Читать книгу Sommer des Zorns - Roberta C. Keil - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеBeim Frühstück am nächsten Morgen schien sich Jacks Laune etwas gebessert zu haben. Aber ich wusste genau, dass die Angelegenheit mit diesem Ted Middleton nicht vergessen war. Und er würde von mir erwarten, das in Ordnung zu bringen.
Da Ted nun wusste, wo er mich in Phoenix finden konnte, musste ich mir entweder eine andere Lokalität suchen, oder meine Besuche dort einschränken. Vielleicht sollte ich mich bei diesem David melden, überlegte ich. Wenn ich mich fortan nur noch mit ihm treffen würde, und das gezielt, war die Chance gering, im Char’s von Ted aufgespürt zu werden.
David hatte mir gut gefallen. Ein grundsolider, anständiger Mann. Ich hatte seine Visitenkarte in seinem Hotelzimmer mitgenommen, ohne zu wissen warum.
Allerdings hatte ich ihn etwas abserviert, als er nach meiner Nummer fragte. Und ich wusste nicht, was Ted ihm nach meinem Verschwinden noch alles über mich erzählt hatte. Möglicherweise hatte er nun kein Interesse mehr an dem Kontakt mit mir.
„Jacky?“
Ich starrte Jack an. Er hatte wohl mit mir geredet.
„Was?“
„Du träumst vor dich hin, während wir hier wichtige Dinge besprechen. Wir müssen die Ernte organisieren. Hast du mit Henderson telefoniert, damit wir Erntehelfer von ihm bekommen?“
„Ja, das habe ich vorgestern gemacht. Er schickt zehn Männer. Ich denke, damit kommen wir aus.“
„Okay. Wenigstens verträumst du nicht jeden Tag!“
„Wann kommen die Arbeiter?“ Aiden stocherte in seinem Rührei herum, und ich sah, wie sich in Waleahs Gesicht ein Unwetter zusammenbraute.
„Ich habe sie für Anfang September auf Abruf gebucht. Wir zahlen dann nur eine Gebühr von 100 Dollar, wenn wir sie nicht ab dem ersten einsetzen. Lohn zahlen wir erst, wenn sie für uns arbeiten.“
„Das ist gut. Dann kannst du jetzt in die Planung gehen, Aiden.“
„Ich muss ins Büro.“ Ich erhob mich und räumte mein Frühstückgedeck weg. Waleah hatte Arbeit genug und freute sich, wenn man ihr ein wenig entgegen kam.
Ich respektierte sie und behandelte sie nie wie eine Angestellte. Sie war für mich zum Mutterersatz geworden, nachdem meine Mutter uns verlassen hatte. Ich war damals erst drei Jahre alt gewesen und erinnerte mich kaum noch an die Frau, die mich zur Welt brachte. Ich wusste auch nichts über sie. Und auch nicht, warum sie gegangen war. Jack hüllte sich darüber in Schweigen und mein Großvater hatte nur gesagt, als ich ihn einmal danach fragte, Menschen würden eben Entscheidungen treffen, so oder so. Ich beschloss daraufhin, nicht mehr danach zu fragen, weil ich mit dieser Antwort nichts anfangen konnte. Vielleicht hatten wir deswegen nie wieder darüber gesprochen. Es war einfach so, als hätte es diese Frau in unserem Leben nie gegeben. Waleah war für mich da. Sie kümmerte sich um mich, als ich noch klein war und Jack und sein Dad waren meine wirklichen Eltern.
Jetzt lächelte Waleah mich dankbar an, während sie ihrem Sohn einen unsanften Rippenstoß gab.
„Iss deinen Teller leer. Die Arbeit wartet.“
Aiden verschluckte sich fast an seinem Rührei und hustete. Dann legte er seine Gabel weg und rückte den Stuhl ab.
