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Weichensteller nach 9/11

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In der Philosophie wird das Dilemma des Tötens, um Leben zu retten, als „Trolley-Problem“ oder „Weichenstellerfall“ diskutiert: Eine Straßenbahn ist außer Kontrolle geraten und droht, fünf Personen zu überrollen. Die einzige Handlungsoption eines Zeugen neben dem Weichenhebel besteht darin, die Bahn auf ein Nebengleis umzuleiten, wo sie nur eine Person überfahren würde. Der Tötungsbeschluss, den diese Weichenstellung enthält, wird in der sogenannten Fetter-Mann-Variante explizit, in der man alternativ die Straßenbahn dadurch zum Halten bringt, dass man einen fetten Mann von der Brücke auf die Schienen stößt. Ja, philosophische Konstruktionen sind manchmal voller Grausamkeit und Humor. Denn es ist ebenso brutal, einen völlig unbeteiligten, aber hinreichend fetten Mann im Interesse der Lebensrettung in den Tod zu stürzen, wie es skurril ist, dass sein wesentlich dünnerer Gegner, der offenbar nicht genug Fett für den Rettungsakt auf die Schiene bringt, den Zweikampf gewinnt.

Dieses philosophische Gedankenexperiment wird nicht nur durch Schirachs Gerichtsdrama in die Realität nach 9/11 versetzt. Zeitgleich erfolgt dies in Gavin Hoods Film Eye in the Sky (2015), in dem es darum geht, ob man ein unschuldiges Mädchens töten darf, um per Drohnenbeschuss einen Terroranschlag in Nairobi zu verhindern. Der Terroranschlag würde mindestens 80 Menschen das Leben kosten, darunter sicher auch mehrere Mädchen gleichen Alters. Die Diskussion der Beteiligten und Verantwortlichen an ihren Bildschirmen in London und Nevada übersetzt die deontologischen und konsequentialistischen Argumente ins Anschauliche des Mediums Film, mit berührenden Bildern aus dem Leben des Mädchens und einem Wettrennen mit der Zeit, um das Mädchen vom geplanten Detonationszentrum wegzulocken. Die Rettungsversuche sind Gott sei Dank ohne Erfolg. Das Mädchen stirbt an den Folgen des Drohneneinschlags.

Gott sei Dank, weil so das ethische Problem, um das es dem Film geht, präsent bleibt. Jedes Happy End wäre Betrug am Konflikt, vor dem die Menschheit steht. Denn es wird im Kampf gegen die Terroristen nicht nur Kollateralschäden geben. Es wird auch Stimmen geben, die diese im Interesse der Gesellschaft rechtfertigen. 1 zu 80 spricht eine klare Sprache, nicht nur für die Vertreter des Utilitarismus. Auch aus Sicht der Soldaten ist – in Hoods Film ebenso wie in Schirachs Theaterstück – der Kollateralschaden in Kauf zu nehmen, um mehr Opfer zu vermeiden. Soldaten wissen, dass zivile Opfer in Gefechtssituationen unvermeidbar sind. Der Unterschied, davon lebt der Film, besteht darin, dass in Gefechtssituationen zivile Opfer passieren, während hier, im Besitz aller Daten über die Situation und ihre Folgen, wissentlich geopfert wird: mit Bild und Namen des Mädchens, das sterben muss. Bedauerlich, aber, aus Sicht der Verantwortungsethik, moralisch vertretbar.

Philosophische Gedankenexperimente lassen sich nicht auf Kompromisse ein. Das unterscheidet sie vom wahren Leben und dessen fiktionaler Darstellung. So findet man in Schirachs Drama das Argument, der Major verhindere durch den Abschuss des Flugzeugs die Möglichkeit, dass die Passagiere den Terroristen rechtzeitig überwältigen oder die Allianz-Arena rechtzeitig evakuiert wird. Spekulation auf den guten Ausgang und Unwägbarkeiten der wirklichen Schäden sind deontologische Ablenkungsmanöver, um sich vor der Entscheidung zu drücken. Worauf das Flugzeug bei von Schirach und die Drohne bei Hood zusteuern, ist die Abwägungsresistenz der Menschenwürde. Worum es geht, ist die Aktualisierung des Rechtsempfindens angesichts neuer Sachlagen.

In der Logik des Trolley-Problems gibt es das Happy End nur als Selbstopferung: wenn man selbst der fette Mann ist und freiwillig auf die Schienen springt. Schirachs Major hatte diese Möglichkeit nicht, bei Hood setzt der kenianische Antiterroragent vor Ort sein Leben für die Rettung des Mädchens aufs Spiel. Wir mögen die Chance zur Selbstopferung haben, wenn wir in einem Unfall, vor die Möglichkeit gestellt, das Auto gegen ein Kind statt viele Erwachsene zu steuern, oder umgekehrt, unbeirrt auf die Häuserwand zuhalten. Und wir werden erst dann, in unserem vielleicht letzten Moment, wissen, ob wir in der Lage waren, diese Chance zu nutzen. So jedenfalls verhielt es sich bisher. Anders wird es, wenn Algorithmen am Steuer sitzen.

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