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8. Strophe – Toronto
ОглавлениеMusik wird sprichwörtlich dadurch erfolgreich, dass sie beim Zuhörer einen Nerv trifft, der im Resultat emotionale Gefühle wie zum Beispiel Spannung, Trauer oder Freude auslöst. Eines von Johns großen Talenten war, dass er insbesondere zusammen mit den Beatles, aber auch alleine, Musik schaffen konnte, die genau diese Anforderung für ein sehr breites Zuhörerspektrum erfüllte. Das ging sogar soweit, dass sämtliche musikalischen Experimente, die er zusammen mit Yoko durchführte, in Kauf genommen wurden, weil immer auch ein Stückchen John für das Publikum dabei abfiel. Ein gutes Beispiel dafür ist der erste Liveauftritt, den John ohne die Beatles absolvierte, und der der Welt das erste Livealbum eines Beatles überhaupt bescherte.
Im September 1969 fand im kanadischen Toronto eines der großen Rock-Festivals dieser Zeit statt. Mit einem eintägigem 12-stündigen Programm, bei dem neben Rocklegenden wie Chuck Berry, Little Richard und Jerry Lee Lewis auch Vertreter einer neuen Generation von Künstlern wie Alice Cooper und The Doors angekündigt waren, wird es gelegentlich als die kleine Schwester des Woodstock-Festivals angesehen. Leider verkauften sich die Karten bis wenige Tage vor dem Termin sehr schlecht, weshalb die Organisatoren auf die Idee kamen, bei Apple anzurufen und John und Yoko zu fragen, ob sie die Schirmherrschaft für das Festival übernehmen wollten. John sagte unter der Bedingung zu, dass er dann aber auch dort spielen wolle, was einer Sensation gleichkam, denn seit 1966 hatte kein Beatle mehr auf einer öffentlichen Bühne gestanden. Als die lokalen Radiosender darüber informiert wurden, hielten viele diese Meldung zunächst für einen Scherz und erst als die Organisatoren die Flugtickets mit den Namen der Mitglieder von Johns Plastic Ono Band öffentlich zugänglich machten, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Bis sich die Festivaltore vor dem Stadion der Universität von Toronto öffneten, waren alle 25 000 Karten innerhalb eines Nachmittags ausverkauft. John hatte kurzentschlossen Klaus Voormann, Eric Clapton und Alan White zusammengetrommelt und sie probten ein paar Stücke im Flugzeug auf dem Weg von London nach Toronto.
Das Festival ging in die Geschichte ein und es ranken und halten sich nach wie vor beharrlich kuriose Gerüchte darum. So soll zum Beispiel Alice Cooper einem auf die Bühne gescheuchten Huhn den Kopf abgebissen haben, bevor er es in das tobende Publikum zurück beförderte. Es ist kein Gerücht, dass zum ersten Mal vom gesamten Publikum Streichhölzer, Wunderkerzen und Feuerzeuge entzündet wurden, wodurch sich ein beeindruckendes Lichtermeer vom Abendhimmel über dem Stadion abgrenzte. Das passierte, um John auf der Bühne zu begrüßen. Die Setliste seines Auftritts war insofern interessant, als dass John zuerst einige alte Rock & Roll Titel spielte und dann zu seinen Eigenkompositionen überging. Die zweite Hälfte des Konzerts übernahm Yoko. Ihre Darbietung, die ebenfalls von John, Klaus, Eric und Alan begleitet wurde, stellte einen krassen verbaldissonanten Gegensatz zu dem dar, was für die Mehrheit der normalsterblichen Zuhörer der Definition von Rockmusik entspricht.