„Du hast Recht. Die Arbeit wartet.“ Er verließ mit mir zusammen das Esszimmer und gemeinsam überquerten wir den großen Hof zwischen dem Ranchhaus und den Wirtschaftsgebäuden. Auch hier draußen auf dem Hof, spürte man, wie sehr unsere Ranch für Waleah ein Zuhause bedeutete. Überall hatte sie liebevoll Blumen gesät und gepflanzt. Es sah hübsch aus und wirkte nicht so kalt und männlich, wie es mir manchmal so erschien. Natürlich hatte sie mehr Zeit in das kleine Häuschen unten am Bach investiert, in dem sie und Aiden wohnten, nachdem ihr Mann bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Mich hatte der Verlust von Michael, dem Iren, sehr viel mehr geschmerzt, als die Tatsache, dass ich ohne Mutter aufwuchs. Jedenfalls in meiner Erinnerung. Michael gehörte genauso zur Familie wie Waleah und Aiden. Auch hatte ich die Veränderung gespürt, die damals mit Aiden vorging. Seine Unbeschwertheit war fortan verflogen. Und für lange Zeit verschwand auch seine Fröhlichkeit. Waleah gelang es irgendwie, ihn über den Verlust hinwegzutrösten. Genauso, wie sie es damals bei mir geschafft hatte, als meine Mutter uns verließ. Doch daran erinnerte ich mich kaum noch. Ich hatte viel geweint und Waleah mich mit indianischen und irischen Liedern getröstet. Immer wieder sang sie für mich. Ihr lag ständig ein Lied auf den Lippen, wenn man sie bei der Arbeit antraf.
Aiden wählte jetzt den Weg zu den Stallungen. Der Hufschmied würde kommen. Einige der Reitpferde mussten neu beschlagen werden.
„Phil!“ Er winkte einen unserer Cowboys zu sich heran. „Ich möchte, dass du mir gleich hilfst, wenn der Hufschmied da ist.“
Ich lächelte mild. Aiden konnte schon bestimmend sein. Aber er blieb dabei respektvoll. Genau deshalb war er unser Vorarbeiter. Aber es gab Cowboys, die sich schwer damit taten, dass er indianischer Abstammung war. Diese Männer hatten bei uns keine Chance. Entweder, sie respektierten Aiden, oder sie nahmen ihren Hut. Jack war da sehr kompromisslos. Die Tatsache, dass es für uns vollkommen normal war, dass Aiden in seinem Bereich die Leitung inne hatte, machte auf manche der Männer Eindruck und ließ sie ihn anders bewerten. Unsere Ranch war dafür bekannt, dass die Mitarbeiter fair behandelt wurden. Egal, welche Hautfarbe sie hatten.
Ich ging in das kleine Büro, durch dessen Fenster ich den ganzen Hof überblicken konnte. Jack Senior hatte es extra so eingerichtet, damit er bei der Büroarbeit sofort jeden Ankömmling erblickte.
So konnte ich jetzt, ich hatte mich gerade an den großen Schreibtisch gesetzt, den Polizeiwagen sehen, der die Auffahrt herauffuhr. Ich erhob mich sofort wieder und wartete gespannt ab, bis der Wagen auf dem Hof stoppte und Billy, unser örtlicher Sheriff aus Camp Verde, ausstieg. Er sah sich suchend um, als Jack auch schon aus dem Wohnhaus auf den Hof trat. Ich ging ebenfalls hinüber. Vermutlich ging es mal wieder um eine Beschwerde von den im Süden an unser Grundstück grenzenden Nachbarn. Sie hatten immer irgendwelche Beschwerden gegen uns. Das änderte sich, trotz aller Bemühungen unsererseits, nie.
Billy griff grüßend an die Krempe seines Polizeihutes.
„Jacky, Jack.“
„Billy!“ Auch Jack nickte ihm zu. „Was ist es dieses Mal?“
„Ich muss mit deiner Tochter reden. Komme im Auftrag der Polizei aus Phoenix.“
Jack sah mich prüfend an. Ich zuckte die Schultern.
„Was ist denn passiert?“
„Du bist mit diesem Mann hier gesehen worden, wurde meinen Kollegen in Phoenix von Zeugen bestätigt. Vorgestern Abend in der Char’s has the blues-Bar.“
Er hielt mir ein Bild hin. Ich erschrak. Das Foto zeigte David. Es war ein typisches Foto der Gerichtsmedizin von einer Leiche, die fotografiert wurde, nachdem der Pathologe seine Arbeit an ihr erledigt hatte.
