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Kapitel 1 – Worum geht es im Kern?

Die Kirche sieht sich heute mit großen Herausforderungen konfrontiert.

Sie ist berufen, Zeugnis abzulegen von ‚ewigen Wahrheiten‘ in einer Welt, die süchtig ist nach allem Neuen und bestimmt von persönlichen Glaubenskonstrukten, die aus einer Mischung an Weltanschauungen selbst zusammengebastelt werden. Sie ist berufen ‚still zu sein und zu erkennen, dass ich Gott bin‘ in einer Welt, die geprägt ist von Aktionismus und der Angst vor Ruhe oder Stille. Sie ist berufen, Gemeinschaft zu sein in einer Welt, die ausgerichtet ist auf die Freiheit und Unabhängigkeit des Einzelnen; ja mehr noch, in der die eigene Identität über jede Gemeinschaft und die Normen einer Gesellschaft gestellt ist. Und nicht zuletzt muss Kirche, die so lange im Zentrum der Macht von Gesellschaft und Regierung stand und sich diese Rolle zu eigen gemacht hatte, nun feststellen, dass sie an den Rand gerückt und ihrer Macht weitgehend beraubt ist.

Das Wort – parochial – ist Programm. Wir verstehen darunter alles, was lokal verortet ist, vorhersehbar, normal und sicher. Es vermittelt Verwurzelung und Zugehörigkeit. Eigentlich aber hat parochial seinen Ursprung in Petrus’ Beschreibung der Gemeinden, an die er schrieb. Wörtlich übersetzt bedeutet es ‚Fremde‘, genauer ‚hier wohnende Fremde‘: die Ungewöhnlichen oder Außenseiter. Der Brief an Diognet aus dem Jahr 150 n. Chr. findet folgende Formulierung:

„Sie leben zwar an ihrem jeweiligen Heimatort, doch wie Fremde. Sie beteiligen sich als Mitbürger an allem, doch ertragen sie es nur wie Durchreisende. Jede Fremde ist ihre Heimat, und jede Heimat ist ihnen fremd.“2

Unter solch herausfordernden Umständen kann es kaum überraschen, dass viele Gemeinden zahlenmäßig kleiner werden und der Altersdurchschnitt steigt. Die ältere Generation wird nicht ersetzt.3 Der Gedanke einer rückläufigen Kirche bereitet vielen Kopfzerbrechen und führt dazu, dass manche Gemeinden sich in eine Fundraising-Spirale begeben haben, die buchstäblich alle Energie und Aufmerksamkeit auffrisst. Gleichzeitig gibt es weniger Geistliche und 41 Prozent der hauptamtlichen Pfarrerinnen und Pfarrer und 60 Prozent aller im Augenblick amtierenden Geistlichen gehen 2020 in den Ruhestand.4

Aber es sind nicht nur die Statistiken. In vielerlei Hinsicht arbeitet die Kultur gegen uns. Unser christliches Erbe macht den Eindruck eines sich ständig zurückziehenden Meeres. Christliche Ethik spielt eine immer geringere Rolle bei der Prägung des heutigen moralischen Empfindens. Die Aussichten sind schlecht.

Allerdings geht die Bewegung nicht nur in eine Richtung. Einige Gemeinden, ja ganze Diözesen erleben Wachstum. Menschen kommen zum Glauben und in der Radiosendung des BBC Songs of Praise sind viele bemerkenswerte persönliche Geschichten zu hören, die davon erzählen, wie Glaube gelebt wird unter schwierigen Bedingungen, und Menschen in ihren dunkelsten Stunden erleben die Gegenwart Gottes. Es gibt sie, die guten Nachrichten.

Es ist oft die Kirche, die dahintersteht, wenn die gute Nachricht von Jesus Christus lebendig wird; sie tut Dinge, die Menschen zum Glauben bringen, oder Menschen finden durch Christen (die Kirche sind) den Weg zu Gott und Sinn und Ziel für ihr Leben.

Wie ein kleines Boot inmitten starker Gegenströmungen muss die Kirche wissen, wohin es gehen soll. Und sie muss an dieser Vision vom Ziel festhalten, auch wenn sie das Gefühl hat, in verschiedene Richtungen gezogen zu werden. Vielleicht erfordert es unsere ganze Kraft, unseren Weg durch die Strömungen zu finden, deshalb muss nur begrenzt vorhandene Energie gut genutzt werden.

Das Herz des Ganzen

Erstes Merkmal einer vitalen Gemeinde: Sie bezieht Kraft und Orientierung aus dem Glauben an Jesus Christus.

