Читать книгу Sommer des Zorns - Roberta C. Keil - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеUnerträglich war der Schmerz, der durch mein Herz zog, jedes Mal wenn ich an ihn dachte. Frank.
Ich lag seit Stunden im Gras und starrte in den Himmel. Die Wolken zogen durch das Blau der Unendlichkeit und ich versuchte, Figuren in ihnen zu erkennen. Wie wir es früher schon getan hatten. Ständig in Bewegung, wechselten die Bilder in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Während der Hund, der Männchen machte, im Nu zu einem feuerspeienden Drachen wurde, löste sich der behäbige, dunklere Elefant nur langsam in seine Bestandteile auf und entwickelte sich zu einer formlosen Wolkenmasse. Die Bilder linderten den Schmerz, der wie ein Stein in meinem Magen lag und in den Rest meines Seins strahlte.
Ein Grashalm kitzelte mich am Ohr. Ich liebte diese Wiese, kurz bevor sie gemäht wurde. Nächste Woche würde Aiden den ersten Schnitt durchführen. Und jetzt nahm ich das leise Säuseln des Windes wahr. Ich drehte mich auf den Bauch und stützte den Kopf in meine Hände, die Gräser beobachtend, die sich im leichten Sommerwind geschmeidig wiegten. Jedes war anders und doch bildeten sie eine harmonische Oberfläche, die weich wirkte. Weich und rund, wie ein Meer aus Samt, in dem ich jetzt gerne versinken mochte.
Am Horizont, dort wo der Himmel die Berge berührte, bauten sich dunkle Quellwolken auf, die Vorreiter eines heftigen Gewitters. Das hatte der Wetterdienst bereits am Morgen angekündigt und die fast nachtschwarze Wolkenwand hinter den in unterschiedlichen Grautönen leuchtenden Kumuluswolken, bestätigten mir den Wetterbericht. Es würde gleich ein Unwetter geben. Die jungen Felder mussten in den letzten Wochen bewässert werden, um nicht zu verdorren. Und unsere Zisternen warteten dringend darauf, aufgefüllt zu werden. Ebenso drohten die Sommerweiden der Rinder und Pferde auszudörren. Das Gras nahm langsam die bräunliche Farbe des Bodens an. Die Sehnsucht nach Regen war mit jeder Faser spürbar.
Mein Blick verweilte an den aufgebauschten Wolkenformationen. Sie waren auch damals dort erschienen, als ich Frank das erste Mal hierherbrachte.
Ich zeigte ihm die riesige Ranch und spürte wie ich in seinem Ansehen stieg. Mein Großvater und mein Vater hatten sie aufgebaut. Mit unermüdlich harter Arbeit hatten sie ein Paradies geschaffen, und ihrer Familie Wohlstand beschert. Und ich arbeitete mit solange ich denken konnte. Eines Tages würde mir Diamond Valley allein gehören. Und fortan nannte mich Frank „seine Prinzessin“.
Damals, bei seinem ersten Besuch ritt ich mit ihm in einen entlegenen Teil unseres Besitzes, als diese Wolken am Horizont erschienen und ein heftiges Unwetter ankündigten. Er, der in Texas aufgewachsen war, kannte sich mit den Wolken hier nicht aus. Es überraschte ihn, schon nur eine halbe Stunde später vor dem starken Regen Schutz suchen zu müssen.
Dafür hatten wir überall auf unserer Ranch diese kleinen Schutzhütten eingerichtet, die mit den notwendigsten Dingen ausgestattet waren. Sie machten es möglich, notfalls auch für Tage in einem Unwetter Schutz und Unterkunft zu bekommen. Von diesem Wetter beeindruckt, nahm Frank brav auf der alten Holzbank vor dem Fenster Platz und sah dabei zu, wie der Regen einen undurchdringlichen Schleier über das Land legte.
Erst später, als es mir gelungen war, ihn davon zu überzeugen, dass mein Vater uns nicht überraschen würde, liebten wir uns in dem kleinen Hinterzimmer, das nur mit einem großen Doppelbett ausgestattet war.
Nur zwei Jahre danach hielt Frank Hoover, der wie ich Agrar- und Wirtschaftswissenschaften studierte, um meine Hand an. Im folgenden Sommer heirateten wir und er zog in das große weiße Ranchhaus ein, das jetzt vor dem schwarzen Unwetterhimmel wie eine weiße Perle leuchtete.
Ich erhob mich, die Erinnerungen abschüttelnd, wie die ersten Regentropfen, die ich im Nacken spürte. Die Regenschwaden am Horizont würden mich in wenigen Minuten erreichen. Ich beeilte mich, um das Haus trocken zu erreichen.
„Wo warst du?“, fragte Jack in strengem Tonfall, als ich ihm im Wohnzimmer begegnete. „Ich habe nach dir gerufen und keine Antwort erhalten.“
„Ich war draußen.“
Er quittierte meine Antwort mit einem Brummen. Mein Vater, der große Jack Springfield, mochte es nicht, wenn er nichtssagende Antworten erhielt. Doch er hatte einsehen müssen, dass ich erwachsen war. Ich musste vor ihm keine Rechenschaft ablegen. Manchmal wusste ich selbst nicht, was ich tat.
Wie heute. Den ganzen Nachmittag hatte ich darauf verwendet, auf der Wiese zu liegen, in den Himmel zu träumen und die Vergangenheit zu zelebrieren. Frank.
