristisch waren, nach dem, was sie auf Maui gesehen hatte.

»Mein Name ist Joseph Kaniola. Mein Sohn wurde zusammen mit Officer Hilani ermordet.«

»Woher wussten Sie, dass ich …?«

»Ich bin Journalist. Es ist mein Job, so etwas zu wissen. Ich will nur wissen, ob Sie den Bastard kriegen werden, der meinen Jungen, Alan, getötet und meinen Enkelkindern den Vater genommen hat?«

»Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun«, sagte sie und umklammerte ihren Stock fester.

»Was ich so gehört habe, ist das einiges. Das ist alles, worum ich bitte.«

»Kaniola!«, rief ein zweiter Mann, der den trauernden Vater kannte. »Ich hab doch gesagt, lassen Sie uns unseren Job machen.« Der förmlicher aussehende Mann mit Anzug und Krawatte hielt Jessica die Hand hin und schüttelte ihre herzlich. »Ich bin Parry.«

»Schön, Sie zu treffen, Inspector.«

»Parry«, unterbrach Kaniola, »versprechen Sie mir, dass Sie nicht zulassen, dass die Cops in Honolulu die Sache unter den Teppich kehren!«

»Keine Chance, Mr. Kaniola. Aber geben Sie uns bitte die Zeit und den Freiraum, den wir brauchen, um uns an die Arbeit zu machen.«

»Mein Junge war da an etwas dran auf dem Koko Head. Er war ein schlauer Junge und er hatte nichts mit Drogen zu tun, wie es einige behauptet haben.«

»Wir kennen Ihre Meinung dazu, Mr. Kaniola … und jetzt, bitte …« Parry gab zwei Männern einen Wink, indem er in ihre Richtung sah, und sie intervenierten und geleiteten Kaniola davon. Der Protest des älteren Hawaiianers stieß auf taube Ohren und nur ein paar neugierige Passanten sahen ihn an.

»Ich bin – verdammt noch mal – nicht als Journalist hier! Ich bin als Vater hier!«

»Er hatte sicher noch keine Zeit, den Schock zu verarbeiten«, sagte Jessica zu Parry.

»Ich würde ihm ja noch länger die Hand halten, aber wer hat schon die Zeit dafür? Außerdem müssen wir unter vier Augen miteinander reden.«

Sie sah sich um. »Woran hatten Sie da gedacht?«

Er nahm sie mit in einen Bereich, der als privat gekennzeichnet war und wo ein paar Stewardessen herumstanden, Kaffee tranken und miteinander plauderten. Nachdem er ihnen seine Dienstmarke gezeigt hatte, bat er sie, ihnen kurz den Raum zu überlassen. Sie gehorchten mit ein paar verstohlenen Blicken und etwas Gemurmel. »Wir haben hier ein paar politische Probleme, wie in jeder größeren Stadt. Ich will nur, dass Sie wissen, unter welchem Druck wir von den kanakas stehen und weiter stehen werden.«

»Kanakas? Sie meinen die Hawaiianer?«

»Sie protestieren mittlerweile lautstark gegen den doppelten Standard, der ihrer Meinung nach herrscht …«

»Ihrer Meinung nach?«

»… wonach die Cops hier arbeiten, einer für Weiße und ein anderer für jede andere Rasse oder Gemischtrassige. Und jetzt, wo zwei hawaiianische Cops kaltblütig erschossen wurden … na ja, hier bricht bald die Hölle los und die Zeitung von Kaniola steckt mittendrin. Wie immer.«

»Der Bezirk und der Staat haben dasselbe öffentliche Image wie das Police Department von Honolulu?«

»In gewissem Umfang, leider ja.«

Sie musterte Inspector James Parry, einen großen Mann mit sandfarbenen, blonden Haaren, der es irgendwie geschafft hatte, in dieser sonnendurchfluteten Welt relativ hellhäutig zu bleiben. Sie vermutete, dass er erst seit kurzem der Chief des FBI hier war, denn er übernahm anscheinend immer noch einige Aufgaben selbst, wie sie vom Flughafen abzuholen. Er war auf nordische Art gutaussehend, glattrasiert, und nur die lockere Krawatte wirkte etwas nachlässig. Das charismatische Lächeln, das sich nur kurz zeigte, hätte sicher charmant gewirkt, wäre es von längerer Dauer gewesen und die Umstände anders.

Nachdem er ein paar Fotos aus der Tasche gezogen hatte, breitete er sie auf einem Tisch aus. Es waren Bilder junger Insulanerinnen. Alle lächelten breit in die Kamera, alle wirkten lebhaft und blinzelten wegen der hellen Sonne oder dem Blitzlicht. Alle hatten dunkle Haare, hübsche Gesichter, strahlend weiße Zähne, gebräunte glatte Haut. Eine sah so gesund und sorglos wie die andere aus. Jede hätte als Model für die Kataloge von Enoa oder irgendeiner anderen der dutzenden von hawaiianischen Reisegesellschaften arbeiten können. Es waren insgesamt neun Fotos.