Der renommierte Unternehmensberater Tom Peters rät Unternehmen, die mit widersprüchlichen Wirtschaftsbedingungen zu kämpfen haben, ‚bei ihren Leisten zu bleiben‘, sich auf ihr Kerngeschäft zu konzentrieren. Kirche in der heutigen Zeit muss sich darüber klar sein, was ihr Kerngeschäft ist, und sie muss vermeiden, sich von anderen Themen ablenken zu lassen, ganz gleich wie attraktiv und verheißungsvoll sie sind.

Sicher, Kirche ist kein Unternehmen, aber wir können unsere Wahrnehmung schärfen, indem wir uns der gebräuchlichen Marketingterminologie bedienen, um herauszufinden, worum es geht. Was also ist das Kerngeschäft von Kirche? Die zentrale These dieses Buches ist, dass das ‚Produkt‘, das die Kirche ‚vermarkten‘ soll, nichts anderes ist als die Erkenntnis Gottes. Gemeint ist hier nicht ein Sammeln von Informationen über jemanden; ‚Erkenntnis‘ soll hier verstanden werden im ursprünglichen Sinne von ‚jemanden (er)kennen‘.

John Baillie, schottischer Theologe, hat das vor vielen Jahren im ersten Satz seines Buches Our Knowledge of God so ausgedrückt:

„Alle Religion steht für die großartige Tatsache der Begegnung der menschlichen Seele mit der transzendenten Heiligkeit Gottes.“5

Biblische Wurzeln

Die Heilige Schrift ist im Ganzen die Geschichte von Menschen, die Gott begegnet sind und die durch diese Begegnung in ihrem Dasein und Handeln für immer verändert wurden.

Abraham: Aus dem greisen Bürger wird Abraham der Pilger; er gehorcht dem Ruf Gottes, in das Land zu gehen, das Gott ihm zeigen würde. Abraham und Sara, alt und kinderlos, wurden zum Ursprung eines großen Volkes. Die gesamte Geschichte rankt sich um ihre vielen Begegnungen mit Gott.

Mose: Das Baby aus dem Binsenkorb, der Palastaußenseiter findet seine Berufung an einem brennenden Busch in der Wüste, während eines zwangsweise frühen Ruhestands. Dort begegnet er Gott und führt dann nicht nur die Kinder Israels durch das rote Meer, sondern hinterlässt durch die Zehn Gebote der ganzen Welt einen ethischen Rahmen für Leben und Gesellschaft, der nie an Bedeutung verlor.

Jesus: Bei seiner Geburt als Sohn Gottes angekündigt, begegnet er Gott in seiner Taufe als demjenigen, der seine Beziehung zu Gott definiert: „Du bist mein geliebter Sohn.“ Anschließend widmet er sein Leben dieser Beziehung und gibt sie weiter an das neue Israel, das er ins Leben ruft.

Paulus: In der Begegnung mit Gott vom Pferd gestoßen und vom hohen Ross seines Vorurteils gegen Jesus Christus, lebt er weiter, indem er der Berufung Gottes auf Schritt und Tritt folgt und so das Fundament für den Glaubens und die Kirche legt.

Die Heilige Schrift ist der Bericht von Menschen, die Gott in seiner Heiligkeit begegnet sind.

Texte zum Thema: die vielen Begegnungen mit Gott in den Evangelien (z. B. Bartimäus in Markus 10,46-52; Hebräer 13.

Albert Einstein hat versucht, dieses Wissen zu fassen, als er schrieb:

„Die schönste Erfahrung, die wir machen können, ist die des Geheimnisvollen. Diese grundlegende Emotion steht an der Wiege wahrer Kunst und wahrer Wissenschaft. Wer sich nicht mehr wundern, nicht mehr stauen kann, ist seelisch so gut wie tot und seine Augen sind erloschen. Die Erfahrung des Geheimnisvollen brachte – wenn auch durchsetzt von Angst – die Religion hervor. Das Wissen um die Existenz von etwas, das wir nicht durchdringen können, unsere Wahrnehmung des tiefsten Sinns und der strahlendsten Schönheit, die unser Gehirn nur in ihren primitivsten Formen begreifen kann –dieses Wissen und dieses Gefühl erzeugen wahre Religiosität. In diesem Sinne, und nur in diesem Sinne bin ich ein tiefreligiöser Mensch … Ich bin zufrieden mit dem Geheimnis von der Ewigkeit des Lebens und mit dem Wissen um das Gefühl für die wunderbare Beschaffenheit der Existenz – und mit dem demütigen Versuch, wenigsten einen winzigen Teil des Grundes zu erfassen, der sich in der Natur offenbart.“6