Die ersten Möglichkeiten, diese eigenwillige Kunstform Yokos zu erleben, wären die drei weitestgehend unbeachteten gemeinsamen Schallplatten von John und Yoko aus den Jahren 1968 und 1969 sowie der Musikfilm Rock & Roll Circus der Rolling Stones aus dem Jahre 1968 gewesen, der damals aber auf Geheiß von Mick Jagger der Öffentlichkeit vorenthalten wurde. Dadurch war es in Toronto das erste Mal, dass Yokos Expressionen einem breiten unvorbereiteten Publikum vorgetragen wurden. Sie traf damit nicht wirklich den Nerv der Zuhörer. Yokos Beiträge wurden sehr kontrovers gesehen, sie polarisierte und hatte hier und auch später immer mehr Kritiker als Befürworter auf ihrer Seite. Nach dem Torontokonzert waren die Aussagen der Zuschauer ebenso differenziert. Einige hatten die Botschaft anscheinend verstanden, viele andere waren verstört und unsicher, was diese Vorstellung hinsichtlich der konkreten Aussage wohl zu bedeuten gehabt haben könnte. John war wie immer einfach zu verstehen, wenn er zum Beispiel give peace a chance sang, aber Yokos künstlerische Ausdrucksform des Kreischens verursachte dahingegen hauptsächlich Unverständnis. Es ist daher um so beeindruckender, dass John auch mit Yoko an seiner Seite als wichtiger Bestandteil für die Gesellschaft angesehen wurde. Er war sowohl von seinen Fans als auch von den Medien so sehr begehrt, dass er es sich leisten konnte, so zu sein wie er sein wollte. Er musste sich nicht verstellen und ist sich selbst immer treu geblieben, ohne jemals ein vorgegebenes Klischee zu bedienen. Er war John, und wer John haben wollte, der musste mit alldem zurechtkommen, mit dem er sich gerade beschäftigte. Heute kann man mit Sicherheit sagen, dass seine bedingungslose Beziehung zu Yoko seinen kommerziellen Erfolg als Solokünstler am Anfang eher negativ beeinflusst hat. Andererseits gab es kaum einen Zeitpunkt, in dem er sich außerhalb der Reichweite derjenigen befand, die über ihn und sein derzeitiges Leben berichten wollten.
Hammer, Amboss und Steigbügel sind die drei kleinsten Knochen des menschlichen Skeletts. Sie sitzen im Innenohr und nehmen die Schwingungen des Trommelfells auf, welches wiederum von Schallwellen angeregt wird. Eine Schallwelle ist ein Geräusch und stellt eigentlich nichts anderes dar als eine kleine Bewegung der Luftmoleküle. Die drei genannten Gehörknöchelchen verstärken die Schwingung des Trommelfells und leiten sie auf das ovale Fenster der Hörschnecke weiter, die mit Flüssigkeit gefüllt ist. In dem Schneckenlabyrinth breiten sich die Schwingungen dann als Druckimpulse aus, wo sie kleine Haarzellen in Bewegung versetzen, die auf der Basilarmembran angesiedelt sind. Diese Bewegung der Haarzellen löst über einen, als mechanoelektrische Signaltransduktion bezeichneten Vorgang ein Aktionspotential aus mit dem eine Nervenzelle angeregt wird. Die Geometrie der Hörschnecke erlaubt im Zusammenhang mit der korrespondierenden Breite der in den Schneckengängen aufgespannten Basilarmembran das differenzierte Wahrnehmen von Tönen und Geräuschen in einem für den Menschen charakteristischen Frequenzbereich von ca. 20 bis 20 000 Hz. Nachdem ein Ton dazu geführt hat, dass ein Nervenimpuls ausgelöst wurde, übernimmt das Gehirn die Verantwortung dafür, was mit dieser Information weiterhin geschehen wird. Für die zentrale Datenverarbeitung des Hörens wird sie über die Hörbahn, die ihren Anfang in den Sinneszellen auf der Basilarmembran hat, bis zum auditiven Cortex im Temporallappen des Großhirns geführt. Auf dem Weg dorthin werden bereits Laufzeit- und Intensitätsunterschiede aus den Informationen von beiden Ohren ausgewertet, um z.B. die Lage der Schallquelle zu orten. Diese Form des Hörens läuft bei jedem Säugetier mehr oder weniger in der gleichen Art und Weise ab. Es gibt allerdings mehr als das, was anatomisch und physiologisch beschrieben werden kann. Die Hörbahn ist nichts anderes als ein Tunnel, der das Gehirn mit Geräuschen und Tönen versorgt, die danach jeden anderen Teil dieses mysteriösen Organs anregen können. Das Gehirn denkt, steuert beabsichtigte sowie vegetative Vorgänge und es veranlasst die Ausschüttung von endogenen psychoaktiven Stimulanzien, wodurch sich die verschiedensten Gefühlszustände einstellen können.