In dem ersten Jahr nach seinem Tod war ich fast vor Trauer vergangen. Auf der Ranch arbeitete ich nicht mit und sie hätte nicht bestehen können, wäre Jack, den ich nur selten Vater oder Dad nannte, nicht in seinem Alter noch so rüstig gewesen. Er und Aiden schafften es gemeinsam, den Ranchbetrieb aufrecht zu erhalten. So hatte sie meine Unfähigkeit mitzuarbeiten verkraftet.
Eines Tages suchte Jack mich in meinem Zimmer auf und sah mich lange an.
„Ich denke, du hast nun genug geweint, Jacklyn! Es ist an der Zeit, dein Leben wieder in die Hand zu nehmen. Und wenn du das nicht schaffst, müssen wir darüber nachdenken, ob wir die Ranch nicht direkt an Aiden verkaufen, denn ich schaffe das nicht mehr allein. Es wäre wirklich angebracht, du würdest dich jetzt zusammenreißen. Ehrlich!“
Diamond Valley an Aiden abzutreten, war ein Gedanke, der mich um Fassung ringen ließ. Das würde nicht passieren. Nicht, weil ich Aiden nicht gönnte, Besitzer einer Ranch zu werden, aber diese Ranch gehörte doch mir. Ich war Diamond Valley! Nicht Aiden. Jacks Argumentation brachte mich zur Besinnung und ich verbrachte den Rest der Nacht trauernd und fasste den Beschluss, nun der Trauer ein Ende zu setzen.
Am nächsten Morgen fuhr ich nach Prescott und änderte auf dem Amt meinen Namen. Ich besann mich auf meine Wurzeln, kehrte zu ihnen zurück. Diamond Valley hatte schon immer den Springfields gehört und nicht einem Fremden aus Texas, dessen Namen ich bei unserer Eheschließung angenommen hatte.
Als die Arbeiter sich zum zweiten Frühstück trafen, verkündete ich meine Rückkehr ins Ranchgeschehen als Jacklyn Springfield. Unsere Mitarbeiter fassten das wohlwollend auf. Aiden lächelte zu meiner Ankündigung. Ich wusste, seine Freude war ehrlich.
Unsere Cowboys respektierten Jacks Entscheidung, Frank zu seiner rechten Hand zu erklären, aber er stammte nicht von hier. Jack hatte Franks Qualitäten schon erkannt, als er das erste Mal auf die Ranch kam. Und es freute ihn zu sehen, wie glücklich ich mit ihm war. Unsere Leute, einschließlich Aiden hatten mit dem gleichen Respekt und Arbeitseifer für Frank gearbeitet, wie zuvor für Jack allein. Dennoch blieb er ein Fremder, der in unsere Welt eindrang. Doch das wusste ich erst heute. Damals genoss er meine volle Bewunderung.
Ich übernahm während meiner Ehe immer mehr die Rolle meines Vaters, der sich langsam aus dem Geschäftsleben zurückziehen wollte. Das gelang ihm in den letzten fünf Jahren fast vollständig. Bis zu dem Ereignis, welches ich immer noch als ein Unglück bezeichnete. Doch es gab Menschen, die unterstellten mir eine gewisse Mitschuld an Franks Unfall.
Ich starrte aus dem Fenster, Richtung Osten, und war froh, dass Jack und sein Vater, der ebenfalls Jack hieß, unser Haus mit dieser überdachten Loggia ausgestattet hatten. Sie verschaffte uns Schutz vor dem Regen für unsere Fenster.
In feinen Streifen peitschte der Regen übers Land. Und ich wusste, die Rinder suchten jetzt Schutz bei den Unterständen. Oder unter den Bäumen, die in kleinen Gruppen überall auf den Weiden standen. Gaben sie bei Hitze Schatten und Schutz vor der sengenden Sonne, schützten sie jetzt vor dem Regen und Sturm. Als Kind hatte ich mir Sorgen um die Tiere gemacht, wenn es ein Unwetter gab. Und einmal zog Großvater Jack mir Regenkleidung an, nahm mich bei der Hand und brachte mich nach draußen auf eine der Weiden in der Nähe des Hauses. Als ich dort sah, wie die Tiere dichtgedrängt unter einem Unterstand aus Holz Schutz gefunden hatten, ging es mir besser. Ich lernte zu der Zeit schon viel über die Tiere und die Bewirtschaftung unserer Ranch. Es war eher mein Großvater gewesen, der mich mitnahm und mir zeigte, was wichtig war. Er erklärte mir, was ich wissen musste, um später die Ranch leiten zu können. Diese Dinge speicherte ich alle in meinem Kopf. Als ich dann mein Studium in Chicago begann, war mir vieles schon aus der Praxis bekannt. Und die zugehörige Theorie zu lernen, fiel mir nicht schwer.
Dort lernte ich Frank kennen. Er hielt mich wohl für ein Mädchen, das zwar auf dem Land aufgewachsen war, aber Traktoren nur vom Ansehen her kannte. Einmal fragte er mich, was ich nach meinem Studium mit meinem Wissen anfangen und wo ich es einsetzen würde. Ich lächelte nur und sagte ihm, ich träume von einer Ranch in Arizona. Sicher vergaß ich dabei zu erwähnen, dass es diese Ranch längst gab. Und er nahm an, ich wolle dazu erst ein Stück Land kaufen. Ach, mein lieber Frank. Wir hatten danach einfach nicht mehr darüber gesprochen. Bis zu diesem Tag, als er mich das erste Mal zu Hause besuchte.