Hier, an dieser Stelle, muss die Kirche mit ihren begrenzten Ressourcen ihre Energie und Aufmerksamkeit und all ihr Bemühen in der heutigen Zeit einsetzen. Das ist der Punkt, an dem Kirche immer wieder Erneuerung erlebt und ihre Vitalität zurückgewinnt. Kirche im Neuen Testament, die monastische Bewegung, die keltischen Heiligen und die charismatische Erneuerung – dies sind nur einige wenige Beispiele dafür, was geschieht, wenn das Streben nach der Erkenntnis Gottes – ins Zentrum kirchlichen Lebens rückt. Bischof Alan Smith sagt dazu:

„Gott steht im Fokus all unseres Seins und all unseres Handelns. Nicht in erster Linie die Kirche und nicht einmal die Mission. Wenn andere Dinge zu unserem Fokus werden, dann unterscheiden wir uns kaum noch von einer Bürgerinitiative … einer Interessensvertretung für kulturelles Erbe, einer Selbsthilfegruppe, die sich um die Bedürfnisse ihrer Mitglieder kümmert, oder einfach von einer etwas altmodische Organisation, die über den Tellerrand ihrer Mitglieder hinausschaut, um das Haltbarkeitsdatum ein wenig nach hinten zu verschieben.“7

Die Erkenntnis Gottes besteht aus drei ineinander verwobenen Dimensionen, wie die Abbildung auf Seite 23 zeigt.

Hier schlägt das Herz des christlichen Glaubens, darum geht es im Kern: Gott zu kennen. In der Geschäftigkeit kirchlichen Lebens geht das allzu leicht verloren. Das ‚Herz‘ ist in der Bibel der Sitz unserer Beziehung zu Gott. Was wir also heute brauchen, ist eine Rückkehr in das Herz dessen, was Glaube ausmacht: Das Bemühen um eine Erkenntnis Gottes und die Auswirkungen, die dies auf unser Leben hat. Dazu muss es auch in der Kirche eben diesen Fokus geben, auch sie muss in allem, was sie tut, ihrem Glauben an Gott Nahrung geben und ihn nach außen hin sichtbar machen.

Die Rückkehr zum Herzen dessen, was Kirche ausmacht, muss in allen drei der folgenden Dimensionen Ausdruck finden.8


Gott heute erkennen

Erkenntnis Gottes beginnt mit einer persönlichen und einer gemeinsam gelebten Beziehung zu Gott.

Dies entfaltet sich in der Art und Weise, wie die Kirche ihren pastoralen Auftrag umsetzt: Indem sie Menschen dabei hilft, sich auf den Weg des Glaubens an Gott zu machen, auf dem Weg sind, an den Wegkreuzungen schwieriger Entscheidungen im Leben Gott zu begegnen. Hier sind zunächst öffentliche Gottesdienste wichtig, die sehr bewusst darauf ausgerichtet sein müssen, den Gottesdienstbesuchern einzeln und als Gemeinschaft eine Begegnung mit Gott zu ermöglichen. Die Menschen sollen die Geschichte ihres Lebens im Licht der größeren Geschichte der Offenbarung Gottes in Jesus Christus sehen. Gottesdienste müssen in dem Wissen um diese Aufgabe geleitet werden. Auch die Teilnehmenden sollten wissen, dass es genau darum geht. Die Begegnung mit Gott lehrt und formt unser Leben im Licht seiner Gnade, Güte und Großherzigkeit, so wie wir sie im Leben Christi erlebt haben.

Diese erste Dimension christlichen und kirchlichen Lebens, die Erkenntnis Gottes, bezeugt die geistliche Dimension des Lebens, die in unserer säkularen Welt fehlt. Bereits durch die Tatsache, dass sie Gott Beachtung schenkt, hat die Kirche der Welt etwas zu bieten.9

Gottes Leben heute mit anderen teilen

Als zweite Dimension kommt die Erkenntnis Gottes zum Ausdruck durch unsere Art und Weise, Kirche zu sein. In John Wesleys Worten: „Religion als Privatsache gibt es nicht.“ Wenn wir also über Kirche und unseren Anteil daran sprechen, dann muss klar sein, dass es unsere Aufgabe ist, uns gemeinsam mit anderen Christen einzubringen und das im Leben Christi offenbar gewordene Bild Gottes lebendig werden zu lassen. Es ist Teil unseres Gottesdienstes, wie wir mit Beziehungen umgehen und welche Werte wir in der Kirche leben; und ebenso wie die Kirche geleitet wird und nach außen hin Ausdruck findet.10 In der heutigen Gesellschaft trägt die Art und Weise Kirche zu sein bereits dazu bei, Gott zu dienen und die gute Nachricht von Jesus Christus zu verbreiten. ‚Schau, wie diese Christen einander lieben‘ ist und bleibt zentrales Mittel bei der Aufgabe, ‚Christus bekannt zu machen‘.