Ich nahm es zögernd in die Hand und schluckte. Durch seinen Hals zog ein sauberer Schnitt einen schwarzen Streifen.
„Ist er… ist er – tot?“ Es war mir nicht klar, warum ich danach fragte, denn das Foto war eindeutig.
„Ja, er wurde ermordet und zwar auf dem Parkplatz der Bar so gegen vier Uhr morgens. Die Überwachungskamera zeigte Fotos, auf denen dein Wagen zu sehen war, genau an der Stelle, wo der Mann lag. – Jacky, wenn er zudringlich geworden ist, und du dich nur gewehrt hast, zählt das als Notwehr. – Jeder wird dir glauben!“
„Meine Tochter hat niemanden getötet! Und um vier Uhr morgens war sie längst wieder zu Hause.“ Jack fiel ihm aufgebracht ins Wort.
Ich starrte Billy an. Man verdächtigte mich? Ich schüttelte den Kopf.
„Ich war das nicht. Als ich ihn dort verlassen habe, stand er noch aufrecht und wollte meine Telefonnummer haben.“
„Hast du sie ihm gegeben?“
„Nein, ich bin einfach losgefahren. Aber da war noch dieser andere Mann. Habt ihr den auch schon befragt?“
„Kennst du den Toten?“
„Nur seinen Vornamen. Mehr nicht. Er sagte, er heißt David. Ach ja, und das er aus Chicago kommt, hat er mir erzählt.“
Die Visitenkarte unterschlug ich.
„Ich würde mich gerne unter vier Augen mit dir unterhalten, Jacky!“
Billies Blick traf Jack von der Seite. Ich zuckte nur die Schultern.
„Ich krieg das schon hin, Dad.“
„Wir haben keine Geheimnisse!“, entgegnete er mir brüskiert.
Jack folgte uns ins Büro, wohin ich Billy mit einer Geste eingeladen hatte. Wir waren schon zusammen zur Schule gegangen. Als ich mit dem Studium begann, ging er zur Akademie und ließ sich als Police-Officer ausbilden. Vor zwei Jahren kehrte er erst nach Camp Verde zurück und nahm die Stelle als Sheriff an. Franks Unfalltod war sein erster Fall.
„Jack, bitte!“ Billy baute sich vor ihm auf. „Es geht um Details. Ich möchte Jacky nur schützen.“
Jack zog die Stirn kraus. „Vor ihrem Vater? – Was denkst du? Wir haben keine Geheimnisse, stimmt‘s Jacklyn?“
Mir war bewusst, dass Jack nun die Wahrheit über meine nächtlichen Ausflüge erfahren würde. Aber wenn nicht jetzt, wann dann? Dieser Middleton würde es so oder so dazu bringen, dass Jack erfuhr, was ich manchmal in Phoenix getan hatte. Also trat ich die Flucht nach vorn an.
„Es ist schon okay, Billy. Es stört mich nicht, wenn er dabei ist. Dann muss ich nicht alles zweimal erzählen.“
Ich setzte mein Lächeln ein und Billy gab auf. Wir gingen trotzdem ins Büro. Andere Mitarbeiter der Ranch mussten nicht wissen, um was es ging.
„Es gibt noch ein anderes Foto.“ Billy legte es auf meinen Schreibtisch. Es zeigte David und mich in Bar bei einem Kuss. „Auf seinem Rücken gab es Kratzspuren! Deine Fingerabdrücke sind in seinem Hotelzimmer. Es ist naheliegend, dass an dem Abend zwischen Euch mehr passiert ist, als das!“ Er zeigte wieder auf das Foto.
Ich zog die Schultern hoch und atmete tief durch.