„Endlich ist der Regen da! Wurde auch Zeit!“ Mit seinen Worten holte Jack mich in die Gegenwart zurück. Ich wandte mich nicht zu ihm um, weil er sich auch so meiner Aufmerksamkeit bewusst war.
„Hoffentlich zerstört er nicht den jungen Weizen.“
Die Saat war gerade erst zart gewachsen und wir hatten es vor zwei Jahren erleben müssen, als in dem Sommer, in dem Frank starb, ein Unwetter mit Sturm und Starkregen, fast ein Drittel unserer Ernte zerstörte.
Jack trat neben mich, schüttelte bedächtig den Kopf und nahm einen Zug aus seiner Pfeife. Ich liebte den süßlichen Geruch seines Tabaks. Erinnerte er mich an meine Kindheit. Die langen Winterabende, die wir am Kamin verbrachten und Großvaters Geschichten lauschten, Jack Junior mit einem Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte und ich mit großen Augen, die ich oft mühsam offen hielt, damit niemand merkte, wie müde ich war.
„Ich denke, so schlimm wird es dieses Mal nicht werden. Kannst du morgen früh zur Bank fahren?“
„Was gibt es zu erledigen?“ Meine Buchhaltungs-angelegenheiten waren vollständig durchgeführt.
„Ich habe da noch eine Rechnung offen. Aber das ist ein Spezialfall. Vielleicht sollte ich das doch lieber selbst klären.“
Er sog nachdenklich an seiner Pfeife und ich legte meine Stirn in Falten. Rechnungen, von denen ich nichts wusste, warfen Fragen bei mir auf. Aber wenn Jack nicht mehr dazu sagen wollte, würde er mir die Antwort schuldig bleiben. Also fragte ich nicht nach.
Ich hörte, wie sich die Haustür öffnete und schloss, erkannte Aiden am Schritt. So vertraut, wie mir auch seine ständige Anwesenheit war.
„Halleluja, es regnet. Und das nicht mal zu knapp!“
Er lachte und schüttelte die Regentropfen aus seinem langen schwarzen Haar.
„Ja, das alljährliche Aprilunwetter. Sind die Rohre zu den Zisternen in Ordnung?“
„Ja, Sir! Das haben wir letzte Woche alles überprüft.“
Jack nickte wohlwollend. Aiden war unser zuverlässigster Mitarbeiter. Er hatte immer den Blick für das Ganze und arbeitete mit viel Voraussicht. Wir schätzten das sehr.
„Sehr schön, mein Junge. Sehr schön.“
„Jacky, fährst du morgen in die Stadt?“
„Ja!“ „Ich fahre!“
Jack sprach es gleichzeitig mit mir aus. Mein Blick ruhte auf ihm. Warum wollte er diese Angelegenheit unbedingt selbst erledigen? Ich gab mich geschlagen und deutete mit der offenen Hand auf Jack.
„Er fährt!“
„Wir brauchen noch Dachrinnenmaterial. In der Personalunterkunft ist eine Rinne undicht und wir sollten Ersatzmaterial auf Lager legen.“
Jack plante einen Besuch bei Farmers Grocers ein, um das Material zu beschaffen.
Aiden sah mich an.
„Jacky, kontrollierst du dann morgen mit mir die Weiden?“
Ich nickte leicht. Mit Aiden die Weiden zu überprüfen, war eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Wir waren gemeinsam hier aufgewachsen.
Seine Mutter Waleah, eine Indianerin, arbeitete schon früh für meinen Vater im Haushalt und Aidens Vater Michael, ein Ire, war schon bei meinem Großvater Cowboy gewesen. Aiden hatte das indianische Aussehen seiner Mutter geerbt und sie hatte ihm sehr viel über ihre Kultur vermittelt. Von seiner irischen Abstammung waren seine Fähigkeiten als Cowboy und Vorarbeiter übriggeblieben. Wer ihn nicht kannte, zählte ihn eher zu den Indianern, als seine irische Abstammung zu vermuten, da er sein pechschwarzes Haar lang trug, mit Stolz auf seinen Ursprung.
Waleah trug jetzt das Abendessen auf. Ich ging ihr dabei zur Hand. Es hatte sich seit Ewigkeiten eingebürgert, dass wir gemeinsam mit Waleah und Aiden unser Essen einnahmen. Und waren auf diese Art ein Stück zur Familie zusammengewachsen.
Aiden setzte sich auf den Platz mir gegenüber. Er war ein stiller Typ, der als Kind für jeden Streich zu haben war. Sein Einfallsreichtum kannte keine Grenzen. Mit dem Erwachsenwerden lehrte seine Mutter ihn die Vernunft. In ihrer Kultur war es wichtig, dass die jungen Männer mit zunehmender Reife auch lernten, weise Entscheidungen zu treffen. Aiden verfügte schon früh über ein Verantwortungsbewusstsein, das seinesgleichen suchen musste. Der Tod seines Vaters verwandelte ihn in einen ernsten jungen Mann, der sich selbst sehr gut kontrollieren konnte. Trotz allem verhielt er sich immer freundlich und gut gelaunt. Dass er mich mitnahm, um die Weiden zu kontrollieren, hatte den Sinn, mich von meinen deprimierenden Gedanken um Franks Tod abzuhalten. Jedenfalls vermutete ich das. Er hätte diese Arbeit auch mit jedem unserer Cowboys durchführen können.
Das erste Mal bat er mich um meine Begleitung, kurz nachdem der Unfall geschehen war. Damals folgte ich ihm wie ein Geist, ohne im Entferntesten etwas zu meiner Aufgabe beizusteuern. Ich sah nur die Orte, an denen ich mit Frank gewesen war und versuchte, mich an unsere Erlebnisse zu erinnern.