»Sieben verschwanden letztes Jahr spurlos und dann hörte es einfach auf. Keine von ihnen wurde bis heute irgendwo gefunden.«

»Also gab es zwei in diesem Jahr?«

»Ja, das stimmt leider. Es fiel mit der Rückkehr des Passatwindes zusammen.«

»Aber Sie haben eine der Leichen gefunden, oder?«

»Na ja, nicht so ganz, nein.«

»Was meinen Sie mit nicht so ganz

»Wir haben ein … ein Stück, eine Gliedmaße …«

»Und«, sie holte tief Luft, »welchen Teil der Leiche haben Sie denn genau?«

»Den Großteil eines Arms.«

»Den Großteil eines Arms?«, wiederholte sie.

»Die Hand ist am Handgelenk abgetrennt.«

»Also haben Sie natürlich an mich gedacht«, sagte sie beim halbherzigen Versuch, witzig zu sein.

Er biss sich auf die Innenseite der Wange und sein Blick wanderte nach unten auf ihren Stock. »Ich versuche schon seit langem, D.C. davon zu überzeugen, jemanden wie Sie hier herzuschicken, aber da wir bisher kein physisches Beweisstück hatten, na ja, haben Ihre Vorgesetzten widerstrebend abgelehnt.«

Sie kratzte sich an der Schläfe, schnappte sich ihren Stock und stand auf, um hin- und herzugehen.

»Das hilft mir beim Nachdenken. Wo wurde der Arm gefunden?«

»Beim Blow Hole.«

»Wie bitte?«

»Das ist eine beliebte Touristenattraktion, die seit dem Fund vorübergehend abgesperrt ist.«

»Blow Hole?«, wiederholte sie.

Er erklärte den Namen und wo es lag. »Und an dieser Stelle wurden auch die Leichen von Hilani und Kaniola gefunden.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Ein paar Jugendliche, die da hochgefahren waren, um ein wenig im Auto rumzumachen. Das war in derselben Nacht. Sie berichteten, sie hätten einen Wagen in die entgegengesetzte Richtung davonjagen sehen, in Richtung Stadt. Auf das Nummernschild haben sie nicht geachtet und nichts gesehen, was den Wagen irgendwie hätte herausstechen lassen. Sie sahen die beiden uniformierten Männer im Licht der Scheinwerfer von Kaniolas Streifenwagen.«

»Beide vor Ort gestorben?«

»Ja.«

»Und der Arm? Haben den auch die Jugendlichen gefunden?«

»Nein, den fand man später.«

»Verstehe. Sie haben ihn gefunden … während Sie das Gebiet abgesucht haben?«

Er zögerte. »Wir sind ausgeschwärmt. Es gab keine Spuren, abgesehen von den Reifenspuren, die wir fotografiert hatten. Meine Männer durchkämmten die Gegend. Ich bin den Pfad zum Blow Hole hinabgegangen. Ich glaubte, der Kerl würde uns keine einzige Spur hinterlassen, gar nichts.«

»Und dann haben Sie ihn gesehen?«

»Nein, er war nicht auf den Felsen. Ich schaute genau an dieser Stelle nach unten, sah nichts als den Geysir und ging dann wieder nach oben. Ich überlegte, ob der Killer wohl hier seine Leichen entsorgte, aber ich konnte es an nichts festmachen.«

»Wer hat dann den Arm entdeckt?«

»Bis dahin war es beinahe acht Uhr, also räumten wir den Bereich und ließen den ersten Touristenbus auf den Parkplatz fahren.«

»Ich verstehe.«

»Touristen – sind das größte Geschäft hier auf der Insel, wissen Sie, und, na ja, als sie zum Blow Hole gingen, um zu sehen, wie es Wasser speit … nun, Sie können sich den Rest ausmalen.«

»Das Teil kam aus dem Blow Hole geschossen?«

»So in etwa. Es landete auf den Felsen daneben. Wir mussten eine Sicherheitsleine anbringen und einen Kletterer holen, der den rutschigen Hang hinabkletterte.«

»Also könnte der Rest der Leiche und vermutlich auch all die anderen, in dieser Unterwasserhöhle beim Blow Hole begraben sein?«

»Vermutlich mittlerweile zu einer Art Gelee pulverisiert, aber wir hatten wenigstens einmal Glück.«

Sie zeigte auf die Fotos. »Also welches von den Mädchen ist das letzte, das verschwunden ist?«

»So sollte das nicht ablaufen; Sie sollten mir sagen, wer es ist, erinnern Sie sich? Ich gebe Ihnen Akten über jede der Frauen und Sie ordnen den Arm zu, wenn möglich. Ich will Ihre Entscheidung nicht beeinflussen. Das sähe vor Gericht nicht gut aus und wir werden diesen Bastard vor Gericht stellen – egal, welche Nationalität oder Hautfarbe er hat.«

»Meinen Sie, dass die Verbrechen irgendwie mit dem sozialen Klima hier zu tun haben? Dass unser Killer Hassverbrechen begeht?«

