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Lebenswertverrechnung

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Das deutsche Recht enthält keinen Paragraphen, der die Tötung künftiger Massenmörder erlaubt. Das liegt nicht nur daran, dass Wahrsagerei als unzureichende Rechtsgrundlage betrachtet und Zukunftsaussagen des Data-Mining bisher kein wissenschaftlicher Status zugestanden wird. Grund ist auch der standhafte Glaube der Deutschen an Erziehung. Gäbe es Zeitreisen in die Vergangenheit, säße in einem Mercedes nach Braunau eine Sozialarbeiterin mit einem Maßnahmenpaket, um Adolf auf die rechte Bahn zu bringen. Nicht auszuschließen, dass im Paket ein Malkurs enthalten wäre. So lange die Wissenschaft solche Zeitreisen nicht ermöglicht, muss die Justiz nicht entscheiden, ob der pädagogische Optimismus gebietet, auch beim kleinen Adolf Hitler zu bremsen.

Gleichwohl: Die Frage, ob man töten darf, um Leben zu retten, ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. In Ferdinand von Schirachs Gerichtsdrama Terror etwa sitzt das Publikum über einen Major der Bundeswehr zu Gericht, der eigenmächtig ein von einem Terroristen entführtes Passagierflugzeug abschoss. Der Major entschied quantitativ und opferte die 164 Menschen im Flugzeug, um die 70 000 Menschen in der Münchner Allianz-Arena zu schützen, in die der Terrorist die Maschine jagen wollte. Die Entscheidung, ob der Major dafür wegen mehrfachen Mordes angeklagt werden soll, wird in den 2472 internationalen Aufführungen des Theaterstücks zwischen Oktober 2015 und Januar 2020 jeweils ans Publikum, als den ‚realen‘ Schöffen in diesem Gedankenexperiment, delegiert. Die Filmversion des Stückes war am 18. Oktober 2016 das Fernsehereignis in ARD, ORF und SRF, mit Publikumsabstimmung und anschließender Hart aber fair-Talkshow.

Diese Verlagerung der Entscheidung auf die Zuschauer weist weniger auf die Ästhetik der Partizipationskultur als auf die Prinzipien der experimentellen Ethik, die mit empirischen Studien operiert, statt sich, wie die sogenannte „Lehnstuhl-Philosophie“, mit theoretischen Schlussfolgerungen zu begnügen. Nun siegt nicht mehr das bessere Argument, sondern die Mehrzahl. Zumindest lässt sich ohne diese im Rücken kaum noch argumentieren. Dass die Rechtsgelehrten gegen ihre Entmachtung zugunsten einer auf Rechtsempfinden basierenden Rechtsfindung protestieren, dass sie vor einer „Instinkt-Ethik“ warnen, war zu erwarten. Sie sind bekanntlich nicht die einzigen Experten, die im Zeitalter der Partizipationskultur an Autorität verlieren.3

Das Ergebnis jedenfalls lautet jeweils Freispruch und zeigt: Die Mehrheit der Theaterbesucher (63%) und Fernsehzuschauer (87%) denkt oder fühlt verfassungswidrig. Denn es widerspricht dem Eingangsparagraphen des Deutschen Grundgesetzes über die Unantastbarkeit der Menschenwürde, Leben gegen Leben abzuwägen und gegebenenfalls wenige unschuldige Menschen zur Rettung vieler unschuldiger Menschen zu töten. Entgegen dem moralischen Impuls der Mehrheit besagt die ethische Grundlage der deutschen Rechtsprechung, dass Menschenwürde nicht absolut geachtet werden kann, wenn sie zahlenmäßig verhandelt wird. Das heißt: Das kleinere von zwei Übeln lässt sich weder mathematisch ermitteln noch durch Diskriminierung nach Alter, Geschlecht oder kulturellen Wertmaßstäben. Das Leben von zehn Menschen ist nicht mehr wert als das von zwei und das Leben eines Greises nicht weniger als das eines Kindes.

Die Ethik des unverhandelbaren Subjekts verbietet, einen Menschen auf ein Mittel zur Rettung anderer zu reduzieren. Das hat Konsequenzen für die Organtransplantation – man darf nicht einen Gesunden opfern, um zehn Kranke zu retten – und selbst für das Verzehren Schiffsbrüchiger: Man darf nicht den Schwächsten, schon Sterbenden töten, um die eigene Überlebenschance zu erhöhen. Essen darf man den anderen nur, wenn er sich selbst dazu anbietet oder per Losverfahren zustimmt – wie in Herman Melvilles Moby Dick, Edgar Allan Poes Bericht des Arthur Gordon Pym und vielen anderen Seefahrergeschichten. Die Zustimmung erhebt das Objekt der Tötung in den Status des Subjekts, das nicht auf ein Rettungsmittel reduziert wird, sondern sich zum Retter bestimmt.

Die deutsche Verfassung bevorzugt mit dem Verbot der Instrumentalisierung des Menschen die (deontologische) Pflichten- oder Gesinnungsethik gegenüber der (konsequentialistischen) Zweck- oder Verantwortungsethik. Die Zweckethik – zu der auch der Utilitarismus gehört, prominent propagiert durch den Moralphilosophen Jeremy Bentham – blickt auf das Ergebnis und hält die Opferung der wenigen zur Rettung der vielen durchaus für vertretbar. Die Gesinnungsethik – vehement vertreten durch Benthams Zeitgenossen Immanuel Kant – blickt auf das Handeln (im vorliegenden Fall der Abschussentschluss des Majors) und bewertet die (negative) Pflicht, niemanden zu töten, höher als die (positive) Pflicht, Menschen zu retten. Das Tötungsverbot ist hier kategorisch, also unabhängig von den Umständen und Konsequenzen; der Zweck heiligt nicht die Mittel. Moralisches Verhalten ist so dem Gesetz verpflichtet und nicht dem Kollektiv, dessen höchstmögliche Lust beziehungsweise niedrigstes Leid der Utilitarismus favorisiert. Aus eben diesem Grund kassierte das Verfassungsgericht Anfang 2006 Paragraph 14 Absatz 3 des Luftsicherheitsgesetzes, das der Bundestag ein Jahr zuvor verabschiedet hatte. Begründung: Verstoß gegen die Menschenwürde. Der Paragraph erlaubte im Terrorfall als Ultima Ratio den Abschuss von Passagierflugzeugen. Das deutsche Verfassungsgericht war 2006 keineswegs so weit wie die Mehrheit des deutschen Theaterpublikums ein Jahrzehnt später.

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