Aber Aiden schwieg zu meiner Untätigkeit. Seine Mutter hatte ihm viel über den Tod erklärt, als Michael starb. Damals hatten wir oft am Fluss gesessen und er hatte mir von diesen Dingen erzählt. Waleahs Ansichten über den Tod wichen stark von meinen ab. Sie war als Tochter eines Schamanen aufgewachsen, während mein Großvater mich christlich erzogen hatte, noch heute besuchten Jack und ich manchmal den Gottesdienst der Baptistenkirche in der Stadt.
Wenn wir Zäune kontrollierten sprach Aiden manchmal davon, was seine Mutter ihm vermittelt hatte. Ich schwieg dazu, diskutierte unsere Unterschiede nicht aus. Doch seine Stimme zu hören, war wie ein Streicheln meiner verletzten Seele. Weich und ruhig flossen die Worte dahin, und sein dunkler Tonfall brannte sich in mein Herz.
Es machte für mich keinen Unterschied, wo Frank jetzt nach seinem Tod verweilte, er war gegangen und somit nicht mehr bei mir. Und wie ich damit leben sollte, schien mir damals ein unlösbares Problem.
Ich fragte mich, ob der Schmerz darüber abends allein im Bett zu liegen jemals aufhören würde? Ich konnte mir kaum vorstellen, jemandem zu begegnen, der diese Lücke wieder füllte. Diesen Menschen gab es nicht, da war ich sicher. Frank fehlte mir so sehr. Es gab keine Stunde, in der ich nicht etwas bemerkte, was ich jetzt mit ihm besprochen oder getan hätte. Ich sehnte mich nach seinen Berührungen, seinen zärtlichen Worten und den Spielereien, die wir beide so geliebt hatten. Ja, ich vermisste ihn an jedem Tag mehrere hundert Male. Und dafür fand ich keine Lösung. Nur Tränen. Lange Zeit.
„Du isst nicht viel, Kind!“ Waleah unterbrach meine Gedankengänge. Jack und Aiden sprachen über die Ernte. Ich hatte ihnen nicht zugehört. Jetzt schaute ich Waleah an und rang mir ein Lächeln ab. Ich hatte kaum Hunger.
Stattdessen merkte ich, wie die Trauer immer mehr Raum in mir gewann. Und so traf ich meine Entscheidung, die ich häufig dann traf, wenn ich so empfand.
„Ich muss noch weg.“ Ich erhob mich und gab Jack einen versöhnlichen Kuss auf die Wange, verließ den Esstisch, ohne abzuwarten, ob er wissen wollte, wo ich hingehen würde.
In meinem Bad duschte ich, schminkte mich, steckte mir die Haare hoch, ging in mein Zimmer und zog mir die Kleidung an, die ich gerne an solchen Abenden trug.
Ich prüfte mein Aussehen in dem großen Standspiegel. Wenn ich mein blondes Haar hochsteckte, sah man die Locken besser, als wenn ich es offen trug. Ein prüfender Blick glitt über meine Figur. Die Arbeit hielt mich schlank. So konnte ich auf Diäten verzichten, um keinen Speck anzusetzen. Ich drehte mich etwas. Der schwarze Minirock saß wie angegossen, betonte meine Rundungen. Und die helle Westernbluse betonte die Rundungen meines Oberkörpers und meine schlanke Taille. Was ich sah, gefiel mir. Dennoch achtete ich darauf, nicht zu aufreizend gekleidet zu sein. Ich wollte nicht wirken, als wolle ich meinen Körper vermarkten. Nur die wichtigsten Stellen etwas betonen. Ich blieb an meinen blauen Augen hängen. Frank nannte sie immer Planeten. Ein Erbe meiner Mutter, vermutete ich. Jacks Augen waren grau und schmal. Mein Blick riss sich von mir selbst los und fiel auf die kleine weiße Tänzerin der Schmuckschatulle mit Spieluhr, die auf der Kommode neben dem Spiegel stand. Ich liebte diese Dose und griff nach ihr. Sie wog schwer in meiner Hand, gefüllt mit Erinnerungen an meine Kindheit. Verwaschene Erinnerungen, nicht ganz klar. Durch meine Berührung wurde ein Zahnrad in ihrem Inneren in Gang gesetzt und die letzten, zögernden Töne von Greensleeves, der irischen Volksweise, erklangen. Waleahs Stimme erklang in meinem Kopf, wie sie glockenhell dieses Lied sang, während sie im Garten arbeitete. Ich drehte den kleinen Schlüssel, zog das Spielwerk auf und stellte sie auf die Kommode neben dem Spiegel an ihren Platz und nahm den Finger von dem Schlüssel. Die Töne der Melodie reihten sich aneinander. Ich hörte das Lachen von Kindern und Tränen traten mir in die Augen. Als ich den Deckel öffnete, auf dem die Tänzerin brav ihre Runden drehte, fand ich den kleinen Ring mit dem rosa Herzsteinchen, der als einziges Schmuckstück in der Dose lag. Ich hatte oft versucht, die Buchstaben zu entziffern, die in den Ring eingeprägt waren. Der erste war ein großes ‚M‘, danach war eine Lücke und ein ‚Y‘ konnte ich noch erkennen. Mehr nicht. Ich steckte ihn mir an den kleinen Finger, schob ihn bis zum ersten Gelenk. Für mehr war er zu klein. Dann legte ich ihn wieder zurück, schloss den Deckel und sah der Tänzerin zu, bis sie ihren Tanz immer langsamer werdend beendete. Die Töne verklangen. Eines Tages würde ich mir die Zeit nehmen und mit einer Lupe versuchen, die Buchstaben in dem Ring zu entziffern. Den Gedanken hatte ich schon oft gefasst, aber immer kam etwas dazwischen und es geriet in Vergessenheit. Nach einem letzten Blick in den Spiegel, der letzten Versicherung, nicht zu aufreizend gekleidet zu sein, verließ ich mit dem Autoschlüssel in der Hand mein Zimmer.