»Woher soll ich das wissen? Mit dem sozialen Klima vielleicht. Mit dem Klima auf jeden Fall. Zwischen April und August letztes Jahr, als die Passatwinde kamen. Was die Hassverbrechen angeht … das hab ich noch nie so wirklich verstanden, Doktor. Geschehen nicht alle Verbrechen aus Hass?«

»Ich nehme an, Sie haben recht, aber ich meinte rassistisch motiviert im Gegensatz zu sexuell motiviert oder aus einem allgemeinen Hass gegen Frauen.«

»Das wissen wir nicht«, sagte er einfach und sah ihr in die Augen. »Im Moment haben wir nur den Arm, zwei tote hawaiianische Cops und neun verschwundene hawaiianische Mädchen, manche gemischtrassig, einige japanisch. Und wir haben eine Insel voller Menschen unter Hochspannung, die Gerüchteküche brodelt jeden Tag und die Zeitungen tun ihr Übriges.«

»Sie wollen also, dass die Untersuchungen strikt unter Verschluss bleiben. Ich verstehe, Inspector.«

»Ich bin seit acht Jahren hier, zwei davon als Leiter des Büros. Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Doktor. Ich verstehe weder die Polynesier noch die Asiaten auch nur ansatzweise, abgesehen davon, dass sie eine kalte, sachliche Justiz respektieren und verstehen. Auge um Auge sozusagen. Nun, neun ihrer Frauen sind verschwunden, und jetzt sind auch noch zwei ihrer Jungs tot. Sie wollen Gerechtigkeit und sie sehen die Navy in Pearl und sie sehen die großkotzigen Reichen auf dem Diamond Head, die ein Vermögen damit gemacht haben, ihnen das Land abzuschwatzen, und sie wenden sich an uns weiße Cops, um Gründe zu erfahren, und bald werden sie sich auch an uns wenden für Wiedergutmachung.«

»Können Sie jemanden mein Gepäck in den Rainbow Tower bringen lassen?«

»Sicher.«

»Dann kann ich mit Ihnen kommen und mir die Leichen und den Arm des Mädchens ansehen. Wie stehen unterdessen die Chancen, ein paar Taucher ins Wasser zu kriegen, die das Gebiet um das Blow Hole nach weiteren Leichenteilen absuchen können?«

Sein Lachen war nicht unfreundlich, das Lachen eines Insulaners, der verzweifelt versucht, die Logik eines malahini, eines Neuankömmlings, zu verstehen.

»Jeder Versuch, sich in die Nähe des Blow Hole zu begeben, könnte einen Taucher binnen Sekunden pulverisieren. Es ist ein gewaltiger Strudel, die Geschwindigkeit des Wassers beträgt mehr als 100 Meilen pro Stunde, und er beruhigt sich nie. Es gibt keine Möglichkeit, ein vulkanisches Loch in der See auszubaggern. Es war reines Glück, dass wir dieses eine Geschenk erhalten haben, bevor es wieder hineingespült worden wäre.«

»Die Chancen stehen also schlecht, dass dieses Loch irgendwelche weiteren Beweise ausspuckt?«

»Daran kann man ernsthaft zweifeln. Wir lassen es allerdings weiter abgesperrt und einer meiner Männer hält genau danach Ausschau.«

»Und der wartet auch auf eine mögliche Rückkehr des Killers?«

»Ich habe ein paar Teams darauf angesetzt, ja, aber da er die beiden toten Cops dort zurückgelassen hat, ist die Hoffnung gering, dass er dorthin zurückkehrt.«

»Dann bringen Sie mich bitte ins Leichenschauhaus. Ich sehe mal, was ich tun kann, um ein wenig Licht in die Sache zu bringen.«

»Mehr verlangen wir auch gar nicht.«

Auf dem Weg zum Leichenschauhaus versuchte sie Parry einzuschätzen. Er war so groß wie sie, hatte markante Gesichtszüge und durchdringende Augen. Sein Gesichtsausdruck verriet jedoch nur wenig, zweifellos eine Folge des jahrelangen Umgangs mit der Presse und der Öffentlichkeit bei Fällen, die Fingerspitzengefühl verlangen. Und da gab es vermutlich keine Steigerung zu diesem, dem schwierigsten Fall überhaupt: Ein Serienkiller, über den die Polizei so gut wie nichts wusste.

Später am selben Tag

Thom Hilani war von hinten durch den Kopf erschossen worden, die Kugel war an der Schädelbasis eingetreten, was man an dem sauberen, kleinen runden Loch erkennen konnte, und hatte am Austrittspunkt den Schädel explosionsartig verlassen, was ein etwa zehn Zentimeter großes Loch zwischen die Augen gerissen hatte. Das Zentrum der auswärts gerichteten Explosion hatte das weiche Gewebe des Frontallappens und die Augen in Mus verwandelt. Er war sofort beim Einschlag der Kugel gestorben, die große Abschürfung auf seiner Stirn und seinem Schädel war ein offensichtliches Zeichen, dass er wie ein gefällter Baum auf den Teer geknallt war, auf dem Vorsprung, der über die Hanauma Bay ragte. Zumindest hatte er nicht gelitten.