Dies sollte sichtbar sein in der Qualität der Beziehungen, in der Fähigkeit, anderen zuzuhören, in der Art und Weise, mit Konflikten umzugehen, und in der mutigen Gestaltung einer vielgestaltigen Gemeinschaft, die keine Grenzen von Alter, sozialer oder ethnischer Herkunft oder Bildungshintergrund kennt und fröhlich Raum gibt für Diversität.

Die Kirche ist berufen, hier und jetzt das Leben der kommenden Welt vorwegzunehmen. Die Worte ‚Christi Leib/Blut stärke dich zum ewigen Leben‘, gesprochen bei der Austeilung des Abendmahls, erinnern uns an diese Berufung. Ewiges Leben ist nicht einfach gleichbedeutend mit einem Leben, das nach dem Tod immer weiter geht. Gemeint ist nicht eine quantitative Ausdehnung in der Zukunft, sondern vielmehr eine neue Qualität des Lebens hier und jetzt. Der Begriff ‚ewiges Leben‘ steht zwar für ‚Leben in der zukünftigen Welt‘, aber durch das Leben Christi ist dieses zukünftige Leben bereits in unsere Welt eingedrungen. Wer daran glaubt, ist berufen in diese Welt einzutreten und nach ihren Werten zu leben – im Hier und Jetzt. Die Kirche soll die neue Welt leiblich nach außen hin abbilden; sie soll die Wahrheit Gottes in einer menschlichen Gemeinschaft Gestalt werden lassen, die nach anderen Werten lebt. Im Abendmahl empfangen wir die Gnade Gottes immer wieder neu, um in unserem Alltag und Umfeld dieser Berufung nachkommen zu können.11

Gottes Ziele heute in die Welt tragen

Drittes Merkmal einer vitalen Gemeinde: Wir finden heraus, was Gott heute will.

Die dritte Dimension der fundamentalen Berufung der Kirche, zur Erkenntnis Gottes zu gelangen, kommt zum Ausdruck, wenn wir uns in der Welt für die Ziele Gottes einsetzen: für die Liebe zur gesamten Schöpfung und die Erfüllung ihres Wesens und ihrer Bestimmung. Dies umfasst sowohl das persönliche Leben (im Alltag) als auch die Gemeinschaft (das Handeln der Kirche). Es beinhaltet auch die Befreiung der Schöpfung (sowohl die natürliche Ordnung als auch den Menschen) von Kräften der Unterdrückung und Verführung, die sie von diesen von Liebe geprägten Zielen ablenken. Die Berufung impliziert auch, dass sich die Kirche mit all jenen zusammentut, die das Gute für die Welt suchen, und dass sie Zeugnis ablegt von der Wertschätzung und Liebe Gottes für alle Menschen und von seinem Plan, sein Bild in allen Gestalt annehmen zu lassen. Gleichzeitig mit diesem Weitergeben der liebevollen Zuwendung Gottes für die Welt um uns herum, die sich traditionell im Dienst an den Bedürftigen ausdrückt, hat die Kirche die unverwechselbare Aufgabe, die wichtige Botschaft dieser Wertschätzung Gottes und seiner Liebe für alle Menschen, ja sogar für alle Schöpfung, weiterzugeben.

Es ist immer wieder behauptet worden, der Hauptgrund für die schnelle Verbreitung des Christentums in den ersten Jahrhunderten sei darin zu finden, dass ein ganz neuer Lebenssinn entstanden war.12

Die griechischen Götter waren ein erschreckend unberechenbarer und unmoralischer Haufen. Die römischen Götter zeichneten sich aus durch Fatalismus und menschenähnliche Machtlosigkeit bei der Beeinflussung ‚des Schicksals‘. Die Kirche dagegen verkündigte und zeigte, dass ‚Gott seine Ziele im Laufe der Jahre erfüllt‘. Das „dein Reich komme, dein Wille geschehe“ im Vaterunser bringt dies gut zum Ausdruck. Wenn wir dieses Gebet – richtig verstanden - beten, dann widmen wir unsere Energie dem Kommen dieser neuen Ordnung.