Der Regen hatte nachgelassen, als ich mein rotes Chrysler Cabrio aus der Scheune fuhr und das Dach schloss. Im Rückspiegel entdeckte ich Aiden, der mit verschränkten Armen in der Tür zum Pferdestall stand und in meine Richtung sah. Sein Gesicht war ernst. Was bewegte meinen Freund, der für mich mehr wie ein Bruder war, solange, wie ich ihn schon kannte? Ich fuhr los, wischte Aidens Blick aus meinen Gedanken fort.
Die umliegenden Städte Prescott, Sedona oder Flagstaff lagen mir zu nahe an der Ranch. Zu viele Menschen kannten mich dort. Mir stand der Sinn nach Tanzen, vielleicht auch nach etwas mehr, wenn es sich ergab. Das wollte ich nicht mit den Menschen meines Umfeldes teilen, die in mir immer noch die trauernde Witwe sahen. Also fuhr ich direkt auf die Interstate 17 in Richtung Phoenix und erreichte nach über einer Stunde Fahrt die Großstadt. In der 7th Avenue parkte ich meinen Wagen auf dem Parkplatz der Bluesbar „Char’s has the blues“. Ihr Ruf, einen Hauch von Chicago nach Phoenix zu bringen, hielt, was er versprach. Ich erinnerte mich gerne an Chicago und liebte die Atmosphäre in dieser Bar. Auch hier in Phoenix regnete es und das ließ den Abend noch dunkler erscheinen, als er es gemeinhin um acht Uhr abends war.
Ein Mann, der sicher die Fünfzig schon überschritten hatte, erreichte gleichzeitig mit mir die Tür und öffnete sie, um mich mit einer galanten Handbewegung zuerst hereinzubitten. Ich lächelte ihn dankbar an, wandte mich aber im Inneren der Bar möglichst schnell von ihm ab, damit er nicht auf falsche Gedanken kam. Älteren Herren gewährte ich höchstens einen Tanz. Und im Übrigen suchte ich nach Männern, die kaum älter als ich waren. Nach einem kurzen Blick zur Orientierung ließ ich mich auf einem leeren Hocker an der Bar nieder. Rick, der Barkeeper zögerte nicht lang und stellte mir meinen obligatorischen „Sex on the Beach“ auf den Tresen.
„Guten Abend, Miss King.“
Ich lächelte dankbar, als er mich mit meinen Decknamen ansprach, und nahm einen kleinen Schluck durch den Strohhalm.
Hier konnte ich meine Erinnerungen und den Schmerz für kurze Zeit hinter mir lassen und die therapeutischen Qualitäten der Atmosphäre dieser Bar genießen. Die Musik, nach der getanzt wurde, das Stimmengewirr, die Gerüche von vielen Menschen, Parfüm, Rasierwasser, Rauch und Alkohol. Und die Fröhlichkeit, die nun auch bei mir überhand gewann. Des Lebens Leichtigkeit gaukelten die Menschen sich hier vor, jeder schien etwas finden zu wollen. Abwechslung oder Vergessen.
Ich lächelte und wandte ich mich dem Raum zu, meine typische Haltung einnehmend. Ich war eine gelangweilte junge Frau, allein hier und wollte mich amüsieren. Oft genug hatte ich diese Position vor dem Spiegel geübt. Seitlich mit einem Arm auf dem Tresen aufgestützt, mein hübschestes Lächeln aufgesetzt. Der andere Arm lag locker auf meinem Oberschenkel und schlug sanft den Takt der Musik mit. Den einen meiner mit Ankleboots beschuhten Füße auf dem Boden verankert, den anderen lässig auf der Fußleiste des Hockers abgestellt.
So beobachtete ich die Szene, mich ab und zu meinem Cocktail zuwendend. Ich erspähte einen Mann, der mir gefiel und flirtete ihn zaghaft an. Nur mit Blicken, die von ihm soeben erhascht werden sollten. Ich hatte gut geprüft, ob er auch wirklich allein da war. Männer in einer Gruppe ließ ich aus. Sie bargen zu viele Gefahren. Und in weiblicher Begleitung waren sie tabu.
Er reagierte auf meinen Blick und kam jetzt langsam zu mir herüber. Seine Augen ruhten abschätzend auf mir und ich spürte dieses nervöse Kribbeln im Bauch. Er war groß und schlank, trug eine zerrissene Dieseljeans und ein schwarzes Hemd mit aufwendiger Stickerei auf seiner Brust. Seine Haare glänzten schwarz wie die Nacht und seine dunkelbraunen Augen fesselten meine. Ich nahm ihn in die engere Wahl und wandte mich kurz meinem Drink zu. Dann erhaschte ich den Anschluss an seinen Blick.
„Ma‘am!“ Er nickte mir kurz grüßend zu und setzte sich auf den Hocker neben mir, der gerade passend frei geworden war. Der tiefe Klang seiner Stimme ging mir unter die Haut.