„Was soll ich sagen? Touchè! Er war mir sympathisch und ich folgte seiner Einladung in sein Hotelzimmer. Meinen Wagen ließ ich auf dem Parkplatz des Char’s stehen. Als ich später nach Hause fahren wollte, lauerte mir ein anderer Mann auf. Offensichtlich hat er mich schon des Öfteren dort beobachtet. Er war verärgert, weil ich ihn mal habe abblitzen lassen. Er bedrängte mich, als David dort erschien, weil er meine Nummer haben wollte. Ich gab sie ihm nicht, sondern setzte mich in meinen Wagen und fuhr nach Haus. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“
„Wer war der andere Mann?“
„Er hieß, warte mal…“, ich tat, als würde ich überlegen müssen, „…Ted Middleton, oder so ähnlich. Er glaubte, mich erpressen zu können, weil er herausgefunden hatte, wer ich bin. Ich weiß nichts über ihn. – Doch warte, ich glaube, er arbeitet in unserer Bank in Prescott.“
Jacks Augen flackerten auf, als ich den Namen aussprach, aber nach einem kurzen Blickkontakt mit mir, schwieg er.
„Du warst also im Hotelzimmer dieses Davids?“
„Ja.“
„Und du hast keine näheren Informationen über ihn?“
„Billy, ich hatte nicht die Absicht, die Beziehung zu vertiefen.“
Er nickte und starrte noch lange auf das Bild. Billy und ich hatten mal auf einer Klassenparty getanzt und uns irgendwann auch geküsst. Ob er sich jetzt gerade daran erinnerte? Er war nicht mein Typ. Und ich nicht seiner. Wenn ich an Sally, seine Frau, dachte, musste ich schmunzeln. Sie war das Gegenteil von mir, niedlich, rundlich, häuslich. Alles Eigenschaften, die mir fehlten. Ob Sally das von Billy und mir wusste?
„Was weißt du über diesen Ted Middleton?“
„Er arbeitet bei unserer Bank in Prescott. Wir sind Kunde dort. Mehr weiß ich wirklich nicht.“
„Das mit der Erpressung kann ich bestätigen“, mischte sich Jack jetzt doch ein. „Ich hatte gestern Morgen einen Termin in dieser Bank und der Mann begegnete mir. Er machte anzügliche Bemerkungen über Jacky, als wolle er mir geheime Informationen über sie zustecken. Er benutzte Worte, die mir absolut nicht gefallen haben. Ich habe ihn aber abblitzen lassen. Meine Tochter ist erwachsen und weiß, was sie tut. Doch möglicherweise stalkt er sie.“
„Jacky, bist du sicher, dass Middleton noch auf dem Parkplatz war, als du weggefahren bist?“
„Ja, sehr sicher. – Ich hätte David nicht mit ihm allein lassen dürfen.“ Die einsame Träne, die sich jetzt einen Weg aus meinem Augenwinkel suchte und heiß meine Wangen hinunterrann, war echt. Ich hätte ihn nicht allein lassen dürfen.
„Okay. Kannst du morgen zu mir in die Station kommen und das Protokoll unterschreiben?“
Ich nickte nur.
„Gut! Darf ich dein Messer haben, Jacky?“ Er zeigte auf meinen Gürtel. Ich folgte seinem Finger mit den Augen zu meiner rechten Hüfte und sah ihn erstaunt an.
„Nur zur kriminaltechnischen Untersuchung. Wenn du nichts damit zu tun hast, hast du nichts zu befürchten und bekommst es wieder.“ Nur zögernd nahm ich das Messer aus der Lederscheide, die ich selbst als Kind zusammen mit meinem Großvater angefertigt hatte, und reichte es ihm widerwillig.
„Dann bin ich für heute hier fertig. Auf Wiedersehen Jacky, Jack!“ Er griff sich wieder an die Krempe.
„Billy! Ist Jacky damit entlastet?“
„Es gibt keinen Grund, ihr nicht zu glauben. Wenn das Messer sauber ist, bestätigt das nur ihre Unschuld. Diesen Middleton werde ich jetzt mal unter die Lupe nehmen. Macht euch keine Sorgen, Jack.“
„Danke, Billy. Lass es uns wissen, wenn es etwas Neues gibt!“
Billy hob nur noch grüßend die Hand und setzte sich in seinen Wagen. Ich beobachtete von meinem Schreibtisch aus, wie sein Auto eine Staubwolke hinter sich herzog, als er den Hügel wieder hinunterrollte.