Beim Hören von Musik spielt das Ergebnis von Bild- und Sprachverarbeitungsprozessen eine wesentliche Rolle. Musik wird auf zerebraler Ebene wie eine universal verständliche Sprache verarbeitet und kann jedes vorstellbare Gefühl, Erinnerungen, ein Bild oder einen ganzen Film im Kopf des Zuhörenden entstehen lassen. Es reicht aus, die Augen zu schließen und zu lauschen, um ein Feuerwerk auszulösen, dass überall auf der Welt in fast identischer Weise verstanden wird. Dabei scheint es so zu sein, dass bestimmte Kombinationen von Schwingungen zu Tonfolgen, Harmonien und Rhythmen werden, die eine besondere Wirkung aufweisen, weil sie, abhängig von unbekannten Einflüssen, ein Massenphänomen darstellen. Neun von zehn Menschen beginnen plötzlich und unwillkürlich mit dem Fuß zu wippen, wenn die Aufnahme des Torontokonzerts gespielt wird, bei der John blue suede shoes singt. Er und die Beatles trafen den Nerv der Menschen auf eine Weise, wie es nur wenige andere Künstler mit der gleichen Treffsicherheit immer und immer wieder vermocht haben. Das Erstaunliche dabei ist, dass blue suede shoes noch nicht einmal von John komponiert wurde, sondern eine Coverversion ist, die die Beatles bereits zu Hamburger Zeiten im Programm hatten. Wenn man allerdings der Aufnahme aus Toronto genau zuhört, dann kann man eine Zeitreise in die Vergangenheit unternehmen, indem man sich vorstellt, 1960 bei einem Konzert der Beatles in Hamburg anwesend zu sein. John singt genauso enthusiastisch und eindringlich, wie er es schon bei ihren ersten Auftritten im Indra vor einem schonungslosen Publikum von Raubeinen getan hatte. Man hört der Toronto-Version genau das an, was die Beatles schon in den Kellern der Klubs von Hamburg zu einem Geheimtipp für eine neue Generation einer anspruchsvollen Trendsetter-Szene werden ließ.
Ähnliche Eindrücke ihrer damaligen Energie und Leidenschaft kann man erhalten, wenn man sich die von jauchzender Tollerei geprägten Passagen der späteren Beatles-Stücke hey bulldog oder everybody‘s got something to hide exept me and my monkey anhört. John und die Beatles halten in ihrer Musik die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verborgen und erlauben jedem, der dazu bereit ist, auf eine Reise zu gehen alles zu entdecken, was der eigene Geist darin zu erkennen glaubt. Das Gehirn ist der Nerv, der von ihrer Musik stimuliert wird und sie mobilisiert dort Botenstoffe, die das Belohnungszentrum sowie alle weiteren Bereiche, die mit Liebe, Lust und Energie in Verbindung gebracht werden, aktivieren. Es ist dann so, als würde ein uralter Instinkt geweckt, der schon bei unseren Vorfahren dazu geführt hätte, dass sich die Brustmuskulatur anspannt und ihr Bauch vor Freude prickelt. Dieser Stimulus ist so stark, dass John sogar zu scheppernden Mülltonnen singen könnte und immer noch ein ausreichend ausgeprägter Reiz übrig bliebe, um Kunst darin zu entdecken.
Wenn andere Künstler nur einen kleineren Teil der Menschheit zu ähnlichen Emotionen anzuregen vermögen, dann, weil ihre Werke an einen individuelleren Teil in der neuronalen Kette des komplexen Musikempfindungmechanismus gerichtet sind. Sie treffen einen anderen Nerv. Jeder, der die Meinung hat, dass nun genug über die Wirkung von Musik im Zusammenhang mit Glückshormonen geredet worden ist, hat recht. Es sei an dieser Stelle jedem selbst überlassen, das Buch kurz wegzulegen, die alte Platte mit dem blauen Cover und der Wolke darauf aus dem Schrank zu holen und mit geschlossenen Augen die erste Seite von Live Peace in Toronto zu genießen. Wer Yokos Musik mag, kann sich gerne auch die zweite Seite anhören. Viel Spaß bei der Reise, wohin unser bemerkenswerter Verstand sie auch führen mag.