„Noch ein Bier, bitte.“
„Gerne, Mister.“
Rick reichte dem Mann sein Bier.
„Mein Name ist David. Und Sie scheinen Langeweile zu haben.“ Er hob sein Glas kurz grüßend in meine Richtung.
Ich schenkte ihm ein Lächeln und hob mein Glas ebenfalls, um mit ihm anzustoßen.
„Nun, gerade scheint sich das Blatt für mich zu wenden.“
Er trank einen Schluck und ließ die Zunge über seine schmalen Lippen gleiten, um den Schaum zu entfernen.
„Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht“, er stellte sein Glas auf den Tresen, „aber ich könnte mir vorstellen, Sie auf die Tanzfläche zu entführen.“
Sein Lächeln war charmant. Ich prüfte seine Körpersprache. Feine, filigrane Hände, die gerade und schlank waren, die Finger nicht zu lang und sehr gepflegt. Seine entspannte Haltung spiegelte wider, dass er nichts zu verbergen hatte. Sein war Blick offen. Und seine Augen lächelten mit.
„Gern“, antworte ich deshalb und stellte ebenfalls mein Glas weg.
Die Hand, die er mir reichte fühlte sich warm und weich an. Sein Händedruck war fest, aber nicht zu fest oder gar besitzergreifend, und er führte mich auf das Parkett, schloss mich leicht in seine Arme. Auch dieses Mal nur so fest, wie es für den Tanz notwendig war. Er ging es langsam an. Das gefiel mir.
Genauso hatte es Frank damals bei unserer ersten Begegnung gemacht. In der Studentenbar verbrachte ich mit einigen Kommilitonen einen gemütlichen Abend, als er eintrat. Ich sah ihn und unsere Blicke begegneten sich. Seine Augen wanderten erst weiter, kehrten dann zurück zu mir und wir lächelten uns an. Dann war er auf mich zugekommen und reichte mir die Hand. Genauso wie David heute Abend. Ich konzentrierte mich wieder auf seine braunen Augen. Sie waren so sanft und tiefgründig.
„Was macht ein Mädchen wie du in solch einer Bar?“
Ich lachte nur.
„Willst du dich amüsieren? – Oder suchst du etwas Ernsthaftes?“
Mein Blick wurde bewusst ernst.
„Hey, Cowboy, das Leben ist ernsthaft genug. – Ich bin nur auf der Suche nach etwas Abwechslung von der Langeweile meiner Ranch.“
Er schmunzelte und nickte.
„Okay, Cowgirl, ich habe verstanden.“ Er zog mich jetzt etwas fester an sich. Und ich ließ es zu.
Wir tanzten fast den ganzen Abend, fanden einen gemeinsamen Rhythmus, schwammen auf den Klängen von Eric Clapton und Earl Hooker. Ich erfuhr, er kam aus Chicago und besuchte Phoenix geschäftlich. Zu Hause wartete niemand auf ihn und deswegen war er noch eine Nacht länger hiergeblieben. Sein Hotel…
Ich küsste ihn. Kurz. Brachte ihn damit zum Schweigen. Zumindest für eine halbe Minute. Das hatte ich mich damals bei Frank noch nicht getraut. Mir fehlte einfach die Erfahrung. Ich lauschte seiner angenehm weichen Stimme und ließ mich von ihr durch den Abend tragen. Wir sahen uns am nächsten Tag in einer Vorlesung über die ökologische Bewirtschaftung von Feldern in trockenen Regionen wieder. Ich hielt es für einen Hinweis des Schicksals, als er sich, ein paar Minuten zu spät, auf den Sitz neben mir gleiten ließ und mich anlächelte. Zuerst nur freundlich und dann freudig erstaunt.
Jetzt war ich erstaunt, wie weich und gefällig Davids Lippen waren. Wie leicht sie auf mich eingingen, erwartet hatten, was ich tat.
„Okay, ich habe verstanden!“, sagte er dicht an meinem Ohr und jagte mir einen Schauer über den Rücken. Mein Blick tauchte in den dunklen Samt seiner Augen ein. „Du willst dich nur amüsieren.“, sagte er dann leise und zog mich fester an sich. Ich hatte ihm ein Signal gegeben und er ging darauf ein. Ein warmes Gefühl durchflutete mich. Das war es, was ich haben wollte. Diese Wärme, diese Nähe eines attraktiven Mannes spüren. Etwas, was mir sehr fehlte, seit Frank… - Nein! Nur nicht mehr an Frank denken, jetzt. Ich konzentrierte mich auf die braunen Augen, die im Moment versuchten, meine zu ergründen. Dunkel und unergründlich erschienen sie mir. Ich blendete die Vergangenheit aus und küsste ihn noch einmal, während wir uns in einen engen Blues fallen ließen.
„Lass uns gehen!“ Er forderte nach einer Weile und seine Stimme klang rau. Ich senkte den Kopf und sah ihn von unten herauf an.
„Sicher?“
Er nickte. „Absolut sicher!“
Sein Hotel befand sich in der Nähe. Auf dem Weg dorthin nutzten wir jede Nische der Häuserfluchten, um wilde Küsse auszutauschen. Sie ließen nur schwach erahnen, was uns erwartete.
David öffnete seine Zimmertür und kaum hatte sie sich hinter uns geschlossen, begann er fast schon hektisch, mich zu entkleiden.