Jessicas geübte Augen verrieten ihr, dass der Killer etwas vom Schießen und von Munition verstand und dass er absichtlich etwas verwendet hatte, was man auf den Straßen Cop-Killer-Patrone nannte, die er aus einer Art Western-Revolver mit Kaliber .44 oder .45 verschossen hatte.

Eine gründliche Autopsie förderte sonst absolut nichts zutage, abgesehen davon, was Officer Hilani an diesem Abend in seiner Nachtschicht gegessen hatte.

Bei Kaniola war es anders. Er war angeschossen worden, aber nicht tödlich verwundet, und eine versteckte Einweg-Kanone war immer noch in ihrem Holster, das um seinen Fußknöchel geschnallt war. Parry hatte ihr versprochen, dass absolut nichts an den Leichen der beiden Männer verändert worden war, und vielleicht konnte man ihn beim Wort nehmen. Es war jedoch ungewöhnlich, dass andere Cops, Freunde, es nicht für nötig gehalten hatten, die illegale Notfallwaffe zu entfernen, die Cops in Situationen verwendeten, wo es nötig war, schnell eine Waffe neben einen Angreifer zu legen, um den Gebrauch tödlicher Gewalt zu rechtfertigen. Die zweite Waffe wurde auch als Back-up auf der Straße gesehen, wenn ein Cop die Kontrolle über seinen Dienstrevolver verlieren sollte.

Aufgrund des Wegs der Kugel, der durch Kaniolas rechte Schulter verlief und die in der Nähe des rechten Schulterblattes wieder ausgetreten war, hätte er Schwierigkeiten, die zweite Schusswaffe zu ziehen. Und wenn er sie erreicht hatte, dann war es ihm vielleicht nicht möglich, den nötigen Druck auszuüben, um sie abzufeuern.

Die tödliche Wunde, die Kaniola zugefügt worden war, war das Ergebnis einer riesigen Klinge, die ein ganzes Stück der Kehle herausgeschnitten, die Halsvene durchtrennt und beinahe den Kopf abgetrennt hatte. Ohne Instrumente schätzte Jessica, dass die Klinge zwischen fünf und sechs Zentimeter breit gewesen war, weswegen die Waffe eine Art Schwert oder Machete gewesen sein musste. In ihrem weißen Laborkittel, die Haare streng zurückgebunden, sah sie aus wie ein typischer Wissenschaftler. Sie drückte den Schalter des Aufnahmegeräts über ihrem Kopf und verkündete Zeit und Datum der Autopsie, den Namen des Verstorbenen und seine Identifikationsnummer im Leichenschauhaus, gefolgt von ihrem eigenen Namen, bevor sie mit der Autopsie von Joe Kaniolas Sohn anfing.

Immer wieder sah sie kurz Kaniolas Vater vor ihrem geistigen Auge, während sie arbeitete: Das ledrige Gesicht des Mannes, die Falten seiner Haut, die wie altes Pergament aussahen, die Krähenfüße wie gespachtelte Fugen auf einem alten Schiff. Sie vermutete, dass er Ende fünfzig war. Wahrscheinlich hatte er sein gesamtes Leben hart gearbeitet, damit es seine Kinder einmal besser hatten, und nun war eines davon zum Gegenstand ihres finsteren Handwerks geworden. Trotz allem, was Parry zu ihr oder dem alten Mr. Kaniola gesagt hatte, ging sie ziemlich sicher davon aus, dass sie den toughen Journalisten wiedersehen würde.

Sie fuhr fort, die beiden großen Wunden an Kaniolas Körper zu untersuchen. Nicht nur mussten sie genau in Augenschein genommen, sondern auch präzise vermessen und die Ergebnisse auf Band gesprochen werden, für alle, die nach ihr kamen oder sie bei dieser beschwerlichen Aufgabe ablösten. Wie lange hatte der Angreifer wohl über dem uniformierten Polizisten gestanden und sich an seiner Hilflosigkeit erfreut, bevor er das Pendel des Todes über seine Kehle rasen ließ? Hatte der Killer sich besonders daran erfreut, den Mann dann im Schock verkrampfen und verbluten zu sehen? Oder nahm er sich für derlei Vergnügen nur die Zeit bei den Frauen, die, wie Parry vermutete, seine bevorzugten Opfer waren?

Sie musste noch die Untersuchung der inneren Organe von Kaniola durchführen, ein großer, bärenstarker und stolz wirkender Mann, größer als sein Vater. Aber zuerst warf sie einen Blick auf die Hände, so wie sie es bei Hilani getan hatte, um zu sehen, ob vielleicht Hautfetzen oder Haare unter den Nägeln waren, was darauf hinwies, dass er mit seinem Killer gerungen, nach oben gegriffen und an ihm gezerrt hatte. Kaniolas linke Hand war mit dunklem Blut verschmiert, sein eigenes, wie sie annahm.

Sie sprach diese Entdeckung laut für das empfindliche Mikrofon über ihr aus, während sie arbeitete.