„Die Jahre 250–253 n. Chr. waren schwierige Jahre für die Christen in Karthago. Es begann mit der ersten Welle grausamer Verfolgung, Folter und Tod durch Decius. Schon bald nach deren Ende wurde die Stadt von der Pest heimgesucht (nach heutigem Wissenstand handelte es sich um die Masern). Die Gemeinde stand vor einer schwierigen Entscheidung: Sollten sie die Stadt verlassen, solange es noch ging und wie es so viele von den reicheren Bürgern taten, damit die Gemeinde die Pest überlebte? Oder sollten sie bleiben, die Kranken und Sterbenden pflegen und so nicht nur das eigene Leben riskieren, sondern auch die Zukunft der Gemeinde? Bischof Cyprian drängte die Gemeinde zu bleiben und sich zu kümmern, was sie auch tat. Obwohl die Gemeindemitglieder viel mehr Zeit als alle anderen damit verbrachten, Kranke zu pflegen und Tote zu begraben, war die Sterberate in der Gemeinde weit geringer als im Rest der Bevölkerung. Als die Pest vorbei war, kamen die Bürger der Stadt, einschließlich der ehemaligen Verfolger, in Scharen, um sich der Gemeinde anzuschließen, weil sie Teil sein wollten von diesem mit Sinn gefüllten Leben, das für das Wohlergehen anderer und der Welt sorgte.“13

Viel zu oft versagt die Kirche heute dabei, ihrem Ruf in diesem Bereich in vollem Umfang gerecht zu werden. In Zeiten der Auseinandersetzung und Mühe ist die Versuchung sehr groß, alle Ressourcen innerhalb der Kirche einzusetzen, statt sie nach außen zu tragen als liebevolles Interesse an der Welt.

In der Praxis

In der Praxis sind diese drei Dimensionen der Erkenntnis Gottes keine in sich abgeschlossenen Einheiten. Die Wirklichkeit des Lebens ist ein ständiges Wechselspiel und eine Verflechtung der Elemente miteinander. Trotzdem ist es gut und hilfreich, die verschiedenen Elemente und ihre Stärken (und Schwächen) zu entdecken, denn es zeigt uns den Weg, auf dem Gott uns weiterführen möchte.

Das Modell hilft uns auch dabei, unseren eigenen Weg zu verstehen und den der Menschen, denen wir helfen wollen. Normalerweise folgt der Weg folgendem Muster: Menschen bekommen eine Beziehung zu Gott (‚Hinauf‘), die dazu führt, dass sie sich der Gemeinde anschließen (‚Hinein‘) und sich zu gegebener Zeit irgendwo im Dienst an Menschen engagieren (‚Hinaus‘). Daneben gibt es jedoch viele verschiedene Arten, wie Menschen mit diesen Aspekten der Erkenntnis Gottes in Berührung kommen und ihren Weg gehen.

David bezeichnete sich selbst als Atheisten, unterstützte aber seine Frau in ihrem Engagement in der Gemeinde sehr. Er war Elektriker und immer bereit zu helfen, wenn die Gemeinde dringend Hilfe auf diesem Gebiet brauchte. So entstanden Freundschaften mit einer Reihe von Männern aus der Gemeinde. Eines Tages plante die Gemeinde einen missionarischen Einsatz und bat ihn, mitzukommen und beim Aufbau der Anlage zu helfen. Durch das Engagement bei diesem Projekt kam er zum Glauben. ‚Dienen – Freundschaft – Glaube‘, ‚Hinaus, Hinein, Hinauf‘ war seine persönliche Wegstrecke auf der Landkarte.

Lucy ging nicht in den Gottesdienst, verstand sich aber sehr gut mit ein paar der Leiterinnen der Krabbelgruppe, die sie regelmäßig besuchte. Als sie die Diagnose ‚Krebs‘ bekam, wandte sie sich an diese Freunde ‚aus der Gemeinde‘. Ihre liebevolle Unterstützung trug wesentlich dazu bei, dass sie die Operation und den Weg der Heilung gut überstand. Aber es war der Glaube der Frauen, der etwas in ihr veränderte. Auf dem Weg der Besserung erkannte sie, dass sie selbst von Gott geliebt war, und schloss sich nach ihrer Genesung der Leitungsgruppe an. Erst viel später begann sie, in den Gottesdienst zu gehen. ‚Freundschaft – Glaube – Dienst – Gemeinde‘ oder ‚Hinein – Hinauf – Hinaus – Hinein‘ beschreibt ihren Weg.

Das Modell ist kein starrer Rahmen oder ein festgelegtes System, in das Menschen hineingepresst werden müssen. Es ist eher eine Landkarte von dem Territorium, auf dem Kirche und Gemeinden sich auskennen sollten. Die Landkarte hilft uns persönlich, aber auch als Gemeinschaft, zu verstehen, was gerade geschieht und wo unser Einsatz (und unser Gebet) vonnöten ist.