„Stopp, mein Lieber!“ Ich fasste seine Handgelenke und schob ihn etwas zurück. „Ich mag es, wenn wir es langsam angehen.“
Er holte tief Luft und warf einen verzweifelten Blick zur Decke, bevor das Lächeln in sein Gesicht zurückkehrte. Dann küsste er meine Hände.
„Okay, Baby, entschuldige bitte, aber du bist so heiß, dass ich glatt meinen Anstand vergessen habe.“
Ich lächelte ihn an. „Schon okay. Lass mich für einen Moment ins Bad, ja?“
Wenn er jetzt keine Abwechslung bekam, war mein Abend in zehn Minuten zu Ende und danach stand mir nicht der Sinn. Ich küsste ihn zur Entschädigung und schubste ihn dann sanft weg und begab mich in das kleine Bad und schloss die Tür hinter mir.
Innen atmete ich erst tief durch. Mein Blick begegnete mir im Spiegel. Ich wich ihm nicht aus. Ich konnte mir noch in die Augen schauen, auch wenn das, was ich hier gerade tat, vielleicht verwerflich war. Zumindest würde mein Vater das so bezeichnen, wenn er es wüsste. Aber ich musste für einen Moment lang das Gefühl haben, zu leben, begehrenswert zu sein. Eine Anerkennung, die ich auf der Ranch nicht bekam, seit Frank… Nach seinem Tod hatte ich versucht, mir diese Bestätigung durch meine Ausflüge nach Phoenix zu verschaffen. Und manchmal endete es wie heute, in diesen Hotelzimmern, mit den Davids, die die Stadt mir bot. Nicht immer, nicht jedes Mal. Aber heute.
Mit kaltem Wasser kühlte ich mir die Handgelenke. Dann kontrollierte ich mein Make-Up und hoffte, dass David sich jetzt etwas entspannt hatte. Ich öffnete an meiner Bluse einen Knopf mehr und schob meinen kurzen Stretch-Rock ein wenig höher, zog meine Boots aus. Dann verließ ich das Bad.
Er telefonierte. Er gab mir ein kurzes Zeichen, aber ich war schon dabei, meine Schuhe wieder anzuziehen. Und er verstand mein Signal sofort.
„Hörzu, wir müssen das morgen klären. Ich habe noch einen Termin und muss jetzt Schluss machen!“, erklärte er der Gegenseite.
Ich hatte die Tür schon erreicht und öffnete sie einen Spalt, als er sie von hinten wieder zudrückte.
„Hey! Du wirst doch nicht so ungeduldig sein.“ Er lehnte jetzt auch den zweiten Arm gegen die Tür und schloss mich damit zwischen ihnen ein. Sein fragender Blick traf mich. „Oder magst du nicht mehr?“
„Ich dachte, du hättest das Interesse verloren.“
Er lächelte und küsste mich leicht am Hals. Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut. Fühlte das leichte Prickeln auf meinem Körper, das sich ausbreitete, je öfter seine Lippen ihn berührten.
„Wie könnte ich bei einer so schönen Frau das Interesse verlieren? – Ich schalte mein Telefon jetzt aus. – Keine Störung mehr, okay?“
„Okay.“ Ich legte meine Arme um seinen Hals und ließ mich in einen langen Kuss fallen. Ich wollte meine Boots abstreifen. Doch er drehte mich leicht herum und stieß mich sanft Richtung Bett.
„Lass sie ruhig an. Finde ich besser!“
Er zog mich an sich. Sein Kuss war von Verlangen geprägt und er presste meinen Unterleib gegen seinen. Ich spürte seine Erregung und schloss für einen Moment die Augen, um zu genießen, wie sie sich auf meinen Körper übertrug. Ich atmete tief ein.
„Zieh mich bitte aus!“, befahl er leise. „Aber langsam!“ Seine höfliche Art gefiel mir und ich gehorchte. Langsam öffnete ich einen Knopf nach dem Anderen seines Hemdes. Ich erhaschte einen Blick auf sein Sixpack, das Tattoo auf der Brust. Ich ließ meine Finger zart darüber gleiten, malte die Schrift nach. Unsere Blicke verschlangen einander. Er küsste mich, wir ließen uns fallen. Ja, ich wollte diesen Körper, spürte seine Muskeln nach, als ich das Hemd über seine Schultern abstreifte und dabei meine Hände über seine Oberarme gleiten ließ. Ich wollte diesen Mann, jetzt!
Es dämmerte bereits, als ich mich vorsichtig aus seinen Armen befreite. Für einen Moment verweilte mein Blick an seinen gepflegten Händen. Ich dachte daran, wie sie in der Nacht weich und feinfühlig meinen Körper erforscht hatten. Leise raffte ich meine Sachen zusammen, sah die Visitenkarte auf dem Nachtschrank liegen, griff danach und schlich mich ins Bad. Lauschte kurz seinen regelmäßigen Atemzügen. Um keinen Preis der Welt wollte ich ihn wecken. Kein Abschied, keine leeren Versprechungen von einem möglichen Wiedersehen. Auch wenn mir die Nacht gefallen hatte, ich wollte ihn nicht noch einmal treffen.
Wenig später zog ich vorsichtig die Tür seines Hotelzimmers ins Schloss, hoffend, danach von innen kein Geräusch zu hören. Erst als ich auf der Straße vom kühlen Nachtwind umfangen wurde, atmete ich auf. Leichten Schrittes lief ich zum Parkplatz des ‚Char‘s‘ zurück, um nach Hause zu fahren.
David war Vergangenheit. Ich erreichte meinen Wagen.