»Linke Hand blutverschmiert. Blut ist vermutlich das von Officer Kaniola, da er wahrscheinlich instinktiv nach seiner verwundeten Schulter greifen würde.«

Während sie diese Worte sagte, hörte sie die Stimme ihres Vaters in ihrem Hinterkopf: »Vermuten heißt nicht wissen.« Ihr Vater war der beste Gerichtsmediziner gewesen, der je eine Uniform getragen hatte, und er hatte sie immer wieder gewarnt, dass die hart erarbeitete Karriere von so manchem Pathologen aufgrund von voreiligen Schlüssen den Bach runtergegangen war. Vermutungen waren etwas für die Öffentlichkeit und Detektive, die nicht weiterwussten. Angenommen, das Blut auf Kaniolas linker Hand stammte von Kaniolas Killer. Angenommen, er war ebenfalls bei der Schießerei verletzt worden. Eine gewagte Vermutung, aber sie konnte nur mit einem Mikroskop beweisen, dass allein Kaniolas Blut auf seiner Hand war. Bisher hatte dieser Killer – wenn es Parrys Passat-Killer war – nicht mal ein Fitzelchen an Beweisen hinterlassen, um sich selbst zu belasten. Sie konnte Parry ziemlich beeindrucken, wenn Kaniola tatsächlich eine Hand auf das Monster gelegt hatte, das ihn ermordet hatte.

Sehr wahrscheinlich jedoch war es das eigene Blut des Officers, das seine Hände bedeckte. Trotzdem ergänzte Jessica schnell ihre Bemerkungen für die Aufzeichnungen, indem sie hinzufügte: »Sollte der Angreifer verletzt worden sein, dann könnte das Blut auf Officer Kaniolas Hand auch vom Angreifer stammen.«

Sie nahm Proben des Blutes und der Abschürfungen unter den Fingernägeln, um sie unter dem Mikroskop zu untersuchen, in der Hoffnung, dass das nicht umsonst war. In ihrer Erschöpfung kam ihr wieder einmal eine Bemerkung ihres Vaters in den Sinn: »Gründlichkeit ist ihr eigener Lohn.«

Sie streckte die langen Beine und den Rücken und gähnte über dem Seziertisch, dehnte sich, fühlte sich zu müde, um weiterzumachen. Ihr Assistent, ein Mann namens Dr. Elwood Warner, war einige Jahre jünger als sie, ein Pathologe vom Honolulu General, der für den Bundesstaat auf Abruf war. Ein zweiter Pathologe des County war etwas zu spät aufgetaucht und hatte sich entschuldigt. Er hatte Warner gebeten, für ihn dieselben Proben zu nehmen. Der Mann, ein gewisser Dr. Walter Marshal, hatte irgendwie mit dem Militär in Pearl Harbor zu tun. Das Militär hatte anscheinend gesteigertes Interesse an dem Fall der beiden toten hawaiianischen Cops – Boys hatte Marshal sie genannt. Besonders an den Blutproben war er interessiert. Offenbar war er überzeugt, die beiden Polizisten hätten was mit Drogen zu tun gehabt, und wollte das unbedingt beweisen, um weitere Beschwerden der kanakas aus der Gemeinde zu unterbinden, wonach Matrosen aus Pearl Harbor mit den Todesfällen zu tun hatten.

Offensichtlich wollten Marshal und die militärische Führungsriege aus Pearl Harbor den Hawaiianern klarmachen, die beiden Cops hätten mit einer Kobra geflirtet und diese Kobra hatte sie gebissen, was einzig und allein ihre eigene Schuld war. Es schien, weder das Militär noch die Bundespolizei oder die lokalen Gesetzeshüter wussten so viel wie Parry und er war vielleicht mit seinem Verdacht allein auf weiter Flur, dass es zwischen den toten Cops und den vermissten »Prostituierten« – so hatte man sie zumindest bezeichnet, wie Jessica mitbekommen hatte – eine Verbindung gäbe.

Der große Fund am Blow Hole hatte jedenfalls dazu geführt, dass einige Leute nun Parry ganz genau über die Schulter sahen, von ihr selbst abgesehen.

Der Chefpathologe von Honolulu City, Dr. Harold Shore, war normalerweise routinemäßig als Gerichtsmediziner beteiligt gewesen, wenn das FBI zu Fällen wie hier auf Oahu, hinzugezogen worden war, und er hatte einen tadellosen Ruf. Vor kurzem hatte er sich jedoch einer Operation am offenen Herzen unterziehen müssen und wurde nicht so bald zurückerwartet. Jessica war im Grunde der Ersatz für Shore. Wenn er sich aus dem Bett hätte erheben können, dann wäre Shore ohne Zweifel heute ebenfalls anwesend gewesen, um die Stadt und das Police Department von Honolulu zu repräsentieren. Der Mord an den beiden Cops hatte eine Menge verschiedener Behörden auf den Plan gerufen, wirkte wie ein Stich ins Hornissennest, riss mehrere alte Wunden auf und erinnerte die Menschen an reale wie eingebildete Fälle von Diskriminierung. »Wenn Sie zu müde sind, um weiterzumachen, Dr. Coran«, sagte Dr. Marshal, »dann übernehme ich gern für Sie.«