Zurück zum Herzen

So schwierig die Praxis auch sein mag, eigentlich ist die Aufgabe von Kirche ganz einfach.

Wir sind berufen, eine von Liebe geprägte Beziehung zu Gott, zueinander innerhalb der Kirche und zur Welt um uns herum zu pflegen. Wir sind ganz sicher berufen zu glauben, Opfer zu bringen und ‚reine, beharrliche Ausdauer‘ an den Tag zu legen. Letztendlich aber legt die Berufung eine klare, eindeutige Agenda für die Kirche fest, die in den drei Dimensionen des ‚Hinauf‘ zu Gott, ‚Hinein‘ zueinander und ‚Hinaus‘ in die Welt ihren Ausdruck findet. Eine solche Agenda soll uns zurückrufen zum Herzen der Offenbarung Gottes in Jesus Christus und zu ihren Auswirkungen auf die Kirche von heute.

Die drei Dimensionen sind eine umfassende Beschreibung der Berufung der Kirche; deshalb werden in einer Gemeinde, die zum Herzen von Kirche zurückkehren will, alle sieben in Vitale Gemeinden14 beschriebenen Merkmale vorkommen. Drei der Merkmale sind allerdings besonders zentral bei dieser Suche nach dem Kern dessen, worum es geht.

Das erste Merkmal, ,Wir beziehen Kraft und Orientierung aus dem Glauben an Jesus Christus‘, beschreibt Gemeinden, deren geistliches Leben genügend Nahrung bekommt, um im Herzen kirchlichen Lebens zu sein. Das dritte Merkmal, ‚Wir finden heraus, was Gott heute will‘, beschreibt eine Gemeinde, in der Glaube nicht nur eine persönliche Angelegenheit ist, sondern das Handeln der Gemeinde bestimmt. In solchen Gemeinden beeinflusst das geistliche Leben die Entscheidungsprozesse. Das siebte Merkmal, ‚Wir konzentrieren uns auf das Wesentliche‘, beschreibt eine Gemeinde, die mit sich im Frieden lebt, weil sie im Herzen dessen angekommen ist, was den Glauben ausmacht. Solche Gemeinden sind fokussiert, statt sich in Aktionismus zu verlieren. Zudem sind sie nicht überfrachtet mit Aktivitäten und Programmen, so dass genügend Raum bleibt für Reflexion über das Leben in der Gemeinde und die Dinge, die wirklich wichtig sind.

Die drei Dimensionen – ‚hinaufschauen‘ zu Gott, ‚hineinschauen‘ aufeinander und ‚hinausschauen‘ in die Welt um uns herum – sind der Gestaltungsrahmen zur Umsetzung der Berufung, die Kernbotschaft der Erkenntnis Gottes immer neu zu entdecken, zu formulieren und weiterzugeben an andere. Wenn dies Priorität hat, dann ist Gemeinde aller Wahrscheinlichkeit nach vital und bringt Frucht, ganz gleich in welchem Umfeld sie sich befindet.

In einer anderen Tonart

Eine andere Ausdrucksmöglichkeit der Erkenntnis Gottes als Herzstück von Kirche findet sich, wenn wir sie in eine andere Tonart transponieren: in die Tonart der Liebe Gottes. In der Heiligen Schrift ist diese Liebe nicht etwas, das Gott tut, sondern sie ist das eigentliche Wesen Gottes: Gott ist Liebe.

Nach der Erkenntnis Gottes zu suchen, bedeutet, nach der Liebe Gottes zu suchen. Dabei sollte der doppelte Blickwinkel nicht übersehen werden: Wir sollen uns einlassen auf die Liebe Gottes für uns und alle Schöpfung, sollen aber gleichzeitig unserer Liebe zu Gott und anderen Ausdruck verleihen. Die zwei wichtigsten Gebote machen deutlich, dass die Liebe zu Gott und die zu unserem Nächsten zwei Seiten ein und derselben Münze sind. Wir können uns nicht entweder für das eine oder für das andere entscheiden, die Münze hat nur dann ihren Wert, wenn beide Seiten gemeinsam gelebt werden.

Will man das, was dieses Buch lehrt, umsetzen und leben, ist es für Gemeinden und ganz besonders Gemeindeleitungen ein hilfreicher Schritt zu vermitteln, dass es die Liebe Gottes ist, worum es ‚im Kern geht‘. Dies sollte bewusst entschieden und während der Arbeit an dem Thema konstant festgehalten werden.