Die Bürotür schlug jetzt krachend ins Schloss. Ich fuhr zusammen. Jack lehnte sich von innen dagegen.
„Das also treibst du in den Nächten in der Großstadt. – Du wirfst dich Männern an den Hals?“
Ich starrte immer noch aus dem Fenster, bemüht ruhig weiter zu atmen. Mit dieser Diskussion hatte ich ja gerechnet. Trotzdem erwischte sie mich kalt.
„Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig. Weder einem Ehemann, noch sonst irgendjemandem. Davon abgesehen übertreibt dieser Middelton. David war eine Ausnahme, er und ein oder zwei andere. Ich werfe mich keinem Mann an den Hals.“ Nur leise formulierte ich diese Worte. Jacks Ohren waren gut, das wusste ich. Er hatte mich verstanden.
„Ja, das stimmt! Du bist mir keine Rechenschaft schuldig, aber wenn dich dein Verhalten in Schwierigkeiten bringt, dann schon.“ Er atmete laut aus. „Hast du diesen Mann getötet, Jacky? Ist er dir zu nahegetreten?“
Ich spürte, die Hoffnung, die er hegte, mit der er mich entschuldigen konnte, einen Menschen getötet zu haben. Dennoch drehte ich mich zu ihm um und fixierte seinen Blick.
„Bist du mein Dad? Oder wer fragt mich das gerade?“
Ich war fassungslos. Mein Vater fragte mich, ob ich einen Mord begangen hatte.
„Jacky, ich lerne gerade eine Seite an dir kennen, die mir bisher unbekannt war. Ich dachte, du seiest meine Tochter. Aber meine Tochter würde sich nicht so verhalten!“
„Entschuldige bitte, dass ich einsam bin! Jack! – Deswegen bin ich trotzdem noch deine Tochter.“
Mit seinen Worten war es ihm tatsächlich gelungen, mich wütend zu machen.
„Komm endlich in der heutigen Zeit an, Jack!“
Ich drängte mich an ihm vorbei, zur Tür hinaus auf den Hof. Die Atmosphäre in unserem Büro war stickig geworden und ich brauchte frische Luft.
Im Stall fand ich einen Blecheimer, der Opfer meiner Gefühle wurde. Scheppernd flog er in die Ecke. David war ermordet worden. Gerade als ich beschloss, ihn zu mögen und mit meinem Vorsatz der einmaligen Erlebnisse zu brechen. In dieser Nacht verschwendete ich nicht einen vagen Gedanken daran, David könnte sich in Gefahr befinden. Denn einen Mord traute ich diesem Middleton nicht zu. Er war ein Stänkerer, aber auch ein Feigling.
Eine weiche Pferdeschnauze stupste mich an.
„Ich kann nicht schon wieder einen Ausflug mit dir machen. Die Arbeit im Büro erledigt sich nicht von allein.“
„Geht es dir gut?“
Es tat gut, die ruhige Stimme von Aiden zu hören. Ich nickte. Es ging mir gut, dachte ich. Ich lebte schließlich noch.
„Was wollte Billy?“
„Es gab Stress in einer Bar in Phoenix, in der ich vorgestern war. Mein Auto wurde auf dem Parkplatz gesehen. Billy wollte wissen, ob ich zu der Sache eine Aussage machen kann. Aber ich habe nichts mitbekommen.“
Ich hatte Aiden noch nie angelogen. Noch nie. Bis zu diesem Moment. Was redete ich da? Stress in der Bar…? David war ermordet worden. David.
Ich sah seine braunen Augen vor mir, sein schwarzes Haar, das nach diesem, diesem neuen Shampoo duftete, glaubte den Geruch seines Rasierwassers noch riechen zu können.
„Jacky?“
Ich starrte Aiden immer noch an. Seine braunen Augen, sein schwarzes Haar. Die weichen Gesichtszüge. Meine Hand zuckte, weil ich es berühren wollte, dieses Gesicht. Über die Wange streichen, die zarte Haut fühlen. Mit einem kurzen Kopfschütteln versuchte ich, diese Gedanken zu verdrängen. David!