Jessica durchbohrte Marshal mit Blicken, aber unter ihrer Maske lächelte sie dünn. »Es geht mir gut, Doktor, und ich werde das hier zu Ende bringen.«

»Zwei Autopsien – an einem einzigen Tag? Das ist selbst nach Militärstandards hart, Doktor. Als Profis sind wir uns da, glaube ich, einig.«

Sie erkannte das typische Gebaren des Militärs, wenn sie es hörte. Marshal war anscheinend gern derjenige, der die Befehle gab, und er schien sich gar nicht wohl dabei zu fühlen, die zweite Geige für einen weiblichen Gerichtsmediziner zu spielen. »Ja, nun … wie dem auch sei, als Repräsentant der Regierung sollte ich besser weiter die Autopsie leiten, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Wir arbeiten beide für denselben Chef, Doktor«, erwiderte er unterkühlt. »Und da Dr. Shore nicht hier sein kann, bin ich auch als Vertreter des Honolulu Police Department hier.«

Marshal kam ihr vor wie ein Mann, der direkt aus einem Film der Dreißigerjahre mit William Powell und ZaSu Pitts entsprungen war. Seine Miene wirkte versteinert und die militärische Haltung, mit der er auftrat, machte eine Uniform überflüssig. Auch in seinem weißen Kittel wirkte er durch und durch militärisch.

»Sie sind ja offensichtlich für eine ganze Reihe an Auftraggebern hier, Dr. Marshal.«

Mit dem Skalpell in ihrer Hand arbeitete sie weiter.

Warner, der jüngste der Anwesenden, wirkte wie ein Junge, der es nicht erwarten konnte, hier fertig zu werden, damit er wieder zu seinem Date an den Strand zurückkehren konnte, wo er wohl sein Surfbrett hatte zurücklassen müssen. Jessica stellte ihn sich in Badehose mit einer vollbusigen Freundin am Strand liegend vor. Selbst hier drin baumelte eine Sonnenbrille um seinen Hals. Poser, dachte sie.

Es ärgerte sie jedes Mal, dass bei einer Autopsie nicht nur alle ein »Stückchen« von der Leiche haben wollten, sondern besonders Männer sich darum rangelten, wer das Sagen in Bezug auf den Verstorbenen hatte. Sie erinnerte sich an eine ähnliche Szene vor zwei Jahren, als eine Exhumierung in einer kleinen Stadt im Mittleren Westen dafür gesorgt hatte, dass jeder kleine Beamte im Staat Iowa im Dreieck gesprungen war. Die Exhumierung hatte ihr geholfen, einen Killer zu schnappen, der menschliches Blut hortete wie eine Vampirfledermaus, aber dieser Killer in Hawaii war ein anderes Kaliber. Er sammelte kein Blut, sondern erfreute sich daran, es zu vergießen, sich darin zu suhlen, während es aus den Körpern seiner Opfer strömte, wenn man Kaniolas Leiche als Anhaltspunkt nahm. Sie stellte sich vor, wie der sogenannte Passat-Killer sein riesiges Messer wie einen tödlichen Phallus in seine weiblichen Opfer rammte.

Sie fuhr mit der Autopsie fort und machte den typischen Y-förmigen Einschnitt in Brustkorb und Bauch, legte die Innereien frei und hob mit Warners Hilfe die Eingeweide im Ganzen und intakt heraus, ließ den Leichnam als hohle Hülle zurück. Die unheimliche Stille füllte schnell die Leere, die durch die furchtbare Ausweidung der Leiche entstanden war, und die Totenstille im Raum wirkte noch drückender als vorher. Nur Jessicas Stimme schien kräftig genug, das Schweigen zu durchdringen.

Es vergingen noch einige Stunden, bevor sie den abgetrennten Arm zu Gesicht bekam, der die Touristen am Blow Hole so verschreckt hatte. Parry hatte sie bereits erwartet, als sie den Autopsiesaal verließ, Nacken und Schultern vor Schmerz gebeugt, so anstrengend war die Arbeit gewesen. »Sie hätten mich wegen Marshal vorwarnen können.«

»Ich dachte, Sie werden sich schon selbst miteinander bekannt machen.«

»Wir kamen halbwegs miteinander aus, gerade so. Was für ein Idiot, ich nehme an, Sie haben ihm nichts von dem Arm des Mädchens erzählt.«

»Hab ich gesagt, dass es der Arm eines Mädchens ist?«

»Ich … also, nachdem Sie mir die Bilder gezeigt hatten, habe ich angenommen …«

»Um Ihre Frage zu beantworten, ich habe es zu diesem Zeitpunkt nicht für nötig gehalten, irgendwen sonst hinzuzuziehen, besonders Marshal.«

»Welche Geschichte haben Sie den Touristen erzählt? Dass es ein Scherz war? Vielleicht der Arm einer Schaufensterpuppe?«