In Menschen

Ist also die Erkenntnis Gottes Ziel und Kernaufgabe der Kirche, dann ist noch ein weiterer wesentlicher Faktor von größter Wichtigkeit: Weil das Christentum menschgewordener Glaube ist, muss jedes Streben nach der Erkenntnis Gottes Ausdruck finden durch Menschen und Gemeinschaften des Glaubens.

Denn sichtbar wird die Erkenntnis Gottes in Menschen, die sich auf den Weg gemacht haben, heil zu werden, und in Gemeinden, die vitale, Leben spendende Gemeinschaften sind. In einem meiner früheren Bücher15 findet sich als ein Weg, die frohe Botschaft von Jesus Christus so zu erklären, dass sie für die Welt von heute verständlich wird, folgende Erklärung:

Gottes Art und Weise, ganz und gar Mensch zu sein, hat sich gezeigt im Leben Jesu Christi, wird für alle zugänglich durch das Werk des Heiligen Geistes und wird heute deutlich durch die Kirchengemeinde in Ihrer Nähe.

Dabei stellt sich ganz offensichtlich die Frage: Stimmt das so? Macht die Kirchengemeinde dies deutlich? Bestenfalls auf eine unvollkommene Art und Weise. Trotzdem dient dies als Erinnerung daran, dass das Zeugnis vom Evangelium im Leben von Einzelnen und Gemeinschaften sichtbar werden muss; sie sollen dem Weg Christi so folgen, dass etwas von der Gestalt und dem Wesen Christi in ihnen zum Ausdruck kommt.

Mit Gott in Verbindung treten 1: Still werden

Nach Ansicht David Runcorns führt der beste Weg zum Wachstum von Kirche und Gemeinde über geistliches Wachstum.16 Dieses Buch vertritt zusätzlich die These, dass Kirche und Gemeinde dann wachsen, wenn Menschen Unterstützung in ihrem persönlichen Wachstum bekommen. Ein wichtiges Mittel, um Menschen dieses Wachstum im Glauben und in ihrer Erkenntnis Gottes zu ermöglichen, sind einfache Rituale von Gebet und Meditation. In den ersten fünf Kapiteln dieses Buches wird jeweils eine geistliche Übung angeboten (zur Erleichterung der Lektüre sind sie nummeriert). Sie zu einer regelmäßigen Praxis im persönlichen und dann auch im gemeinschaftlichen Leben zu machen, ebnet den Weg der Glaubensgemeinschaft hin zum Herzen des Glaubens, der Erkenntnis Gottes.

In unserer hektischen Gesellschaft ist es schwer, still zu werden. Die folgende Übung kann zur Entschleunigung beitragen. Man kann sie in ein oder zwei Minuten absolvieren (indem man Kerze und vorgeschlagene Bewegungen auslässt). Besser aber ist, daraus eine regelmäßige Gewohnheit zu machen und sich mehr Zeit zu nehmen (man kann zum Beispiel mit zehn Minuten anfangen, die Zeit aber dann ausdehnen, wenn man möchte und kann). Die Übung passt gut zum Beginn einer Sitzung oder Besprechung, Sie sollten allerdings vorher alleine für sich üben, damit sie zu Ihrer ganz natürlichen Methode wird, um mit Gott in Kontakt zu treten.

– Zünden Sie eine Kerze an als Zeichen für die Gegenwart Gottes und seine Fähigkeit, jede Situation zu verändern, so wie die Sonne jeden Ort erhellen kann.17

– Werden Sie ganz still – für mindestens 30 Sekunden.

– Sagen Sie Dank in der Stille – für das Geschenk des Lebens: Lenken Sie Ihre Gedanken auf besondere Aspekte Ihres Lebens, die Sie in Dankbarkeit vor Gott bringen möchten, z.B. Ihren Körper, Ihre Lieben, die Schöpfung, die menschliche Kreativität, materielle Güter, das Staunen über all dies. Fassen Sie all das nicht in Worte, halten Sie Gott einfach Ihre Gedanken hin.

– Lassen Sie los – all das, was Ihnen Sorgen macht und Sie niederdrückt. Hilfreich ist, wenn Sie bequem sitzen, die Hände liegen mit den Handflächen nach unten auf den Oberschenkeln. Formulieren Sie bewusst, was Sie loslassen möchten, und geben Sie es in die Hände Gottes ab. Beobachten Sie dabei, wie Ihre Hände locker werden und die Sorge loslassen. Die Sorge hat Sie nicht mehr im Griff.