„Ich muss zurück ins Büro! Die Arbeit wartet. Kraftfutter. Ich muss die Kraftfutterbestellung aufgeben.“
Es gelang mir nicht schnell genug diesen Augen zu entfliehen. Warum war mir Davids Ähnlichkeit mit ihm nicht gleich aufgefallen. Aiden trug sein Haar lang und David kurz. Aber sie waren beide hochgewachsen und muskulös. Aidens Gesichtszüge waren etwas weicher, aber sie ähnelten sich sehr.
Ich bemühte mich, ihm den restlichen Tag nicht zu begegnen. Wo auch immer er auftrat, verschwand ich. Erst beim Abendessen saßen wir uns wieder gegenüber. Hier konnte ich ihm nicht entfliehen, vermied es aber, ihn anzusehen.
„Ich habe soeben mit Billy telefoniert!“, eröffnete Jack das Gespräch. Seine Gesprächspause wartete auf ein neugieriges Nachfragen. Das blieb jedoch aus. Ich wusste, ich war unschuldig. Und Aiden starrte auf sein Essen.
„Es gibt eine Veränderung in dem Fall.“
Jetzt hob ich den Blick und sah Jack an.
„Ted Middleton ist verschwunden.“
Ich schwieg.
„Willst du nicht mehr darüber wissen?“ Sein Blick bohrte sich förmlich in meinen.
„So, wie du es sagt, klingt es, als wäre er tot.“ Waleah antwortete an meiner Stelle.
Jack starrte mich immer noch an.
„Nein, tot ist er nicht. Das heißt, man weiß es nicht. Jedenfalls ist er heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen und Billy konnte nicht mit ihm sprechen. Hast du etwas damit zu tun, Jacklyn? Wenn ich nicht wüsste, dass du die ganze Nacht zuhause gewesen wärest, könnte man annehmen, ein unbequemer Zeuge wurde beseitigt.“
Aufgebracht sprang ich auf und mein Stuhl fiel lautstark auf den Boden.
„Ich habe nichts damit zu tun, weder mit dem Mord, noch mit dem Verschwinden von diesem, diesem - Fettsack!“, presste ich hervor und stürmte aus dem Raum.
Mein Weg führte mich geradewegs zu Princess. Sie war in kürzester Zeit gesattelt und trug mich in die Prairie hinaus.
Der immer noch heiße Abendwind brachte etwas Ordnung in das Chaos meines Kopfes. Was war nur geschehen? Warum war Middleton verschwunden? Wurde er aus dem Weg geräumt? Oder war er nach dem Mord an David untergetaucht? Musste ich jetzt mit ihm rechnen?
Jack hatte Billy gegenüber von Stalking gesprochen. Man würde es mir sein Verschwinden anlasten können. Aber Jack gab mir ein Alibi. Woher nahm er die Gewissheit, dass ich die ganze Nacht in meinem Zimmer gewesen war und das Haus nicht verlassen hatte? War er zum Wächter geworden, der seine erwachsene Tochter nicht mehr aus den Augen ließ? Oder hatte ihn die Schlaflosigkeit ob meiner Aktionen und Middletons Aussagen umgetrieben? Vielleicht war er auch derjenige, der mich schützen wollte? Hatte er…? Nein! Niemals! Niemals würde Jack einen Menschen entführen oder gar töten. Das war das letzte, das er tun würde.
Mein Blick glitt über den Horizont. Die Spitzen der Berge wurden von der untergehenden Sonne in ein zartes Rosa getaucht. Die sonst weißen Kuppen der Rocky Mountains leuchteten geradezu. Das war mein liebster Anblick und ich hielt Princess an, um einen Moment lang diese Aussicht zu genießen. Die Farbe zeichnete alles weich. Ich spürte die steile Falte auf meiner Stirn. Meine Heimat war in Gefahr. Das Prickeln, das ich immer verspürt hatte, wenn ich an die Nächte in Phoenix dachte, verwandelte sich jetzt in einen unangenehmen Schmerz. Es war umgeschlagen und wurde zu einer unausgesprochenen Bedrohung.