»Ziemlich aufgeweckt von Ihnen.«

»Das Problem ist, ich bin im Moment alles andere als aufgeweckt, als dass ich hier noch irgendwie nützlich sein könnte. Ich werfe schnell einen Blick auf den Arm, aber dann muss ich mich bis morgen verabschieden.«

»Abgemacht.«

»Meine Mutter hat mich schon vorgewarnt, dass es solche Tage geben würde.«

Er kicherte leise. »Ihre Mutter war wohl ziemlich schlau.«

»In Wahrheit war es mein Vater, der mir gesagt hat, dass es immer mal solche Tage geben würde. Er war auch Gerichtsmediziner. Meine Mutter ist gestorben, als ich noch sehr jung war. Mein Daddy hat mich danach allein aufgezogen, er hat nie wieder geheiratet.«

»Haben Sie was Interessantes entdeckt, da drinnen bei Hilani oder Kaniola?«

»Zu früh, um irgendwas zu sagen. Wir müssen erst die Tests machen. Ich hoffe, Sie haben ein paar gute Labormitarbeiter.«

»Die besten. Machen Sie sich da keine Sorgen.«

Sie gingen in das Labor, in dem ein paar mit weißen Kitteln bekleidete Techniker Parry mit breitem Lächeln begrüßten. Ein oder zwei der Gesichter waren eindeutig polynesisch.

»Mr. Lau«, rief Parry, »das ist Dr. Coran, aus Quantico in Virginia.«

»Ohhhh«, sagte Lau, lief eilig zu ihr und schüttelte ihre Hand. »Ich habe viel über Sie gelesen, Doktor. Sehr beeindruckend, wirklich sehr. Ich habe schon Parry gesagt, dass wir auch jemanden wie Sie brauchen.«

»Wie wäre es mit jemandem genau wie sie, Lau? Wie wäre es mit ihr selbst?«

»Das habe ich gemeint.«

Parry lachte ausgelassen. »Also, wo ist denn die Lammkeule, Lau?«

»Sicher aufbewahrt, bitte hier entlang.«

Er führte sie in einen Kühlraum, drückte einen Knopf und eine Schublade fuhr langsam aus der Wand. Nebel strömte wie eine Kaskade zu Boden, als die tiefgekühlte Luft auf die warme Luft im Raum traf. Unter der kalten Wolke lag das Objekt von Parrys Interesse in einem Behälter aus Glas. Jessica starrte ebenfalls das einzelne, dünne und armselig aussehende Glied aus Schulter, Ellbogen und Unterarm an. Die fehlende Hand ließ das Objekt nur noch grauenhafter wirken. Es war ein verstümmelter Klumpen Fleisch, gemartert, blau verfärbt, nicht wegen der Kälte, sondern gezeichnet von Blutergüssen, wo er schwer getroffen worden war und Teile des Knochens herausschauten.

»Morgen sollten Sie das Alter, Geschlecht, Größe, Rasse und den Zeitpunkt des Todes bestimmen – und alles andere, was Sie sonst noch herausbekommen, Dr. Coran.« Sie gab Lau mit einem Blick zu verstehen, dass er die Schublade wieder schließen konnte, und der kleine, kräftige Mann tat es mit einem traurigen Blick seiner ansonsten strahlenden schwarzen Augen. Sie sah, dass Parry sie anstarrte, und es war ihr ein wenig unangenehm. Was erwartete er von ihr, ein Zauberkunststück? Dass sie sofort mit tiefgründigen Erkenntnissen über den Körperteil in der Kühlkammer aufwarten konnte?

Sie sah aus dem Augenwinkel, wie Lau dem anderen Techniker erzählte, wer sie war. Lau hatte die Leitung über die anderen Techniker, die Ausrüstung und das Labor im Allgemeinen, und er sorgte dafür, dass die anderen Labormitarbeiter die verschiedenen Proben aus dem Autopsiesaal holten, die alle ordentlich in Jessicas Handschrift beschriftet waren.

»Morgen, okay«, sagte sie heiser. »In der Zwischenzeit können Lau und die anderen die Objektträger und Proben untersuchen, die von den Polizisten genommen wurden.«

»So weit, so gut«, sagte Parry. »Darf ich Sie zum Hotel zurückbegleiten?«

»Danke, aber ich bin sicher, Sie haben Wichtigeres zu tun.«

»Im Moment, Doktor, sind Sie das Wichtigste hier auf der Insel. Wir wissen, was Sie bisher erreicht haben und was Sie letztes Jahr beim Klauen-Fall in New York City geleistet haben und beim Fall davor … diesem kranken Vampir-Killer in Chicago.«

Seine schweifenden Blicke waren an ihrem Stock hängengeblieben. »Wir hoffen, dass Sie diesen Kerl erwischen, so wie die anderen.«

»Machen Sie sich nicht zu viele Hoffnungen. Ich glaube nicht, dass ich heute irgendetwas Nützliches gefunden habe, und ich bin mir nicht sicher, ob die Lammkeule da drin, wie Sie es genannt haben, zu irgendeinem der vermissten Mädchen gehört.«

Er nickte, biss sich auf die Lippe und drückte ihr dann neun Aktenmappen in die Hand. »Hausaufgaben«, sagte er und zuckte wie zur Entschuldigung die Achseln.