– Empfangen Sie von Gott das Geschenk seiner Gegenwart, seiner Gnade und seiner Güte. Dazu drehen Sie die Hände, sodass sie nun mit den Handflächen nach oben auf den Oberschenkeln liegen, und nennen Sie beim Namen, was Sie von Gott geschenkt bekommen möchten. Der heilige Augustinus formulierte: „Gott gibt dort, wo er offene Hände findet“. Bitten Sie Gott um das, was Sie von ihm empfangen möchten: um seine Weisheit, sein Kraft und Vergebung, seinen Mut usw. Benutzen Sie hier nur einzelne Wörter – oder höchstens einen Satz.

So üben wir, die Gegenwart Gottes zu spüren und neu anzuknüpfen an das, was Kirche und Glauben ausmacht. Das ist an ist schon ein wichtiges Ziel. Die Übung ist aber auch deshalb gut, weil uns so viel davon ablenkt, die Beziehung zu Gott aufzunehmen. Deshalb wenden wir uns nun direkt den Hindernissen zu, mit denen die Kirche heute kämpft auf ihrem Weg zur Erkenntnis Gottes.

Weitere praktische Beispiele finden Sie in Teil 3: Ressourcen, ‚Einleitung‘, S. 175–177 und in ‚Arbeitsmaterial‘, S. 179–181.

2 Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, Insel Verlag, 1999, S. 1252.

3 Gesamtgesellschaftlich liegt das Durchschnittsalter (Anm. Übers: in England) bei 48 Jahren, in der Kirche jedoch bei 61 Jahren.

4 In der anglikanischen Kirche gibt es zusätzlich zu den hauptamtlichen Pfarrerinnen und Pfarrern noch nebenamtliche Geistliche, die ihren Lebensunterhalt in einem anderen Beruf verdienen. – Anm. d. Übers.

5 John Baillie, Our Knowledge of God, Oxford University Press, 1939. Leider trägt mein Exemplar auf dem Schutzumschlag den Stempel „Sheffield Polytechnic, aussortiert“!

6 Albert Einstein, ‘The World As I See It’ (Deutsch: Mein Weltbild), in Living Philosophies, Simon & Schuster, 1931, S. 3–7.

7 Alan Smith, God-Shaped Mission, Canterbury Press, 2008, S. 189.

8 Die drei wichtigsten Elemente christlichen Lebens sind: Gottesdienst und Gebet; in Gemeinschaft leben und lernen; Handeln und Leiden für Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden, Freundlichkeit und Wahrheit. Nach David Ford, Self and Salvation, Cambridge University Press, 1999, S. 5.

9 „Aufgabe von Kirche ist, eine alternative Art und Weise das Leben zu sehen und zu leben, für alle sichtbar zu machen.“ John Westerhoff III, Living the Faith Community, Seabury Classics, 2004, S. 72.

10 „Die Kirche muss das erste Zeichen dessen sein, was sie predigt.“ Michael Crosby, House of Disciples.

11 „Einziger Daseinszweck von Kirche ist, hier und jetzt damit zu beginnen, so zu leben, wie die Welt letztendlich leben soll, und so Repräsentantin der Verheißung einer anderen Wirklichkeit zu sein, die Hoffnung für die Zukunft der Menschen bringt.“ Walter Wink, Engaging the Powers, Fortress Press, 1992, S. 164.

12 Siehe Charles Norris Cochrane, Christianity and Classical Culture: A Study of Thought and Action from Augustus to Augustine, Oxford Press, 1940.

13 Siehe Alan Kreider, Worship and Evangelism in Pre-Christendom, The Alcuin Club and Grove Books Joint Study, 1995, S. 36–39. Siehe auch, Rodney Stark, The Rise of Christianity, Harper One, 1997, besonders Kapitel 4, „Epidemics, Networks and Conversion“.

14 Robert Warren, Vitale Gemeinde. Ein Handbuch für die Gemeindeentwicklung, Neukirchener Verlagsgesellschaft, Neukirchen-Vluyn, 2008, 2. Auflage 2013.

15 Robert Warren, Being Human, Being Church, Marshall Pickering, 1995; 2. Auflage, Openbook, 2007.

16 In David Runcorn, The Road to Growth Less Travelled, Grove Books, 2008.

17 Ich benutze eine runde Kerze als Symbol für die Welt – „meine Welt“, „meine Gemeindewelt“, „die gesamte Welt als Schöpfung Gottes“. Auch andere Elemente wie ein Kreuz, eine Ikone, eine Muschel oder ein Stein können als visueller Fokus dienen und Zeichen sein für die Güte, Kreativität und Gegenwart Gottes, die durch die Kerze versinnbildlicht wird.

Auf dem Weg der Erneuerung

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