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Terminator 7

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In der wahrscheinlich berühmtesten Fake-Werbung unserer Zeit fährt ein Auto durch eine Landschaft, die deutlich in der Vergangenheit liegt. Alle Menschen halten in der Arbeit inne und schauen mit Ehrfurcht auf etwas, das sich schließlich als ein Mercedes der Luxusklasse erweist. Kurz darauf stoppt dieser Mercedes vor zwei Mädchen, die auf der Straße spielen. Der Bremsvorgang geht offenbar auf einen Sensor zurück, der Objekte vor dem Fahrzeug wahrnimmt. Als das Auto weiterfährt, nun unterlegt mit spannungsgeladener Musik, kommt ein rennender Junge mit einem Drachen ins Bild und eine junge Frau, die ihm beim Wäscheaufhängen glücklich hinterherschaut. Das Zusammentreffen des Jungen mit dem Mercedes überrascht nicht, wohl aber der Zusammenprall. Hat der Sensor diesmal versagt?

Die Antwort kommt rasant in kleinen Stücken: Kurz vor dem Aufprall sieht man für eine Millisekunde das Bild von Hitler, dann ruft die Frau mit dem Wäschekorb erschrocken „Adolf?“, auf dem Ortseingangsschild steht „Braunau am Inn“, aus der Vogelperspektive formen sich die Glieder des überfahrenen Jungen auf der Straße zu einem Hakenkreuz, der daraufhin eingeblendete Werbesatz für Mercedes’ Bremssystem lautet: „Erkennt Gefahren, bevor sie entstehen“.2

Dieses Video aus dem Jahr 2013 hat im Frühjahr 2016 über 5 Millionen Views; mehr als 21 000 finden es gut, knapp 2 000 finden es schlecht, die rund 2 500 Kommentare verteilen sich entsprechend. Der Hinweis, dass es sich nicht um einen autorisierten Mercedes-Werbespot handelt, sondern um die Abschlussarbeit von Studenten der Filmakademie Ludwigsburg, verringert so wenig wie der Hinweis auf den fiktionalen Rahmen das philosophische Problem, das hier aufgerufen wird: Unter welchen Umständen darf man töten, um Leben zu retten?

Die Fiktion des unautorisierten Werbeclips spielt mit einem Topos der Popkultur, wenn sie den Mercedes wie einst das Skynet den Terminator in die Vergangenheit schickt, um den Beginn einer ungewollten geschichtlichen Entwicklung zu verhindern. Während Zeitreisen in die Vergangenheit freilich reine Science-Fiction sind, werden sie in die andere Richtung allmählich Teil unserer Gegenwart. Das Versprechen heißt vorhersagende Analyse, das als „predictive policing“ an vielen Orten im täglichen Polizeibetrieb bereits zum Einsatz kommt. Anders als in Steven Spielbergs Minority Report basiert das Verfahren allerdings nicht auf den hellseherischen Fähigkeiten dreier Frauen im Wasser, sondern auf extensivem Data-Mining: auf der Erstellung von Tatprofilen, Korrelationen und Wahrscheinlichkeitskurven, aus denen sich berechnen lässt, wann wo die nächste Straftat geschieht.

Werden solche statistischen Analysen mit den DNA-Werten, Video-, Lektüre- und Freundeslisten, Tagesroutinen und Bewegungsprofilen sowie mit sämtlichen Posts, Likes, Shares, Kommentaren und sonstigen kommunikativen Handlungen und Umwelteinflüssen eines Individuums gekoppelt und entsprechend hochgerechnet, lässt sich bald vielleicht tatsächlich mit großer Genauigkeit die Entwicklung eines Menschen und damit sein gesellschaftliches Gefahrenpotenzial voraussagen. Mit solchen Daten versehen hätte jeder Mercedes die Wissenschaft auf seiner Seite, der in Braunau (oder wo immer seine Familie gerade lebt) auf den jungen Adolf stößt und wider besseres Können doch nicht bremst. Genau darin liegt die ethische Herausforderung des technischen Fortschritts.

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