»Wie schnell brauchen Sie die zurück?«

»Das sind Kopien, also keine Eile.«

»Haben Sie schon ein Profil Ihres mutmaßlichen Serienkillers erstellen lassen?«

»Das ist mit in den Akten, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mich darauf komplett verlassen würde.«

»Vertrauen Sie Ihrem eigenen Profiler-Team nicht?« Sie hielt inne und sah ihn in Erwartung einer Antwort an.

Er räusperte sich und sagte dann mit fester Stimme: »Da war kein Team dran beteiligt. Ähm, nur ich.«

»Sie scherzen.«

»Ich wünschte, es wäre so. Wir sind unterbesetzt und, na ja … bis jetzt war das auch nicht gerade Priorität Nummer eins des FBI. Man hat es immer wieder auf die lange Bank geschoben. D.C. steht nicht wirklich hinter mir, nur Ihr Kumpel Zanek hat es abgenickt.«

»Paul Zanek«, sagte sie. Denkt wohl, wenn er mich wieder an die Arbeit schickt, grüble ich weniger über mich selbst nach. »Ein toller Kumpel.« Ihr Sarkasmus, den sie eigentlich nicht hatte zeigen wollen, hatte sich Bahn gebrochen.

»Wir haben nur so verdammt wenige Anhaltspunkte …«

»Und da es ja nur kanakas sind, die irgendwelche Frauen vermissen«, unterbrach sie.

»Moment mal! Eine Sekunde. Wir hatten einfach nicht genügend Indizien oder Mitarbeiter, um bisher irgendwas unternehmen zu können. Wollen Sie mir etwa sagen, das wäre in D.C. anders?«

Sie biss sich auf die Lippe und nickte. »Touché.«

Er lief neben ihr her. »Sehen Sie sich einfach an, was ich mir bisher allein zusammengereimt habe, und sagen Sie es mir.«

»Ihnen was sagen?«

»Ob ich auf der richtigen Spur war oder nicht.«

»Ich sehʼs mir an.«

»Mein Wagen ist in der Tiefgarage. Kommen Sie«, sagte er. »Ich bringe Sie nach Hause.«

»Wenn Sie darauf bestehen«, erwiderte sie und wollte ihm die Aktenordner aus der Hand nehmen, aber Parry bestand darauf, den schweren Stapel für sie zu tragen.

»Wer hat all diese Akten zusammengetragen?«

»Agent Gagliano, Tony und ich selbst – mithilfe der Abteilung für vermisste Personen des Honolulu Police Department natürlich.«

»Dafür, dass es auf die lange Bank geschoben wurde, haben Sie aber ziemlich hart dran gearbeitet. War das HPD da auf beiden Augen blind?«

»Könnte man sagen.«

Sie nickte. »Was würden Sie sagen?«

»Man würde es nicht vermuten, wenn man Honolulu aus der Perspektive eines Touristen sieht, Dr. Coran, aber es gibt hier ziemlich viel Abschaum, viele Verbrechen und Drogen an jeder Ecke. Wir haben Bandenkriege, Armut, Ignoranz, Brutalität, Gestörte, Möchtegern-Opfer, genau wie in Baltimore oder New Orleans oder in tausend anderen amerikanischen Städten.«

»Das verlorene Paradies.«

»So sieht es aus, Doktor.«

»Ein so schöner und prächtiger Ort …«

»Das sind New York, L.A., Chicago oder D.C. auch, wenn man sie nicht aus dem Streifenwagen oder durch die Augen eines Jugendlichen aus dem Getto betrachtet. Wie alle Städte hat auch Honolulu zwei Gesichter. Da gibt es die glitzernden Paläste an der Küste von Diamond Head und Waikiki, sicher, aber auch die heruntergekommenen Viertel.«

»Schau unter eine Jacht und was findest du?, hat mein Vater immer gesagt. Schleim und Seepocken.«

»Hört sich nach einem vernünftigen und praktisch veranlagten Menschen an, so wie Sie?«, sagte Parry fragend, kam dann aber schnell wieder zum Thema zurück. »Ja, diese Inseln wären wirklich ein Paradies, wenn da nicht die Bewohner wären.«

Parry klang zutiefst verletzt, aber er bremste sich und sagte nichts mehr, während er den Weg durch einen letzten Korridor wies, den sie entlanggehen mussten, bevor sie zu seinem Ford LTP ohne Polizeikennzeichen kamen und schweigend einstiegen. Er machte sich an Gurt und Funkgerät zu schaffen und informierte die FBI-Funkzentrale, wo er war und wohin er fahren würde.

Jessica sah ihn an, betrachtete ihn, ohne dass er es mitbekam, und fragte sich, was wohl in James Kenneth Parrys Kopf vorging, wie seine Vergangenheit und seine Träume aussahen.

MACHETE - Der Passat-Killer von Hawaii

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