„Hallo Schönheit!“
Vor Schreck fiel mir der Autoschlüssel aus der Hand, gerade als ich ihn ins Schloss der Fahrertür stecken wollte. Ich wandte mich langsam um. Diese Stimme kannte ich. Sie gehörte zu dem halslosen Kopf mit schütterem Haar. Zu den rötlichen Wangen, die auf einen erhöhten Blutdruck hinwiesen und den wässrigen blassblauen Augen. Dem Angestellten unserer Bank in Prescott. Ich lächelte verlegen.
„Hallo.“
„Na? Eine gute Nacht gehabt?“
„Kann ich helfen?“ Ich hatte ihn in unserer Bank nur kurz gesehen und gehofft, dass er mich nicht entdeckt hatte. An seinen Namen erinnerte ich mich gerade nicht, aber er war einer der Männer gewesen, die ich an einem dieser Abende im Char‘s getroffen hatte und abblitzen ließ. Er glich einem Frosch. Und ich hatte nicht einmal mit ihm getanzt. Warum lauerte er mir jetzt hier auf?
„Ich bin froh, dass ich dich noch mal hier treffe. Ich dachte schon, ich würde dich nie wiedersehen“, sagte er.
Ich lachte leicht.
„Ich bin immer wieder einmal hier.“
„Ja, Springfield, das weiß ich inzwischen auch.“
Das er meinen Namen kannte, traf mich! Er wusste, wer ich war! Das erschreckte mich jetzt wirklich.
„Ich weiß nicht, wovon du redest!“, sagte ich, bemüht, ihn meine Verunsicherung nicht spüren zu lassen. Ohne Erfolg.
„Es erschreckt dich wohl, erkannt worden zu sein, Lady, oder?“
„Ich weiß wirklich nicht, was meinst du?“ Ich hob jetzt meinen Schlüssel auf und hatte für einen Moment den Boden unter den Füßen wiedergewonnen. Als ich mich aufrichtete, stand er so dicht vor mir, dass ich den Alkohol des gesamten Abends in seinem Atem identifizieren konnte. Mir wurde übel.
„Du bist Jacklyn Springfield. Die Tochter von Jack Springfield und du bumst dich hier durch die Landschaft.“
Er grinste jetzt widerlich.
„Und ich weiß das!“ Sein Mund zog sich noch mehr in die Breite und er kam noch näher.
„Was willst du? Soll ich dir einen blasen, damit du es für dich behältst?“ Sarkasmus war seit geraumer Zeit mein Begleiter. Und für einen kurzen Moment ließ ich mich auf sein verbales Niveau hinab. Doch er gehörte zu den Menschen, die das nicht bemerkten.
„Kleine, damit kommst du mir nicht davon. Ich habe Großes mit dir vor. Was Jack Springfield wohl zu deinen Eskapaden hier sagen würde?“
„Wenn du nichts dagegen hast, fahre ich jetzt nach Hause.“ Ich setzte mein zauberhaftestes Lächeln auf, das ich unter diesen Umständen hervorbringen konnte und öffnete die Tür meines Wagens. Er kannte meinen Vater. Ich wollte einsteigen, wegfahren, verschwinden. Mich in Luft auflösen. Doch mit einem schnellen Stoß drückte er meine Autotür wieder zu.
„Sorry Baby, ich bin noch nicht fertig mit dir!“ Er drängte sein rechtes Knie zwischen meine Schenkel und berührte mich damit im Schritt. Ich konnte nicht weiter zurückweichen.
„Gibt es Probleme, Jacky?“
Ich atmete auf und befreite mich von diesem Mann, der durch die Ansprache Davids für einen Moment abgelenkt war und mir etwas Platz ließ. David stand hinter Ted. Ich fragte mich, wo er jetzt herkam? Es war mir egal. Er war da. Das zählte allein.
„Ich denke, Ted wollte gerade gehen. Wir haben uns lange nicht gesehen.“ Mir war der Name gerade wieder eingefallen. Ted Middleton.
„Wir sind noch nicht fertig miteinander!“, zischte Ted mir zu und zog sich zurück.
„Ich dachte, du könntest mir deine Telefonnummer geben, falls ich noch mal in die Stadt komme.“ David kam näher heran und stand jetzt unmittelbar neben Ted, musterte in abschätzend.
„Vergiss es, Junge. Sie betreibt es fast wie eine Professionelle.“ Ted lachte laut und übertrieben und mir schossen die Tränen in die Augen. Was wusste er schon. Zwei oder drei One-Night-Stands mochten es vielleicht gewesen sein, zu denen ich mich hatte hinreißen lassen. Dass er mich eine Hure nannte traf mich.
David sah mich an. „Jacky?“
„Tut mir leid. Ich bin müde und muss jetzt gehen.“
Ich stieg in meinen Wagen und fuhr weg. Ted würde schon dafür sorgen, dass David erfuhr wer und was ich war. Es interessierte mich im Augenblick nicht. Ich wollte David nicht wiedersehen, und Ted erst Recht nicht. Der Ärger, erkannt worden zu sein, beschäftigte mich. Wenn er meinem Vater berichtete, was auch immer er zu wissen glaubte, erwartete mich zu Hause eine hitzige Diskussion. Ich würde mich darauf einstellen. Ich war erwachsen und musste mich für mein Sexualleben nicht vor meinem Vater rechtfertigen. – Ich fühlte mich, als würde mein Wagen selbst den Weg durch die Stadt auf die Interstate suchen.